1.
Einleitung: Voraussehbarkeit der Rechtsprechung ^
2.
Subjektivistische und objektivistische Auslegung ^
Der subjektivistischen Auslegung kommt ein besonderes Gewicht auch bei der Auslegung von persönlichen Rechtsakten zu. Ein Schulbeispiel dafür sind die Auslegungen von Verträgen und Testamenten. Bei der Auslegung von Verträgen besteht eine Abweichung von der klassischen sprachlichen Auslegung bereits darin, dass «nicht an der wörtlichen Bedeutung der verwendeten Ausdrücke festgehalten zu werden braucht», weil es erforderlich ist, «die gemeinsame Absicht der Vertragsparteien zu erforschen», die den Grundsätzen des Schuldrechtsgesetzbuches entsprechen muss (siehe Art. 82).8 Wenn der Vertrag unklare Bestimmungen enthält, sind diese Bestimmungen in einem Vertrag ohne Entgelt «in dem Sinne, der für den Schuldner günstiger ist», auszulegen, in einem zweiseitig verpflichtenden Vertrag hingegen in dem Sinne, der «einem gerechten Verhältnis der gegenseitigen Leistungen entspricht» (Art. 84). Mutatis mutandis ist das auch für die Auslegung von Testamenten vorgesehen. Es ist eine eiserne Regel, dass die echte Absicht des Testators die Richtschnur für die Auslegung von Testamenten ist (Art. 84 Abs. 1 des Erbrechtsgesetzes). Zusätzlich wird gefordert, dass man sich im Zweifelsfall «daran zu halten hat, was für den gesetzlichen Erben oder für denjenigen, dem durch das Testament eine Verpflichtung auferlegt wurde, günstiger ist» (Art. 74 Abs. 2).
3.
Besonderheiten des dispositiven (nachgiebigen) und des kogenten (zwingenden) Rechts ^
Die Besonderheit des dispositiven (z.B. Vertrags-)Rechts ist es, dass es den Rahmen der Nachgiebigkeit und die Lösungen definiert, die dann gelten, wenn die Vertragsparteien die gegenseitigen Rechte und Pflichten teilweise oder gänzlich nicht vereinbaren. Der Rahmen der Nachgiebigkeit kann ausnahmsweise durch einige kogente Normen (etwa dadurch, dass die Höhe des Zinssatzes bestimmt ist) eingeschränkt werden. Die Normen des nachgiebigen Rechts sind insbesondere dafür empfindlich, dass wenigstens einigermassen bestimmt dargelegt wird, worin der Ausmass und der Sinn der Nachgiebigkeit bestehen. Die Auslegung des dispositiven Rechts soll auf Empathie, die die Parteien des dispositiven Verhältnisses zu verstehen versucht, beruhen. Der Ausgangspunkt des Empathieprinzips ist der Wille der Vertragsparteien und deshalb sucht es im äusseren Ausdruck «die gemeinsame Absicht der Vertragsparteien».10 Die Vorhersehbarkeit, die es entdeckt und «rekonstruiert», reicht in die Zeit, als das Vertragsverhältnis entstand (statische Auslegung). Wenn es zu einem Streit kommt, ist dies auch der zeitliche Blickwinkel, den der Richter berücksichtigen muss, wenn die Vertragsparteien dabei verharren und nicht bereit sind, innerhalb des Prinzips der Nachgiebigkeit zu einer anderen Lösung zu kommen.
4.
Einige Grundsätze des Rechtsstaates ^
5.
Vertrauen ins Recht ^
6.
Anpassung des Rechts an die gesellschaftlichen Verhältnisse und das Ändern der Rechtsprechung ^
Das Ändern der Rechtsprechung ist erlaubt, wenn man dabei durch die Auslegung des Gesetzes nicht von den Werten der Rechtssicherheit und der Grundrechte abweicht. Ebenso ist es wesentlich, dass die Abweichung nicht willkürlich (arbiträr) sein darf und dass die Begründungslast bei jenem (Gericht) liegt, das von der Praxis abweicht. Der Gegenstand der Begründung sind alle Abweichungen23 – sowohl diese, die die tragenden Standpunkte ändern, als auch jene, die den tragenden Standpunkt fortbilden, ihn nur teilweise ändern oder ihn weiter aufgliedern und ihm dadurch neue Nuancen und Akzente verleihen.24
7.
Statt des Fazits ^
- 1 Die Fälle, auf die ich mich beziehe, stammen in der Regel aus dem slowenischen Recht und der slowenischen Rechtsprechung.
