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Deutsches, österreichisches, europäisches Deutsch?

Deutschsprachige Fassungen von Urteilen des europäischen Gerichtshofs im Vergleich

  • Authors: Pascale Berteloot / Bettina Mielke / Christian Wolff
  • Category: Articles
  • Region: Luxembourg, Germany
  • Field of law: Law and Language
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2018
  • Citation: Pascale Berteloot / Bettina Mielke / Christian Wolff, Deutsches, österreichisches, europäisches Deutsch?, in: Jusletter IT 22 February 2018
Zum Vergleich der österreichischen und (bundes-)deutschen Rechtssprache sind bereits einige Studien erschienen, die sich unter anderem mit dem kodifizierten Zivilrecht und der nationalen Rechtsprechung auseinandergesetzt haben. Eine Betrachtung auf der Ebene der europäischen Rechtsprechung fehlt dagegen bisher. Wir haben deshalb ein Textkorpus von Gerichtsurteilen erstellt, bei denen der Europäische Gerichtshof von deutschen bzw. österreichischen Gerichten angerufen worden war, das wir mit korpuslinguistischen Methoden untersuchen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Urteile des EuGH
  • 3. Korpusaufbau
  • 4. Österreichische und deutsche Rechtssprache
  • 5. Korpuslinguistische Analyse von Urteilen des EuGH
  • 5.1. Analyse mit den Voyant Tools
  • 5.2. Verwendetes Vokabular
  • 5.3. Untersuchung zur Textverständlichkeit
  • 6. Schlussfolgerungen
  • 7. Literatur

1.

Einführung ^

[1]

Zu den deutschen Sprachvarietäten in Deutschland und Österreich findet sich zahlreiche Literatur, teilweise auch zur Rechtssprache (Markhardt 1999, Muhr/Sellner 2006, Wiesinger 2008, Mielke/Wolff 2016, 131 f. m.w.N.). Da korpuslinguistische Untersuchungen bislang nicht vorlagen, haben wir diese Methodik in Studien zum kodifizierten Zivilrecht und zu Urteilen österreichischer und deutscher Gerichte eingesetzt (Mielke/Wolff 2013 und 2016).

[2]
Eine Betrachtung auf der Ebene der europäischen Rechtsprechung je nachdem, ob sie auf einem deutschen oder österreichischen Sachverhalt gründet, erfolgte bisher noch nicht. Auf der Basis von Gerichtsurteilen, bei denen der Europäische Gerichtshof (EuGH) von deutschen bzw. österreichischen Gerichten angerufen worden war, haben wir deshalb ein Textkorpus erstellt, das wir mit korpuslinguistischen Methoden analysiert haben.
[3]

Den Urteilen liegen Sachverhalte zugrunde, die wenigstens zum Teil in einem nationalen Kontext entstanden sind, auf die teilweise nationales Recht anzuwenden ist und die von den Prozessparteien und ihren nationalen Anwälten vor nationalen Richtern vorgetragen wurden. Gerade in den Teilen der Urteile, die auf das Verfahren vor dem nationalen Gericht und das anwendbare nationale Recht eingehen, sind Formulierungen aus dem nationalen Recht zu erwarten, was für diese Studie von besonderem Interesse ist.

[4]
Zunächst untersuchen wir, ob bisher beobachtete Phänomene, zum Beispiel zur Lexik, zur Satzlänge oder zur Verständlichkeit, auch bei europäischen Urteilen in deutscher Sprache zu beobachten sind. In einem weiteren Schritt wird analysiert, inwieweit nationale Unterschiede, wie sie in deutschen und österreichischen Rechtstexten festgestellt werden konnten, auch in den deutschsprachigen Urteilstexten des EuGH, die aufgrund von Vorlagen aus Deutschland und Österreich ergangen sind, aufscheinen oder ob die Unterschiede zwischen beiden Rechtssprachen der Vereinheitlichung einer europäischen deutschen Rechtssprache weichen mussten.
[5]

Wie bei den vorausgegangenen Studien zu österreichischen und deutschen Normtexten bzw. höchstrichterlichen Entscheidungen aus Österreich und Deutschland (Mielke/Wolff 2013 und 2016) nutzen wir online verfügbare Korpus-Analyse-Werkzeuge. Sie bieten ein breites Spektrum statistischer Analyseformen und sind geeignet, Basisparameter für die untersuchten Entscheidungen zu ermitteln.

