I.
Verstößt die h.M. zur Anordnung der U-Haft gegen die Logik? ^
Im Rahmen eines Doktorandenseminars hält der Referent K einen Vortrag über die Voraussetzungen der Untersuchungshaft. Sobald der Referent behauptet, dass die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe) keine positive Haftvoraussetzung, sondern ihre Unverhältnismäßigkeit ein Haftausschließungsgrund sei, wird eingewandt, dass diese These gegen die Logik verstößt. Aus dem in der klassischen Logik geltenden Prinzip der doppelten Negation scheint eher das Gegenteil zu folgen: Wenn die Unverhältnismäßigkeit ein Haftausschließungsgrund ist, dann liegt auf der Basis der Beseitigung der doppelten Negation der Schluss nahe, dass die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft eine positive Haftvoraussetzung ist. «Denn logisch gesehen bedeutet das Fehlen der ‹positiven Haftvoraussetzung› der Verhältnismäßigkeit nichts anderes als das Vorliegen eines ‹Haftausschließungsgrundes› der Unverhältnismäßigkeit, und das Nichtvorliegen des ‹Haftausschließungsgrundes› der Unverhältnismäßigkeit nichts anderes als das Bestehen einer ‹positiven Haftvoraussetzung› der Verhältnismäßigkeit. Was für die Äquivalenz von Prozessvoraussetzungen und fehlenden Prozesshindernissen bzw. von Prozesshindernissen und fehlenden Prozessvoraussetzungen gilt, gilt auch hier. Die jeweiligen Äquivalenzen lassen sich mit Hilfe des Grundsatzes der doppelten Negation leicht aufweisen.»1 Die Verlegenheit der Seminarteilnehmer steigert sich, nachdem der Referent erwidert, dass seine These der h.M. entspreche.2
II.
Rekonstruktion der h.M. anhand der intuitionistischen Logik ^
Vor gut einem halben Jahrhundert hat allerdings Lothar Philipps gezeigt, dass die der h.M. folgende Behauptung des Referenten nicht unbedingt gegen die Logik verstößt, da es auch logische Kalküle gibt, in denen der Satz der Beseitigung der doppelten Negation nicht gilt. Mit seinem avantgardistischen Beitrag «Rechtliche Regelung und formale Logik» (in: ARSP, Band 50, Jahrgang 1964) hat Philipps die intuitionistische Logik in die Rechtswissenschaft eingeführt, um das Erlaubnis-Verbot-Verhältnis und die Regel-Ausnahme-Struktur angemessener als durch die gängigen Axiome der klassischen Logik zu rekonstruieren. Den maßgeblichen Vorteil der intuitionistischen Logik hat Philipps gerade darin gesehen, dass im Gegensatz zur klassischen Logik die Sätze vom ausgeschlossenen Dritten und von der Beseitigung der doppelten Negation im intuitionistischen Kalkül keine Anwendung finden.3
Der indirekte Beweis ist im Intuitionismus nicht zulässig. Bekannt ist folgende mathematische Anwendung:4 Es ist zu beweisen, dass es zwei irrationale Zahlen a und b gibt, sodass die Zahl ab rational ist. Es ist bekannt, dass die Zahl √2 irrational ist. Aufgrund des tertium non datur Prinzips ist die Zahl √2√2 entweder rational oder irrational. Wenn die Zahl √2√2 rational ist, dann wurde bereits gezeigt, was zu beweisen war. Wenn diese Zahl nicht rational ist, dann ist die Zahl ab = (√2√2) √2 = √2 (√2·√2) = (√2)2 = 2 rational und es wurde wieder gezeigt, was zu beweisen war. Der Intuitionismus lehnt jedoch einen solchen Beweis ab. Die Behauptung, dass die Zahl √2√2 nicht rational ist, beweist nicht, dass diese Zahl irrational ist. Vielmehr muss nach dem Intuitionismus die irrationale Eigenschaft der Zahl √2√2 selbstständig (d.h. nicht indirekt) bewiesen werden.
