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Pseudonym und Anonymität

  • Author: Gerhard Donhauser
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Law and Language, Legal Theory
  • Citation: Gerhard Donhauser, Pseudonym und Anonymität, in: Jusletter IT 24 May 2018
What’s in a name? Probably names are loaded with meanings, attributions and expectations; they guarantee creditworthiness or the opposite of that – at least under certain conditions. The pseudonymous use of another name may allow escaping from these conditions, sometimes attached to temporary anonymity. Maybe all this can be illustrated by turning our eyes to recent literary activities of the writer Joanne K. Rowling.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Namen als Bedeutungsträger
  • 2. Reframing
  • 3. Joanne K. Rowling und Robert Galbraith
  • 4. Pseudonym, Anonymität, Bedeutungswandel

1.

Namen als Bedeutungsträger ^

[1]

«Gefühl ist alles;/Name ist Schall und Rauch [...]» erklärt Goethes Faust Margarethe in dem Bemühen, ihrer sprichwörtlich gewordenen Frage auszuweichen.1 Tatsächlich kann es auf den ersten Blick so scheinen, als wären Namen, insbesondere Personennamen, die auf den Zufälligkeiten von Geburt und Herkunft gründen, wenig geeignet, als Träger von Bedeutung zu fungieren. Demgegenüber bestimmte etwa der frühe Ludwig Wittgenstein den Namen im Tractatus logico-philosophicus als «Urzeichen». Obwohl man «Namen [...] nicht durch Definitionen auseinanderlegen» könne, weil kein «Zeichen [...] allein, selbständig, eine Bedeutung» habe, «können die Bedeutungen von Urzeichen durch Erläuterung erklärt werden [...]. Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung.»2

[2]
Abgesehen von solchen grundlegenden Fragen möglicher Bedeutungsfindung und -stiftung (samt ihren evidenten Problemen) lässt sich auf psychologischer Ebene gewiss mit guten Gründen vermuten, dass der Name, mit dem ein Mensch aufwächst und das, wozu er «Ich» sagt, maßgeblich verbindet, für die Genese der Ich-Identität, mag diese auch prekär oder hypothetisch sein, keine geringe Rolle spielt.3 Umso seltsamer – in gewisser Hinsicht aber auch sehr aussagekräftig – erscheint vor dem Hintergrund dieser Annahme der Umstand, dass insbesondere in der österreichischen und deutschen Rechtstradition (jedoch keineswegs nur in diesen) über Jahrhunderte hinweg ganz selbstverständlich von Frauen verlangt wurde, dass sie ihren Familiennamen bei Schließung einer Ehe ändern würden.4

2.

Reframing ^

[3]
Es lässt sich also aus unterschiedlichen Perspektiven die These aufstellen, dass Namen Bedeutung in gewisser Weise geradezu konstituieren, nämlich dort, wo es um die Frage geht, wie sich Menschen selbst in ihrem Verhältnis zur Welt positionieren bzw. vom Rest ihrer Welt positioniert werden. Unter Bedeutung oder Sinn wird dabei etwas verstanden, das in der Sprache und in sprachlichem Handeln entsteht, wobei es stets darum geht, Zeichen einen bestimmten Inhalt zuzuschreiben. Wir geben Dingen durch unsere Vorstellungen und unser Sprechen Bedeutung.5
[4]
Namen bringen Erwartungen mit sich, der «gute Name» verbürgt Bonität und Kreditwürdigkeit, nicht nur «große Namen» ziehen Erwartungsdruck auf sich, etwa, wenn ihre Trägerinnen und Träger erwartungskonform «funktionieren» oder gar Exzeptionelles vollbringen sollen. Derlei Druck zu entrinnen, mag – nicht nur für kreative Menschen – essentiell sein, um überhaupt produktiv werden oder bleiben zu können. Manche Mittel, die dabei helfen mögen, verweisen umgekehrt darauf, dass die mit Namen verbundenen und über bestimmte Zeitabschnitte hinweg angehäuften Bedeutungen keineswegs irreversibel feststehen. Dies entspricht der existentialistischen Einsicht, dass Menschsein nicht allein (und vielleicht gar nicht so sehr) der Selbstfindung, sondern zumindest in gleichem Maße der Selbsterfindung bedarf.6
[5]
Allerdings erfordert diese Selbsterfindung nicht zuletzt auch die Implementierung in den Wahrnehmungshorizont einer jeweils relevanten Außenwelt. In diesem Zusammenhang kann das Modell des Reframing von Interesse sein, das insbesondere im Rahmen konstruktivistischer Theoriebildung elaboriert wurde. Der Begriff zielt darauf ab, den Bezugsrahmen zu verändern, in den eingebettet eine Situation oder ein Phänomen gesehen wird, genauer: darauf, eine Situation, ein Ereignis oder andere Phänomene umzudeuten, ihnen andere Bedeutungen zu verleihen.7

3.