2.

Urteile des EuGH ^

[6]

Bei den für das vorliegende Korpus ausgewählten Entscheidungen handelt es sich um sog. Vorlageverfahren nach Art. 267 des AEUV. Danach können Gerichte eines Mitgliedstaats, die in einem Verfahren mit Fragen zur Auslegung der Verträge oder zur Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Institutionen konfrontiert sind, diese Fragestellungen dem EuGH zur Entscheidung vorlegen. Nach der Sprachenregelung, die auf solche Verfahren anwendbar ist, legen nationale Gerichte ihre Fragen in ihrer Sprache vor. Diese bildet die «Verfahrenssprache». Die Vorlage wird in alle anderen Sprachen der Union übersetzt und allen Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen zugestellt, weil diese am Verfahren teilnehmen können. Intern wird der Gerichtshof – einer nun fest eingebürgerten Tradition folgend – auf Französisch arbeiten, in dieser Sprache ein Urteil entwerfen und beraten. Das Urteil wird sodann in die Verfahrenssprache übersetzt, die durch eine Fiktion das Original des Urteils bildet. Danach erfolgt die Übersetzung in alle anderen Unionssprachen zur Veröffentlichung.1

[7]

Festzuhalten ist, dass der EuGH einen eigenen Urteilsstil entwickelt hat, der sich – obwohl in den Anfängen der Gemeinschaft sehr vom französischen Stil geprägt – von den nationalen Modellen absetzt und einheitlich für alle Urteile gilt, unabhängig vom vorlegenden nationalen Gericht, der Sprache des Verfahrens oder der Nationalität der Prozessvorgestellt wird, mitparteien. Der EuGH folgt dabei einem Leitfaden über Aufbau, Stil und Standardformulierungen. Dieser «Vademekum» genannte Leitfaden ist ein internes Dokument, das nicht veröffentlicht wird. Außer Regeln zur Bezeichnung von nationalen Institutionen, Gerichten und Verwaltungseinrichtungen, zu Verweisungen auf nationale und europäische Gesetzestexte und Rechtsprechung enthält es strikte Regeln zum Rubrum (Titel, Schlüsselwörter, Nennung der Prozessparteien, Verfahrensablauf usw.) und zum Tenor des Urteils mit Sonderregeln für verschiedene Verfahrenstypen. Hinzu kommt, dass alle Urteilsentwürfe – die auf Französisch von einem meist nicht frankophonen Richter konzipiert werden – von einem französischsprachigen Juristen, dem «lecteur d’arrêts», also wörtlich übersetzt einem «Urteilsleser», auf sprachlich-juristische Korrektheit geprüft werden.2 Vademekum und «Urteilsleser» sichern die sprachlich-juristische Kohärenz der Rechtsprechung und führten zu einem festen Aufbau der Urteile, in deren ersten zwei Absätzen die Problemstellung vorgestellt wird (mit weiteren Abschnitten zum rechtlichen Rahmen, unterteilt in europäisches und nationales Recht) und das Verfahren vor dem nationalen Gericht sowie dessen Fragen dargelegt werden. Es folgen die juristische Analyse der Fragen anhand von Präzedenzfällen, die Begründung der Antwort des Gerichtshofes sowie die Kostenfrage und der Tenor des Urteils.

3.

Korpusaufbau ^

[8]

Ausgewählt wurden Urteile des EuGH im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, bei denen entweder ein deutsches oder ein österreichisches Gericht den EuGH angerufen hat. Weiterhin wurde das Korpus auf Rechtssachen begrenzt, auf die das Recht nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags (1. Dezember 2009) anzuwenden war. Die Auswahl erfolgte in EUR-Lex (http://eur-lex.europa.eu/collection/eu-law/eu-case-law.html) und zu Kontrollzwecken auch auf der Curia-Webseite des EuGH (https://curia.europa.eu/). Die Thematik der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen wurde aufgrund des im Allgemeinen interessanteren juristischen Vokabulars in den nationalen Verfahren ausgewählt.