Man könnte mutatis mutandis argumentieren, dass aus dem bloßen Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit nicht die Unverhältnismäßigkeit folgt; zumindest nicht die Unverhältnismäßigkeit, die durch die h.L. gemeint ist, d.h. eine Unverhältnismäßigkeit, die durch den Richter festgestellt werden muss.5 Wie im mathematischen Intuitionismus die irrationale Eigenschaft einer Zahl nicht indirekt daraus folgt, dass diese Zahl nicht rational ist, sondern sie vielmehr selbstständig bewiesen werden muss, genauso leitet die h.M. die Unverhältnismäßigkeit nicht aus dem bloßen Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit her. Vielmehr liegt der Schluss nah, dass nach der h.M. der Richter die Unverhältnismäßigkeit «direkt bzw. selbstständig» feststellen muss.
Welches sind aber die substanziellen Argumente der h.M., die für das «Feststellen» der Unverhältnismäßigkeit und für das «nicht Feststellen» der Verhältnismäßigkeit sprechen? Der entscheidende Ausgangspunkt der Argumentation ist nach der h.M. der negativen Formulierung des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO zu entnehmen: In diesem Sinne kommentiert Theodor Kleinknecht, der nicht nur das Strafprozessänderungsgesetz von 1964, sondern auch die h.M. bis heute geprägt hat:6 «Es heißt nämlich nicht: die Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, wenn sie im richtigen Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und dem zu erwartenden Ergebnis des Strafverfahrens steht. Die Formulierung lautet vielmehr: Die Haft darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel außer Verhältnis steht.»7 Aus der negativen Formulierung der Vorschrift folgert die h.M., dass der Gesetzgeber die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund ausgestaltet habe, der festgestellt werden müsse, damit die Untersuchungshaft ausgeschlossen werden könne. Im Gegensatz dazu ist der Richter nicht verpflichtet, die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft positiv festzustellen, weil die Verhältnismäßigkeit keine positive – bzw. keine positiv formulierte – Haftvoraussetzung darstelle.
Man könnte nun versuchen, die h.M. mithilfe der intuitionistischen Logik zu veranschaulichen. Nach der h.M. folgt aus dem bloßen Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit nicht das Bestehen der Unverhältnismäßigkeit, weil die Unverhältnismäßigkeit durch den Richter festgestellt werden muss: (¬ V → U) gilt also nicht. Diese Schlussfolgerung, d.h. die Nichtgeltung der Implikation (¬ V → U) ist mit der intuitionistischen Logik vereinbar, weil nach der Ersetzung von V durch ¬ U aus der Implikation (¬ V → U) der Satz von der Beseitigung der doppelten Negation (¬ ¬ U → U) ergeben würde, der aber in der intuitionistischen Logik nicht gilt.8 Die Ersetzung von V durch ¬ U erlaubt uns die Einführung folgender Zusatzprämisse, die mit der intuitionistischen Logik kompatibel ist: Aus dem Vorliegen der Verhältnismäßigkeit folgt das Nichtvorliegen der (festgestellten) Unverhältnismäßigkeit9 und aus dem Nichtvorliegen der (festgestellten) Unverhältnismäßigkeit folgt das Vorliegen der Verhältnismäßigkeit10. Es gilt also: (V ↔ ¬ U). Sowohl die Nichtgeltung von (¬ V → U) als auch die Geltung von (V ↔ ¬ U) sind mit der intuitionistischen Logik vereinbar. Ob das kumulative Zutreffen von beiden Schlussfolgerungen [sc. Nichtgeltung von (¬ V → U) und gleichzeitige Geltung von (V ↔ ¬ U)] der h.M. zu einhundert Prozent entspricht, bleibt offen. Sofern aber die h.M. von beiden Schlussfolgerung im Ergebnis nicht abweicht, trägt die hier vorgeschlagene Rekonstruktion anhand des intuitionistischen Kalküls dazu bei, die h.M. nachvollziehbar zu machen.
III.