Joanne K. Rowling und Robert Galbraith ^

[6]
Vielleicht lässt sich dies am besten anhand eines konkreten Beispiels erläutern. Die Schriftstellerin Joanne K. Rowling war mit ihrer Harry-Potter-Reihe zu großem literarischen Erfolg und internationaler Bekanntheit gelangt.8 Eine Weile, nachdem sie die Reihe abgeschlossen hatte, kündigte sie einen neuen Roman an, der nicht primär für ein junges Zielpublikum gedacht sei und auch thematisch ganz anders ausgerichtet sein würde als die Harry-Potter-Bände. Ihr Buch The Casual Vacancy9 erschien 2012 unter großer, vorauseilender Aufmerksamkeit der medialen Öffentlichkeit. Man kann nicht sagen, dass die Reaktionen ungünstig gewesen wären, die BBC hat das Buch auch bald nach Erscheinen im Rahmen einer Kurzserie verfilmt, und es gab zahlreiche wohlwollende Kritiken. Allerdings: Der große Hype, der Harry Potter begleitet hatte, blieb aus. Vielfach blieb sogar ein merkliches Unbehagen, das auf einer spürbaren Differenz zwischen den Erwartungen im Vorfeld und ihrer Einlösung im Lauf der Lektüre zurückgegangen sein mag. Diese Differenz könnte sich aus dem in aller Regel angestellten Vergleich zwischen der Casual Vacancy und den Harry-Potter-Romanen ergeben haben.10
[7]
Ende April 2013 veröffentlichte der bis dahin gänzlich unbekannte Autor Robert Galbraith den Roman The Cuckoos Calling11. Im Mittelpunkt dieses Kriminalromans steht der Privatdetektiv Cormoran Strike, ein Antiheld wie viele der klassischen Vertreter des amerikanischen Detektivromans, der als Soldat in Afghanistan ein Bein verloren hat und sich nun in London eine neue Existenz aufbauen muss. Der Roman fand Resonanz bei RezensentInnen und KäuferInnen, sogar Übersetzungen wurden in Angriff genommen. Als bekannt wurde, dass Galbraith ein Pseudonym Rowlings war, stieg nicht nur das Medieninteresse enorm. Inzwischen hat Rowling unter Beibehaltung des Pseudonyms zwei weitere Romane um Cormoran Strike veröffentlicht, The Silkworm12 und Career of Evil13.

4.

Pseudonym, Anonymität, Bedeutungswandel ^

[8]
Man kann in alledem einen exemplarischen Fall gelungenen Reframings erkennen. Die Wahl des Pseudonyms hat die Autorin und ihr Publikum von Erwartungsdruck entlastet, der mit einem bestimmten Namen in Zusammenhang stand oder von dem zumindest angenommen wurde, dass er es täte. Unter dem Schutz des Pseudonyms, von griechisch «pseudõnymos», «fälschlich so genannt», kann es gelingen, zunächst auch die Vorzüge einer gewissen Namenlosigkeit, Anonymität (hergeleitet vom griechischen Wort «ànónymos», «ohne Namen»), nutzen zu können.14 Wo kein Name, der bereits mit Bedeutungen versehen wäre, dort auch keine Erwartungshaltungen, Zuschreibungen und Forderungen. Vielmehr wird es möglich, die Freiheit von Vorannahmen und Zumutungen aller Art (wieder) zu gewinnen, derer es vielleicht bedarf, um kreative Prozesse überhaupt erst in Gang zu bringen.
[9]