[9]

Zusammenfassend ergeben sich somit folgende Kriterien für den Aufbau des Korpus: Rechtsprechung des EuGH im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon aufgrund von Vorlagen deutscher und österreichischer Gerichte. Den genannten Kriterien entsprechen 29 österreichische Vorlage-Entscheidungen sowie 62 Entscheidungen aufgrund deutscher Vorlagen bei einer Gesamtzahl von 310 Vorlage-Entscheidungen für alle Mitgliedstaaten. Unter den anrufenden Gerichten finden sich für Deutschland der Bundesgerichtshof, das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesarbeitsgericht, verschiedene Oberlandesgerichte, aber auch erstinstanzliche Gerichte wie das AG Kehl oder das Verwaltungsgericht Minden; auf österreichischer Seite riefen den EuGH neben dem Obersten Gerichtshof, u.a. der Asylgerichtshof, das Oberlandesgericht Wien und die Landesgerichte Salzburg und Feldkirch an. Die Urteilsvolltexte sind über die europäische Rechtsdatenbank EUR-Lex zugänglich. Für die weitere korpuslinguistische Verarbeitung wurde zunächst der Dokumenttext ausgewählt. Dabei wurde der Dokumentkopf, unter anderem mit der Nennung der Eigennamen der Verfahrensbeteiligten entfernt und der Text erst ab dem Schlüsselbegriff «Urteil» übernommen. Wir haben dabei zwei Teilkorpora aus deutschen und österreichischen Vorlagen erstellt.

4.

Österreichische und deutsche Rechtssprache ^

[10]

Als Merkmale der (deutschen und österreichischen) Rechtssprache werden häufige Passivkonstruktionen, ein erhöhtes Vorkommen des Konjunktivs, vermehrter Nominalstil mit einer Häufung von Substantiven und Ketten von Präpositionen sowie unübersichtliche Schachtelsätze genannt (Wiesinger 2008, 109 ff.). Wiesinger untersuchte exemplarisch eine kleine Auswahl von Texten der österreichischen Rechts- und Verwaltungssprache auf Verständlichkeit hin und stellte sie den Untersuchungen zur bundesdeutschen Verwaltungssprache, zur deutschen Sachprosa und den Untersuchungen zu österreichischen Tageszeitungen gegenüber (Wiesinger 2008, 108 ff.). Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass österreichische Amtstexte hinsichtlich der Satzlänge mit der deutschen Sachprosa korrespondieren und eher wortreicher sind als die bundesdeutschen Amtstexte. Zudem stellte er einen hohen Anteil von Passivkonstruktionen sowie häufige Wiederholung einzelner Verben fest, wobei der nominale Stilcharakter in den österreichischen Texten stärker ausgeprägt sei als in den bundesdeutschen (Wiesinger 2008, 127 f.).

[11]

Die korpuslinguistische Untersuchung von österreichischen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in Wien (OGH) und deutschen Entscheidungen des Bundesgerichthofs (BGH) zu straf- und zivilrechtlichen Themen (Mielke/Wolff 2016) zeigt, dass sich in den Korpora zu den österreichischen und deutschen Urteilen eine ganze Reihe von identischen Nomen der Rechtssprache finden, z.T. genau an derselben Rangstelle der häufigsten Wörter, wie z.B. Beklagte oder Sache. Ähnlich verhält es sich bei den Funktionswörtern, so ist die Häufigkeit der Präposition gemäß in den untersuchten deutschen und österreichischen Entscheidungen nahezu gleich verteilt. Die Konjunktion insoweit ist hingegen in den Entscheidungen des BGH deutlich häufiger enthalten als in denen des OGH (Mielke/Wolff 2016, 135 f.). Auch hinsichtlich der Satzlängen und der Verständlichkeit bestätigten sich die lediglich auf einer exemplarischen Auswahl beruhenden Ergebnisse Wiesingers. Österreichische Entscheidungen weisen eine höhere Satzlänge auf und werden überwiegend als schlechter lesbar bzw. verständlich eingeordnet (Mielke/Wolff 2016, 136 f.). Nachfolgend werden diese Ergebnisse mit den Analysen für die Urteile des EuGH auf der Basis deutscher bzw. österreichischer Vorlagen verglichen.

5.

Korpuslinguistische Analyse von Urteilen des EuGH ^

[12]
Die beiden Teilkorpora wurden mithilfe der Verfahren, die bereits bei den Studien zum österreichischen ABGB und deutschen BGB und den Entscheidungen des OGH bzw. BGH zum Einsatz kamen, analysiert.

5.1.

Analyse mit den Voyant Tools ^

[13]

Tabelle 1 zeigt eine Übersicht zur Größe der Korpora, zur Zahl der Wortformen und der verschiedenen Wortformen nach der Auswertung mit den Voyant Tools (vgl. dazu Mielke/Wolff 2013 und 2016).