Rekonstruktion der h.M. anhand der klassischen Logik ^
Dass die intuitionistische Logik dafür tauglich ist, die h.M. zu veranschaulichen, bedeutet aber nicht, dass die h.M. sich nicht im Rahmen der klassischen Logik rekonstruieren und verteidigen lässt. Denn auf der Basis des im Rahmen der klassischen Logik geltenden Prinzips der doppelten Negation folgt aus dem Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit das Bestehen der Unverhältnismäßigkeit und aus dem Nichtvorliegen der Unverhältnismäßigkeit das Bestehen der Verhältnismäßigkeit nur, wenn die Verhältnismäßigkeit und die Unverhältnismäßigkeit im Sinne eines kontradiktorischen Gegensatzes11 aufzufassen sind. Wenn sie hingegen im Sinne eines konträren Gegensatzes aufzufassen sind, dann liegt zwischen der Verhältnismäßigkeit und der Unverhältnismäßigkeit zumindest eine weitere Alternative vor.12
Man könnte die These vertreten, dass die h.M. eine dritte Möglichkeit zwischen der Verhältnismäßigkeit und der Unverhältnismäßigkeit tatsächlich in der zweifelhaften Verhältnismäßigkeit sieht, die nach der h.M. die Untersuchungshaft nicht blockiert.13 Dafür spricht folgender Argumentationsaspekt der h.M., der sich wiederum auf Kleinknecht zurückführen lässt: «Daher darf vom Erlass eines Haftbefehls, dessen sonstigen Voraussetzungen gegeben sind, nicht aus der Erwägung abgesehen werden, die Frage der Verhältnismäßigkeit sei zweifelhaft oder lasse sich mangels hinreichender Sachaufklärung noch nicht abschließend beurteilen».14
Diesen Argumentationsaspekt der h.M. kann man durch ein strukturell ähnliches Beispiel von Karl Engisch veranschaulichen, das er für einen konträren Gegensatz angeführt hat:15 «In unserem juristischen Beispiel wäre das ‹Mittlere› [...] zwischen ‹schuldig befunden› und ‹unschuldig befunden›: ‹für nicht schuldig befunden› (beim bloßen Nichtbewiesensein der Schuld).» Engisch hat ein tertium zwischen «schuldig» und «unschuldig» in den Zweifelsfällen gesehen, in denen der Angeklagte aufgrund unzureichender Beweislage freigesprochen wird.
Es lässt sich aber feststellen, dass sich die h.M. besser rekonstruieren lässt, wenn man die «zweifelhafte Verhältnismäßigkeit» und die «zweifelhafte Unverhältnismäßigkeit» im Sinne eines konträren Gegensatzes erfasst, der weder das Vorliegen der Alternative «nicht zweifelhafte Verhältnismäßigkeit» noch das Vorliegen der Alternative «nicht zweifelhafte Unverhältnismäßigkeit» ausschließt. Es ergeben sich insgesamt folgende vier Alternativen:
1. Liegt eine «nicht zweifelhafte Verhältnismäßigkeit» vor, dann ist die Untersuchungshaft selbstverständlich anzuordnen, jedoch unterliegt nach der h.M. der Richter nicht der Pflicht, die Verhältnismäßigkeit positiv festzustellen und die Untersuchungshaft nur dann anzuordnen, wenn die Verhältnismäßigkeit außer Zweifel steht. 2. Liegt eine «zweifelhafte Verhältnismäßigkeit» vor, dann ist nach der h.M. und in Übereinstimmung mit Kleinknecht16 die Untersuchungshaft anzuordnen. 3. Liegt eine «zweifelhafte Unverhältnismäßigkeit» vor, dann ist nach der h.M. die Untersuchungshaft ebenso anzuordnen, da die Unverhältnismäßigkeit nicht feststeht bzw. sie nicht festgestellt wurde. 4. Nur wenn eine «nicht zweifelhafte Unverhältnismäßigkeit» vorliegt, ist nach der h.M. die Untersuchungshaft abzulehnen.
Die oben angeführten kontradiktorischen und konträren Gegensätze lassen sich durch die erforderlichen sprachlichen Umformulierungen in kontradiktorische und konträre Aussagen transformieren.17 Die Kontravalenz und die Exklusion bieten sich für die aussagenlogische Rekonstruktion von kontradiktorischen und konträren Aussagen jeweils an.18
Es bedarf der Hervorhebung, dass die obige Auslegung des § 112 StPO durch die h.M. die schwerwiegende Folge hat, dass sie den Schutzbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips einschränkt und vice versa den Anwendungsbereich der Untersuchungshaft ausdehnt. Denn der Richter darf nach der h.M. die Untersuchungshaft nur dann ablehnen, wenn er eine unbestrittene Unverhältnismäßigkeit feststellt, wenn – um wieder Kleinknecht zu zitieren – ein «Missverhältnis»19 vorliegt.