Zugleich lässt sich auf Bedeutungsebene ein weiteres Phänomen beobachten: Indem zunächst darauf verzichtet wurde, die mit dem Namen Rowling seitens der Außenwelt verknüpften Bedeutungen in den Prozess des Publizierens eines neuen Romans einzubeziehen, konnten diesem später, nach Lüften des Pseudonyms, neue Bedeutungen hinzugefügt werden. Er steht nun, aus Sicht zahlreicher Leserinnen und Leser, aber auch des Feuilletons, für eine vielseitige Schriftstellerin, deren erzählerisches, thematisches wie sprachliches Repertoire noch weit mehr umfasst als ohnehin schon evident war. Dies verändert vermutlich nicht zuletzt auch künftige Erwartungen der Trägerin dieses Namens gegenüber, womöglich lässt es manche sogar über die Vorurteilshältigkeit ihres je eigenen Erwartungshorizonts nachdenken. Der Begriff «Vorurteil» wird dabei im Sinne der Bezeichnung «ausgeprägte[r] positive[r] und negative[r] Urteile oder Einstellungen eines Mitmenschen über ein Vorurteilsobjekt» verstanden, von denen man bezweifeln kann, ob sie als «realitätsgerecht» gelten können, die aber «trotz» Vorliegens relevanter «Gegenargumente» von bestimmten Personen oder Gruppen nicht aufgegeben werden. Allerdings:

 

«Da wir in unseren Urteilen zumeist nur unsere Sichtweise wiedergeben und Urteile fast immer gewisse Verallgemeinerungen enthalten, sind in jedem Urteil Momente des Vorurteilshaften zu finden.»15

[10]
Anders verhält sich die Sache, wenn das Pseudonym den ursprünglichen Namen gänzlich ablöst. Hier verändern sich die mit einem bestimmten Namen verbundenen Bedeutungen bzw. Bedeutungszuschreibungen womöglich vollständig, und dies mit voller Absicht. Autorinnen und Autoren wie Peter Altenberg, Egon Friedell, George Sand oder Jean Améry haben ihre Pseudonyme aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Kontexten mit einem geänderten Verständnis ihrer personalen Identität verwoben. Warum kann dies von grundlegender Relevanz sein?

«Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt [...]; nichts existiert diesem Entwurf vorweg [...], und der Mensch wird zuerst das sein, was er zu sein geplant hat, nicht was er sein wollen wird. Denn was wir gewöhnlich unter Wollen verstehen, ist eine bewusste Entscheidung, die für die meisten unter uns dem nachfolgt, zu dem sie sich selbst gemacht haben.»16

[11]

Wenn dem Menschen sein «Selbst» jedoch «nicht vorgegeben» ist, kann seine Findung als Aufgabe gelten. Menschen müssen ihr Selbst insofern «im Nachdenken, Prüfen, Handeln und im Gespräch [...] finden, erfinden».17

[12]
Insofern lässt sich auch unsere Eingangsfrage nochmals relevieren und die These erhärten, dass Namen durchaus nicht «Schall und Rauch» sind, weder für ihre Trägerinnen und Träger noch für diejenigen, in deren Erwartungshorizont erstere geraten. Damit verbinden sich komplexe Ambivalenzen: Soziale und politische Zugriffe auf Identitäten und Selbstbezeichnungen von Individuen eröffnen ein weites Feld sozialer wie rechtlicher Repression und persönlicher Unfreiheit.18 Die Verfügbarkeit über den Namen durch seine Trägerin/seinen Träger hingegen kann nachgerade als Facette einer zeitgemäßen Auffassung von Autonomie19 gelten, trotz aller Anfechtungen, denen diese Idee ausgesetzt sein mag:

«Es ist eben diese Form von Selbstverständnis einer Person [...], die erst als Autonomie bezeichnet werden kann: also von sich selbst einen Begriff, ein Verständnis zu haben dessen, dass so, wie man lebt – in Grenzen, aber doch in wichtigen Hinsichten – und so, wie man sich verhält – in Grenzen, aber doch in wichtigen Hinsichten – selbst gewollt, oder doch: selbst akzeptiert ist; und damit also ein Selbstverständnis, das auch bedeutet, den Meinungen, Erwartungen, Forderungen anderer (einer Familie, einer sozialen Gruppe, einer Gesellschaft), den Umständen des Lebens nicht einfach ausgesetzt zu sein [...].»20


 

Priv.-Doz. Dr. iur Dr. phil. Dr. phil. Gerhard Donhauser, Lehrtätigkeit an den Universitäten Klagenfurt und Wien.