Korpus AT Korpus DE

29 Dokumente

8'253 verschiedene Wortformen (types)

124'280 laufende Wortformen (token)

URL des Korpus: https://voyant-tools.org/
?corpus=ba8438130defa3f0e0aba51cdd
1c2bd7

62 Dokumente

12'389 verschiedene Wortformen (types)

281'605 laufende Wortformen (token)

URL des Korpus: https://voyant-tools.org/
?corpus=c82742c7119cd962615fd372f
9a8110b

Tabelle 1: Übersicht zu den in den Voyant Tools erfassten Teilkorpora

5.2.

Verwendetes Vokabular ^

[14]

Die beiden Teilkorpora, die auf deutschen bzw. österreichischen Vorlageentscheidungen beruhen, wurden einer lexikalischen Vergleichsanalyse unterzogen. Dazu wurden zunächst Stoppwörter mittels der bereits bei Mielke/Wolff 2016 verwendeten Stoppwortliste aus den Texten entfernt. Tabelle 2 zeigt die jeweils zehn häufigsten Begriffe in beiden Teilkorpora einschließlich der Anzahl der Dokumente des jeweiligen Teilkorpus, in denen die Begriffe auftreten, sowie ihrer absoluten und relativen Häufigkeiten im jeweiligen Teilkorpus. Acht von zehn Begriffen treten in beiden Listen auf.

Rel. Frequ. Abs. Frequ. Tritt auf in n Doks (max. 62) Term DE Term AT Tritt auf in n Doks (max. 29) Abs. Frequ. Rel. Frequ.
0.0096 2‘179 44 verordnung verordnung 28 1‘346 0.0136
0.0056 1‘261 28 richtlinie gericht 29 448 0.0045
0.0042 948 62 gericht recht 29 396 0.0040
0.0033 754 58 mitgliedstaat zuständigkeit 25 351 0.0035
0.0031 709 55 mitgliedstaats mitgliedstaat 27 344 0.0035
0.0031 693 62 recht richtlinie 16 326 0.0033
0.0029 654 60 sinne sinne 27 314 0.0032
0.0028 628 61 frage frage 29 303 0.0031
0.0027 607 58 mitgliedstaaten mitgliedstaats 26 294 0.0030
0.0025 561 62 verfahren gerichtshof 29 282 0.0028

Tabelle 2: Vergleich der jeweils zehn häufigsten Wörter (Vollformen) in beiden Korpora

[15]

Ein weiterer Vergleich stellt die jeweils 300 häufigsten Begriffe gegenüber. Nach einer Auszählung zeigt sich, dass die Begriffslisten zu etwa zwei Dritteln übereinstimmen. Bei den verbleibenden jeweils etwa 100 Begriffen, die nur in einem der beiden Teilkorpora auftreten, handelt es sich zum einen um landestypische Begriffe (etwa Landesgericht im «österreichischen» Korpus). Zahlreiche weitere Begriffe sind gebeugte Formen einer Grundform, die nur in einem Teilkorpus auftreten, wobei andere gebeugte Formen zum gleichen Wortstamm in beiden Korpora auftreten. Würde man diese Oberflächenerscheinung unterschiedlicher Wortformen herausrechnen, läge die Übereinstimmung hinsichtlich des lexikalischen Materials noch weit höher. Zudem ist festzustellen, dass angesichts der geringen Dokumentzahlen auch Einzelaspekte der jeweiligen Verfahren aufscheinen, die bei größeren Dokumentmengen weniger prominent vertreten wären. Insgesamt ergibt sich eine außerordentlich hohe Übereinstimmung auf der Basis des verwendeten Vokabulars. Auch die oben genannten Unterschiede bei der Konjunktion insoweit lassen sich nicht feststellen, da insoweit in den beiden Teilkorpora auf fast identischen Rangplätzen liegt (AT: Rang 106, DE: Rang 109).

5.3.

Untersuchung zur Textverständlichkeit ^

[16]

Genutzt wurden die Online-Tools http://www.leichtlesbar.ch (Tabelle 3) bzw. http://www.readable.io (Tabelle 4) zur Berechnung des Flesch-Index als bekannter Textverständlichkeitsmetrik. Beide Plattformen berechnen Metriken wie die Flesch-Formel (je niedriger der Wert, desto schwerer verständlich ist ein Text) oder den Flesch Kincaid Grade Level, der angibt, wie viele Schuljahre Ausbildung man benötigt, um einen Text zu verstehen. In Tabelle 3 sind zum Vergleich die Ergebnisse aus Mielke/Wolff 2016, Tabelle 6 aufgeführt.