IV.
Zwischenbetrachtungen ^
Zwischenergebnis: Es hat sich gezeigt, dass die h.M. mithilfe der klassischen Logik und des Satzes von der Beseitigung der doppelten Negation unter Kritik geraten ist. Es hat sich ferner gezeigt, dass man diese Kritik unter Rückgriff auf die intuitionistische Logik abschwächen kann, in der Satz von der Beseitigung der doppelten Negation nicht gilt. Schließlich hat sich herausgestellt, dass sich die h.M. auch mithilfe der klassischen Logik so rekonstruieren lässt, dass die h.M. nicht gegen diesen Satz verstößt bzw. dass sie der entsprechenden Kritik nicht ausgesetzt ist.
Diese Zwischenbetrachtungen werfen folgende Fragen auf: Wie lässt sich im Strafverfahrensrecht das metadogmatische Verhältnis zwischen formallogischen Regeln und inhaltlichen Argumentationsstandards beschreiben? Sind vielleicht gewisse logische Prinzipien bzw. Sätze imstande, dogmatische Lösungen im Sinne der einzig richtigen Entscheidung vorwegzunehmen? Sind gewisse Prinzipien bzw. Sätze der klassischen Logik im Strafverfahrensrecht verzichtbar oder nicht?
V.
Formallogische vs. argumentationstheoretische Regeln ^
Auf der Suche nach einer Lösung des Dilemmas «formallogische vs. argumentationstheoretische Regeln» kann die Rechtsprechung des BGH nicht übersehen werden, nach der ein Verstoß gegen die Denkgesetze einen Revisionsgrund begründet.20 Es wäre allerdings voreilig, daraus den Primat der formallogischen Regeln für die Bewältigung von dogmatischen Fragen des Strafprozessrechts herzuleiten.
Es ist uns spätestens seit dem Beitrag von Eike v. Savigny «Die Ph-Ausnahme und die Ph-Regel, oder was die Logik im Recht nicht leisten will» bekannt, dass durch die Logik keine inhaltlichen Argumentationen gewonnen werden können.21 Der metadogmatische Streit zwischen den Standards der juristischen Argumentation und den Theoremen eines logischen Kalküls lässt sich mit dem Vorrang der juristischen Argumentation entscheiden;22 es sind die inhaltlichen Vor-wertungen, welche die Angemessenheit eines logischen Kalküls determinieren und nicht vice versa die Prinzipien eines logischen Systems, diejenigen, die uns dogmatische Lösungen oktroyieren. «Versteht man Logik als Rekonstruktion der Regeln vernünftigen Argumentierens, dann sind die Transformationsregeln einer formalen Logik an ihrer Übereinstimmung mit diesen Regeln zu messen; nicht aber können sie umgekehrt zum Maßstab einer vernünftigen Argumentation erhoben werden».23
Am Beispiel des Widerstreits um die Voraussetzungen der Untersuchungshaft kann man feststellen, dass überzeugende inhaltliche Argumentationsaspekte für die Mindermeinung sprechen. Nach dieser Meinung entspricht die – aus der h.M. folgende – abgeschwächte Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht dem Willen des Gesetzgebers.24 Darüber hinaus ist die negative Formulierung des § 112 StPO auf die limitierende und insofern «negative» Funktion des Verhältnismäßigkeitsprinzips zurückzuführen, ohne dass daran irgendwelche Konsequenzen über die Entscheidung von «Zweifelsfällen» der Verhältnismäßigkeit angeknüpft werden können.25 Diese und weitere inhaltliche Argumente der Mindermeinung sind die maßgeblichen Gründe, um die These zu bejahen, dass aus dem Fehlen der positiven Haftvoraussetzung der Verhältnismäßigkeit das Vorliegen des Haftausschließungsgrundes der Unverhältnismäßigkeit und aus dem Nichtvorliegen des Haftausschließungsgrundes der Unverhältnismäßigkeit das Bestehen der positiven Haftvoraussetzung der Verhältnismäßigkeit folgt.26
VI.