  1. 1 Goethe, Johann Wolfgang v., Faust. Texte. In: Schöne, Albrecht (Hrsg.), Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 148.
  2. 2 Vgl. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. 11. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 19 f.
  3. 3 Zum weiten Themenfeld der Ich-Identität vgl. z.B. Donhauser, Gerhard, Das bedrängte Ich. Ich-Konzepte bei Freud und Mach. In: Stadler, Friedrich (Hrsg.), Vienna Circle Institute Yearbook. Springer, Dordrecht 2018 (im Druck).
  4. 4 Vgl. dazu § 93 ABGB, JGS 946/1811, vor und nach dem Ehenamensrechtsänderungsgesetz BGBl 1986/97 sowie in der nunmehr geltenden Fassung, BGBl I 15/2013. Vgl. zum Thema z.B. Dölemeyer, Barbara, Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts. In: Gerhard, Ute (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Beck, München 1997, S. 633–658, S. 641 f.; Schwab, Dieter, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert. In: Gerhard, Ute (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Beck, München 1997, S. 790–827, S. 808 ff.
  5. 5 Vgl. dazu auch Donhauser, Gerhard, Psychologie und Philosophie. öbv, Wien 2015, 295.
  6. 6 Vgl. z.B. Sartre, Jean-Paul, Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: Sartre, Jean-Paul (Hrsg.), Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiedle. 9., durchges. Aufl. Ullstein, Berlin 1985, S. 42; Safranski, Rüdiger, Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Hanser, München/Wien 1997, S. 11; Hustvedt, Siri, Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. 4. Aufl. Rowohlt, Reinbek 2010, S. 67 ff.
  7. 7 Vgl. Watzlawick, Paul/Weakland, John H./Fisch, Richard, Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Huber, Bern/Stuttgart 1974, 116–134.
  8. 8 Zur literarischen Qualität vgl. z.B. auch Maar, Michael, Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte. Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2003.
  9. 9 Rowling, Joanne K., The Casual Vacancy. Litte, Brown and Company, London 2012.
  10. 10 Vgl. z.B. Kakutani, Michiko, Darkness and Death, No Magic to Help. Book Review: «The Casual Vacancy» by J. K. Rowling, New York Times, 27. September 2012; http://www.nytimes.com/2012/09/27/books/book-review-the-casual-vacancy-by-j-k-rowling.html (abgerufen am 9. Mai 2018).
  11. 11 Galbraith, Robert, The Cuckoo’s Calling. Sphere Books, London 2013.
  12. 12 Galbraith, Robert, The Silkworm. Sphere Books, London 2014.
  13. 13 Galbraith, Robert, Career of Evil. Sphere Books, London 2015.
  14. 14 Vgl. Gemoll, Wilhelm, Griechisch-deutsches Schulwörterbuch. Durchgesehen und erweiert von Karl Vretska. Mit einer Einführung in die Sprachwissenschaft von Heinz Kronasser. 9. Aufl. Hölder-Pichler-Tempsky, Wien 1997, S. 813, S. 85.
  15. 15 Vgl. Bergmann, Werner, Was sind Vorurteile? In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Informationen zur politischen Bildung, Heft 271 (2006), S. 4–13, S. 43–55, S. 4.
  16. 16 Sartre (Fn. 6), S. 11.
  17. 17 Safranski (Fn. 6), S. 42.
  18. 18 Vgl. z.B. Arendt, Hannah,Wir Flüchtlinge [1943]. In: Arendt, Hannah (Hrsg.), Zur Zeit. Politische Essays. Herausgegeben von Marie Luise Knott. Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Hamburg 1999, S. 7–21, insbes. S. 15 f.
  19. 19 Vgl. dazu auch Donhauser, Gerhard, Wer hat Recht? Eine Einführung in die Rechtsphilosophie. new academic press, Wien 2016, S. 157–162
  20. 20 Rössler, Beate, Bedingungen und Grenzen von Autonomie. In: Pauer-Studer, Herlinde/Nagl-Docekal, Herta (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit und Autonomie (= Wiener Reihe. Themen der Philosophie, Bd. 11). Oldenbourg, Wien 2003, S. 327–357, S. 353.