Teilkorpus Wörter Sätze Satzlänge in Wörtern Flesch-Formel
BGH Zivilsachen 278‘383  16‘729  16,64 29
OGH Zivilsachen 271‘305  12‘154  22,32 21
EuGH Vorlagen AT 122‘841 6‘631 18,53 28
EuGH Vorlagen DE 284‘433 14‘675 19,38 26

Tabelle 3: Berechnung der Flesch-Formel mit http://www.leichtlesbar.ch

Teilkorpus Wörter Sätze Satzlänge in Wörtern Flesch Kincaid Grade Level
BGH Zivilsachen 280‘615 23‘929 11,7 10,7
OGH Zivilsachen 161‘545 9‘479 16,9 13
EuGH AT 111‘802 10‘136 11,0 12,4
EuGH DE 259‘425 23‘475 11,1 12,6

Tabelle 4: Berechnung des Flesch Kincaid Grade Level mit https://readability-score.com/ bzw. http://readable.io

[17]

Es zeigt sich, dass die OGH-Urteile schwerer verständlich sind als die BGH-Entscheidungen, während die EuGH-Urteile dazwischen liegen und nahezu kein Unterschied zwischen den EuGH-Teilkorpora besteht.

6.

Schlussfolgerungen ^

[18]
In der – spärlichen – Literatur zur Rechtssprache der Institutionen der EU und insbesondere des EuGH wird auf Grund von punktuellen Analysen von Urteilen der Schluss gezogen, dass sich der EuGH einer Sprache bedient, die sich von der üblichen Sprache nationaler Richter in den jeweiligen Mitgliedstaaten unterscheidet (Everling 1994; Berteloot 2002; Zedler 2015, S. 82).
[19]

Mit dieser Studie werden Untersuchungsergebnisse vorgelegt, die aus der Untersuchung eines kohärenten Korpus stammen. Diese Analysen sind von besonderem Interesse, weil sie in früheren Studien auf nationale Urteile deutscher und österreichischer Gerichte entsprechend angewendet wurden und diese Daten daher zu Vergleichszwecken vorliegen. Es fällt auf, dass die Werte für die nationalen Gerichte beider deutschsprachigen Staaten auseinanderklaffen, während die Werte für die Urteile des EuGH nach Vorlagen deutscher und österreichischer Gerichte sehr nahe beieinander liegen. In der Tat hat der EuGH eine eigene Sprache und Terminologie entwickelt, die zwar vom nationalen Recht und Rechtsdenken beeinflusst werden und sich konkret auf nationale Rechtssachen beziehen. In der Lösung der Rechtssachen begibt sich der Gerichtshof aber auf eine höhere Ebene, weil sein Urteil nicht nur dem vorlegenden Richter bei seiner konkret ihn im nationalen Kontext beschäftigenden Rechtsfrage helfen soll, sondern auch für ähnlich liegende schon anhängige oder zukünftige Fälle im Staat des vorlegenden Richters oder in anderen Mitgliedstaaten gelten soll.

[20]

Dies kann Unverständnis bei einem nationalen Juristen hervorrufen, der in einem Urteil nach Vorlage eines Richters seines Mitgliedstaates nicht unbedingt die gewohnte Ausdrucksweise und Terminologie wiederfindet (Zedler 2015, 82) – es ist jedoch im Sinne der Rolle des EuGH als Hüter der Verfassung der Europäischen Union als Ganzes. Der Gerichtshof wird daher nationale Rechtsbegriffe «laminieren», wie es der ehemalige luxemburgische Richter Pescatore auszudrücken pflegte, und sich damit einer gängigeren Sprache bedienen, die in allen Mitgliedstaaten ohne Kenntnis der nationalen rechtlichen Gegebenheiten verständlich sein sollte. Im Zweifel ist eine solche Ausdrucksweise auch leichter in alle Unionssprachen übersetzbar. Die Vorzüge einer «neutralen» Rechtssprache im internationalen Rechtsverkehr sind besonders hervorzuheben (vgl. Berteloot 1997, Beveridge 2002). Trotzdem wird die Rechtssprache der europäischen Institutionen im Allgemeinen und des EuGH im Besonderen als schwierig empfunden und vielerorts kritisiert. Eine weitere Analyse der europäischen Urteilssprache bleibt insofern eine lohnenswerte Aufgabe.