Verzichtbarkeit von gewissen Prinzipien bzw. Sätzen der klassischen Logik im Strafverfahrensrecht? ^
Kommen wir nun zu der zweiten Frage, ob gewisse Prinzipien bzw. Sätze der klassischen Logik im Strafverfahrensrecht verzichtbar sind oder nicht.
Zugegebenermaßen hat der Rekurs auf den mathematischen Intuitionismus illustriert, dass eine im Strafverfahrensrecht – prima facie paradoxe – Schlussfolgerung Sinn machen kann: Aus dem Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit lässt sich die Unverhältnismäßigkeit nicht herleiten, da die Unverhältnismäßigkeit «direkt» festgestellt werden muss, genauso wie die irrationale Eigenschaft einer Zahl selbstständig bewiesen werden muss und nicht «indirekt» daraus folgt, dass diese Zahl nicht rational ist. Derselbe Schluss wurde auch mithilfe der intuitionistischen Logik rekonstruiert, in der der Satz von der Beseitigung der doppelten Negation nicht gilt. Wäre aber die Heranziehung der intuitionistischen Logik für die Rekonstruktion strafverfahrensrechtlicher Argumentationen zu verallgemeinern, dann hätte dies zur Folge, dass man auf Prinzipien und Sätze in anderen Kontexten verzichten sollte, in denen sie unentbehrlich sind.
Dazu ein Beispiel: Eine Wohnung darf zur Nachtzeit nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 104 StPO durchsucht werden, wobei die Nachtzeit im Zeitraum vom 1. April bis 30. September die Stunden von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens umfasst. Hingegen wurde die Tageszeit, in der die restriktiven Voraussetzungen des § 104 StPO für die Durchsuchung einer Wohnung nicht gelten, vom Gesetzgeber nicht durch eine positive Definition festgelegt. Sie lässt sich aber unter Anwendung des Grundsatzes vom ausgeschlossenen Dritten und des Satzes von der Beseitigung der doppelten Negation aus der Negation der Nachtzeit zwingend herleiten. Würde man hier auf die klassische Logik verzichten, dann könnte man nicht zwingend herleiten, dass im Zeitraum vom 1. April bis 30. September eine Wohnung von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends ohne die restriktiven Voraussetzungen des § 104 StPO durchsucht werden kann.
Nur wenn ein Satz der klassischen Logik auf das gesamte Spektrum des Strafverfahrensrechts keine Anwendung finden würde, könnte man ihn definitiv für verzichtbar erklären. Nach einer Ansicht handelt es sich beim ex falso sequitur quodlibet Satz um einen solchen Fall, weil dieser Satz den juristischen Argumentationsstandards widerspricht, sodass auf ihn in Übereinstimmung mit der minimallogischen und parakonsistenten Logik verzichtet werden sollte.27
VII.
Die Heuristik des Rückgriffs auf unterschiedliche logische Kalküle ^
Ein letzter Punkt bedarf noch der Erläuterung, der das Verhältnis der verschiedenen logischen Kalküle zueinander betrifft. Eine Alternative zu der Suche nach einer einheitlichen Urlogik, die alle Aspekte der juristischen Argumentation wie die ultimative Theorie der Physik erfassen würde, bietet die Koexistenz von verschiedenen logischen Systemen analog zu dem Nebeneinander von euklidischen und nicht euklidischen Geometrien an. Ebenso wie die Anwendbarkeit einer Geometrie auf die Eigenschaften des zugrunde liegenden Anwendungsbereichs angewiesen ist (z.B. drei- oder vierdimensionaler Raum), so könnte man auch in der Rechtswissenschaft behaupten, dass die dogmatischen Besonderheiten von verschiedenen strafprozessualen Bereichen und Theorien u.U. durch unterschiedliche logische Kalküle besser zu rekonstruieren sind. Aus diesem Blickwinkel dürfte die bemerkenswerte und ständig zunehmende Anzahl von verschiedenen logischen Kalkülen, die Geltung auf die Rechtswissenschaft beanspruchen, nicht überraschen. Um einige Beispiele zu nennen: Die klassische, intuitionistische, dialogische, nichtmonotone, fuzzy, minimallogische, parakonsistente und deontische Logik erheben alle den Anspruch, zumindest einige Aspekte der juristischen Argumentation angemessener als ihre Rivalen wiederzugeben.