7.

Literatur ^

Berteloot, Pascale, Cross-Lingual and Cross-Cultural Communication at the Court of Justice of the E.C., IBA Conference – Bratislava, 8. September 1997.

Berteloot, Pascale, La traduction juridique dans l’Union européenne, en particulier à la Cour de justice. In: La traduction juridique, Histoire, théorie(s) et pratique, Berne & Geneva, ASTTI & ETI, 2000, S. 521.

Berteloot, Pascale, Legal French in France and in the European Communities. In: Mattila, Heikki (Hrsg.), The Development of Legal Language, Helsinki, Talentum Media, 2002, S. 81.

Bonichot, Jean-Claude, Le style des arrêts de la Cour de justice de l’Union européenne, Justice et Cassation 2013, S. 253–261.

Beveridge, Barbara J., Legal English – How it Developed and why it is not Appropriate for International Commercial Contracts. In: Mattila, Heikki (Hrsg.), The Development of Legal Language, Helsinki, Talentum Media, 2002.

Everling, Ulrich, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 1994, S.127–143.

Markhardt, Heidemarie, JUS versus JURA. Eigenheiten der österreichischen Sprache im juristischen Bereich, Lebende Sprache, Zeitschrift für fremde Sprache in Wissenschaft und Praxis, 1999, Band 44, Heft 3, S. 102–104.

Mielke, Bettina/Wolff, Christian, Österreichisch-deutsche Rechtssprache kontrastiv. Eine corpuslinguistische Analyse. In: Schweighofer, Erich/Kummer, Franz/Hötzendorfer, Walter (Hrsg.), Abstraktion und Applikation, Tagungsband des 16. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2013, Wien: OCG, S. 377–384.

Mielke, Bettina/Wolff, Christian, Österreichische und Deutsche Gerichtsentscheidungen im Sprachvergleich. In: Schweighofer, Erich/Kummer, Franz/Hötzendorfer, Walter/Borges, Georg (Hrsg.), Netzwerke, Tagungsband des 19. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2016, Wien: OCG & Erich Schweighofer, S. 129-138.

Muhr, Rudolf/Manfred B. Sellner, Zehn Jahre Forschung zum Österreichischen Deutsch: 1995-2005: Eine Bilanz. Frankfurt am Main: P. Lang, 2006 [= Österreichisches Deutsch. Sprache der Gegenwart Band [10].

Schönberger, Christoph, «Mi attendu, Mi dissertation», Le style des décisions de la Cour de justice de l’Union européenne, Droit et Société Nr. 91/2015, S. 505-519.

Wiesinger, Peter, Das österreichische Deutsch in Gegenwart und Geschichte, 2. durchgesehene und erweiterte Auflage, Wien: Lit, 2008 [= Austria: Forschung und Wissenschaft – Literatur, Band 2].

Zedler, Friederike, Mehrsprachigkeit und Methode, Der Umgang mit dem sprachlichen Egalitätsprinzip im Unionsrecht, Nomos: Baden-Baden, 2015.

Zeman, Dalibor, Überlegungen zur Deutschen Sprache in Österreich: Linguistische, Sprachpolitische und Soziolinguistische Aspekte der Österreichischen Varietät. Hamburg: Kovač, 2009 [= Philologia Band 131].

  1. 1 S. Verfahrensordnung des EuGH i.d.F. vom 25. September 2012, ABl. 2012 L 265/1, Kapitel 8, Sprachenregelung, Art. 36 bis 42; Berteloot 2000, Bonichot 2013, Schönberger 2015, Zedler 2015, 79 ff.
  2. 2 Die Funktion des «lecteur d’arrêts» wie auch das Vademekum gehören zu intern entwickelten Arbeitsmethoden, die kaum in Veröffentlichungen dokumentiert sind. Auf einem Blog zum Europarecht von Anfang 2017 finden sich aber Interviews, in denen eine «Urteilsleserin» ihre Arbeit beschreibt und auch das Vademekum erwähnt: https://blogdroiteuropeen.com/2017/01/20/decouvrez-la-fonction-de-lecteur-darret-a-la-cjue-interview-anne-schneider-part-1/ (alle Websiten zuletzt besucht im Januar 2018).