Die Alternative des Nebeneinanderseins von mehreren logischen Kalkülen wirft jedoch die Frage auf, ob es erlaubt ist, sich in eklektizistischer Manier der Elemente mal des eines, mal des anderen Kalküls zu bedienen.28 In diesem Zusammenhang wurde hervorgehoben, dass der Theoretiker der juristischen Argumentation an den oben aufgezählten, unterschiedlichen logischen Kalkülen nicht vorbeigehen sollte, da sie für das Verständnis der juristischen Argumentation einen kaum zu überschätzenden heuristischen Wert haben.29 Der Rückgriff auf unterschiedliche Kalküle lässt sich m. E. insbesondere dann rechtfertigen, wenn es Konstellationen gibt, in denen die Besonderheiten von gewissen dogmatischen Problemen und argumentationstheoretischen Aspekten durch ihre Rekonstruktion im Rahmen unterschiedlicher Kalküle besser veranschaulicht werden können. Z.B. kann man mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass die Unschärfe juristischer Begriffe durch die fuzzy-Logik30 eindeutiger zum Ausdruck kommt und dass das Erlaubnis-Verbot-Verhältnis sowie die Regel-Ausnahme-Struktur durch die intuitionistische Logik besser erfasst werden. Außerdem hat Philipps gezeigt, dass die dialogische Logik die Beweislastregeln angemessener als die klassische Logik rekonstruieren kann.31 Im dialogischen Kalkül findet genau wie in der intuitionistischen Logik der Satz vom ausgeschlossenen Dritten keine Anwendung.32
Was die oben analysierte h.M. zur Untersuchungshaft anbelangt, lässt sich feststellen, dass sie durch den Rückgriff auf die intuitionistische Logik nachvollziehbar wird, jedoch sie auch im Rahmen der klassischen Logik klar zum Ausdruck kommen kann. Es liegt von daher der Schluss nahe, dass der Rückgriff auf unterschiedliche Kalküle selbst im Falle eines und desselben strafverfahrensrechtlichen Problems sinnvoll ist, wenn dieses Problem durch seine Betrachtung aus verschiedenen formallogischen Blickwinkeln besser verständlich gemacht werden kann oder wenn dadurch verschiedene argumentationstheoretische Aspekte desselben Problems erläutert werden.
Abschließend bedarf es der Hervorhebung, dass eine der wichtigsten Aufgaben des Rechtslogikers darin liegt, die Stärken und die Schwächen der verfügbaren Kalküle bei der Formalisierung von dogmatischen Fragen und argumentationstheoretischen Problemen darzustellen. Genau diese Aufgabe hat Lothar Philipps – dessen Andenken dieser Beitrag gewidmet ist – schon vor einem halben Jahrhundert wie kein anderer durch seine bahnbrechenden Analysen erfüllt.33
Georgios Giannoulis, Assistenzprofessor für Kriminologie und Strafvollzug an der Juristischen Fakultät der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen.
- 1 Ulfrid Neumann, Der «Haftausschließungsgrund» der Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO) – eine apokryphe Figur der Strafprozessrechtsdogmatik, in: Lorenz Schulz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Imme Roxin, Heidelberg 2012, S. 659 ff., S.663.
- 2 Zur h.M. s. Theodor Kleinknecht, Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG): Entstehung und Hauptinhalt, in: JZ 1965, S. 113 ff., S. 114; Gerd Pfeiffer, StPO, 5. Aufl., München 2005, Vor § 112 Rn. 1 und § 112 Rn. 3; Werner Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl., Heidelberg 2016, Rn. 216; OLG Stuttgart NStZ 1993, S. 554; a.A.Uwe Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl., Berlin Heidelberg 2005, Rn. 233; Ulfrid Neumann (Fn. 1), S. 659 ff.
- 3 Lothar Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, in: ARSP 1964, S. 317 ff., S. 324 f.; vgl. ders., Sinn und Struktur der Normlogik, in: ARSP 1966, S. 195 ff., S.203. Dass der Satz von der Beseitigung der doppelten Negation eine unmittelbare Konsequenz aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist, hat u.a. Lothar Philipps, in: ARSP 1964, S. 324 Fn. 18 gezeigt: x ν ¬ x, wenn also nicht ¬ x (¬ ¬ x), dann x.
- 4 Dazu vgl. Dionysios Anapolitanos, Einführung in die Philosophie der Mathematik, 4. Aufl., Athen 1985, S. 278 (in griechischer Sprache).
- 5 Zur Forderung der h.M., dass die Unverhältnismäßigkeit festgestellt werden muss, s. den nächsten Absatz.
- 6 Näher dazu Peter Riess, Das Strafprozessänderungsgesetz 1964 – Bleibendes und Vergängliches, in: Theodor Kleinknecht/ Karl Heinz Gössel/ Hans Kauffmann (Hrsg)., Strafverfahren im Rechtsstaat. Festschrift für Theodor Kleinknecht zum 75. Geburtstag, München 1985, S. 355 ff., S. 355.
- 7 Theodor Kleinknecht (Fn. 2), S. 115 (Hervorhebungen im Original).
- 8 Dazu s. Fn. 3; s. ferner Dirk van Dalen, Intuitionistic Logic, in: Lou Gobble (Hrsg.), The Blackwell Guide to Philosophica Logic, Oxford 2001, S. 224 ff. (online abrufbar unter: https://pdfs.semanticscholar.org/1e75/6d625d4cf2d91f69149b3d5a1f2d07fe4b2f.pdf, S. 3 f.).
- 9 Dieser Satz ist einleuchtend.
- 10 Hier ist der «indirekte Beweis» dafür geeignet, um aus dem Nichtvorliegen der (festgestellten) Unverhältnismäßigkeit die Verhältnismäßigkeit herzuleiten, weil nach der h.M. der Richter nicht verpflichtet ist, die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft positiv festzustellen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir einmal (sc. beim Nichtvorliegen der Unverhältnismäßigkeit) den Satz von der doppelten Negation anwenden und einmal nicht (sc. beim Nichtvorliegen der Verhältnismäßigkeit). Vielmehr erlaubt uns die intuitionistische Logik beim Nichtvorliegen der Unverhältnismäßigkeit ein Ergebnis zu erzielen, das dem Satz von der Beseitigung der doppelten Negation entspricht. Denn in der intuitionistischen Logik sind eine positive Aussage und ihre doppelte Negation zwar nicht äquivalent, wohl aber die einmalige und die dreimalige Negation einer Aussage. Aus dem Bikonditional (V ↔ ¬ U) folgt also das Bikonditional (V ↔ ¬ ¬ ¬ U). Im zweiten Bikonditional lässt sich das ¬ U durch das äquivalente V aufgrund des ersten Bikonditionals ersetzen, sodass sich ein Ergebnis herleiten lässt (V ↔ ¬ ¬ V), das dem Satz von der doppelten Negation entspricht. Dazu s. Lothar Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, in: ARSP 1964, S., 317 ff., S. 324 f.
- 11 Zur Unterscheidung zwischen kontradiktorischen und konträren Begriffen bzw. Aussagen s. schon Ἀριστοτέλουσ, Ἀναλυτικά ὕστερα A2, 72a 12, Περὶ Ἑρμηνείας 17b, 17.
- 12 Vgl. Ἀριστοτέλους, Μετὰ τὰ φυσικά Κ4, 1055 β 1.
- 13 Das Vorliegen von Zweifeln im Sinne von Wertungsunsicherheiten ist bei der Entscheidung über die (Un-)Verhältnismäßigkeit keineswegs ausgeschlossen. Dass beim Vorliegen solcher Zweifel der Richter den Grundsatz in dubio pro reo nicht anwenden darf, bedeutet aber nicht, dass er den entgegengesetzten Grundsatz in dubio contra reum anwenden muss, wie die h.M. implizit behauptet. Dazu s. Ulfrid Neumann (Fn. 1), S. 661, 663, 666.
- 14 Theodor Kleinknecht (Fn. 2), S. 115 (Hervorhebungen durch Autor).
- 15 Karl Engisch, Über Negationen in Recht und Rechtswissenschaft, in: Paul Bockelmann/Arthur Kaufmann/Ulrich Klug (Hrsg.), Beiträge zur Rechtstheorie, 1984, Frankfurt a. M. S. 220, S. 231.
- 16 Dazu s. den oben zitierten Text, auf den sich die Fn. 14 bezieht.
- 17 Die Möglichkeit des Übergangs von den Begriffen zu den Aussagen unterstreicht Gustav Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1904, S. 12, auf den bereits Konstantinos Tsinas, Recht & Logik, Athen 2011 (in griechischer Sprache), S. 134, Fn. 340, hingewiesen hat.
- 18 Dazu s. Jan Joerden, Logik im Recht, 3. Aufl., Berlin 2018, S. 3–5.
- 19 Theodor Kleinknecht (Fn. 2), S. 115.
- 20 BGHSt 6,70, 72.
- 21 Eike von Savigny, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 231 ff.
- 22 Ulfrid Neumann, Juristische Argumentationslehre, Darmstadt 1986, S. 33.
- 23 Ulfrid Neumann, Juristische Logik, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl., Heidelberg u.a. 2011, S. 298 ff., S. 318.
- 24 Dazu s. Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Nachträge und Ergänzungen zu Teil II (StPO) (Nachtragsband I), Göttingen 1967, § 112 Rn. 6a; Ulfrid Neumann (Fn. 1), S. 663.
- 25 Ulfrid Neumann (Fn. 1), S. 663.
- 26 Für weitere Argumente zur Begründung der Mindermeinung s. Ulfrid Neumann (Fn. 1), passim. Der Mindermeinung schließe ich mich auch an und zwar nicht aus formallogischen Gründen, sondern weil sie m.E. durch stärkere substanzielle Argumente fundiert ist.
- 27 Ulfrid Neumann, Ex falso nunquam quodlibet! Eine Skizze zum Verhältnis zwischen Logik und Argumentation, in: ders. (Hrsg.), Recht als Struktur und Argumentation, Baden-Baden 2008, S. 56 ff., S. 61 [zuerst abgedruckt in: Bernd Schünemann/Marie-Theres Tinnefeld/Roland Wittmann (Hrsg.), Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Berlin 2005, S. 117 ff.].
- 28 Diese Frage wurde von Ulfrid Neumann (Fn. 27), S. 61, gestellt.
- 29 Ibid., S. 63.
- 30 Dazu s. Lothar Philipps, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Fuzzy Logic – ein Versuch zur Bestimmung der Wartezeit nach Verkehrsunfällen (§142 Abs. 2 StGB), in: Fritjof Haft u.a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1993, S. 265 ff.; ders., Kompensatorische Verknüpfungen in der Rechtsanwendung – ein Fall für Fuzzy Logic, in: Michael Martinek u.a. (Hrsg.), Festschrift für Günther Jahr zum siebzigsten Geburtstag: vestigia iuris, Tübingen 1993, S. 169 ff.; ders., Ein bisschen Fuzzy Logic für Juristen, in: Marie-Theres Tinefeld/Lothar Philipps/Kurt Weis (Hrsg.), Institutionen und Einzelne im Zeitalter der Informationstechnik, München 1994, S. 219 ff.; ders., Eine Theorie der unscharfen Subsumtion. Die Subsumtionsschwelle im Lichte der Fuzzy Logic, in: ARSP 81 (1995), S. 405 ff.; ders., Gerechte Entscheidungen gemäß einer Mehrzahl von Kriterien oder: Wer bekommt den Porsche? Eine Anwendung von Ronald R. Yagers Fuzzy-Logik-Methode, in: JUR-PC 1995, S. 3256 ff.; ders., An der Grenze von Vorsatz und Fahrlässigkeit – Ein Modell multikriterieller computergestützter Entscheidungen, in: Bernd Schünemann u.a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, Berlin, New York 2001, S. 365 ff.
- 31 Lothar Philipps, Dialogische Logik und juristische Beweislastverteilung, in: ders. (Hrsg.), Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen – Rechtslogische Aufsätze, Bern 2012, S. 37 ff.
- 32 Ibid.
- 33 Der Text ist eine Vorveröffentlichung meines Beitrags in der Gedenkschrift für Lothar Philipps, die in Editions Weblaw erscheinen wird.