- 2 Dieses Problems ist sich auch Tilen Štajnpihler bewusst, Precedenčni učinek sodnih odločb pri pravnem utemeljevanju (Präzedenzwirkung von gerichtlichen Entscheidungen beim rechtlichen Begründen), Ljubljana 2012, S. 235: «Pravni standard, ki ga sodišče postavi šele pri odločanju v konkretnem primeru, se namreč hkrati uporabi tudi že pri reševanju tega primera.» (Der Rechtsstandard, den das Gericht erst bei dem Entscheiden in einem konkreten Falls setzt, wird nämlich bereits beim Lösen dieses Falls angewendet.)
- 3 3 Siehe Hermann Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906 (Nachdruck: Baden-Baden 2002), S. 19; Boris Furlan, Teorija pravnega sklepanja (Theorie der rechtlichen Folgerung), Z.B.ornik znanstve-nih razprav (Ljubljana), 10 (1933−1934), S. 46; Arthur Kaufmann, Analogie und «Natur der Sache», 2. Aufl., Heidelberg 1982, S. 37, und Marijan Pavčnik, Juristisches Entscheiden als intellektuell verantwortliche Aktivität, in: Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2017, S. 301 ff.
- 4 Siehe die Werke in der folgenden Anmerkung.
- 5 In der Literatur werden die Dilemmata, die sich aus den angeführten Ansätzen ergeben, am häufigsten in Zusammenhang mit der historischen Auslehung behandelt. Siehe z.B. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., Berlin 1983, S. 351 ff.; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., Wien, New York 1991, S. 393 ff.; D. Neil MacCormick/Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes. A Comparative Study, Aldershot 1991, Stichwort «historical arguments» (S. 561); Marijan Pavčnik, Juristisches Verstehen und Entscheiden, Wien, New York 1993, S. 49 ff.; Karl Larenz/Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1995, S. 187 ff.; Peter Koller, Theorie des Rechts, 2. Aufl., Wien, Köln, Weimar 1997, S. 221 ff.; Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl., 1997, Stuttgart, Berlin, Köln, S. 134 ff.; Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung. Eine rationale Analyse, München 1999, S. 69 ff.; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band I, 11. Aufl., Berlin 2013, S. 369 ff.; Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 8. Aufl., München 2015, S. 558 ff., und Ernst A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 5. Aufl., Bern 2016, S. 249 ff.
- 6 Über die subjektivistische Auslegung im Strafrecht siehe Ulrich Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, Berlin 1983.
- 7 Mit diesen Fragen setzt sich der «Patria» Fall, Up-879/14, auseinander, in: Constitutional Court of the Republik of Slovenia, Selected Decisions 1991−2015, Ljubljana 2016, S. 411 ff.
- 8 Siehe auch § 914 («Bei Auslegung von Verträgen ist nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen, wie es der Übung des redlichen Verkehrs entspricht.») und § 915 («Bei einseitig verbindlichen Verträgen wird im Zweifel angenommen, dass sich der Verpflichtete eher die geringere als die schwerere Last auflegen wollte; bei zweiseitig verbindlichen wird eine undeutliche Äusserung zum Nachteile desjenigen erklärt, der sich derselben bedient hat (§ 869).») ABGB. Siehe auch § 133 BGB: «Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.» Vgl. auch § 157 und § 2350 BGB.
- 9 Vgl. Goethes Gedanken: «Ein ausgesprochenes Wort tritt in den Kreis der übrigen notwendig wirkenden Naturkräfte mit ein.» Zitiert nach Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl., Tübingen 1964, S. 258.
- 10 Siehe Art. 82 des slowenischen Schuldrechtgesetzbuches.
- 11 Siehe Bernd Schünemann (Nulla poena sine lege?, Berlin, New York 1978), der auch die Frage der Bestimmtheit (d.h. der relativen Bestimmtheit) der Strafe erörtert.
- 12 Vgl. Marijan Pavčnik, Das Argument des Rechtsstaates unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Slowenien, Zeitschrift für öffentliches Recht, 66 (2011), S. 77−93.
- 13 Siehe Lovro Šturm, in: Lovro Šturm (Hrsg.): Komentar Ustave Republike Slovenije (Kommentar der Verfassung der Republik Slowenien – Abkürzung: KURS), Ljubljana 2002, S. 52 ff.; Lovro Šturm, in: KURS − A, Ljubljana 2011, S. 16 ff., und Pavčnik (Fn. 12), S. 89 ff.
- 14 U-I-266/95 [OdlUS (Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Slovenia)], IV, 116.
- 15 Der Grundsatz der Anpassung des Rechts an die gesellschaftlichen Verhältnisse ist einer der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit: U-I-69/03 (OdlUS XIV/2, 75).
- 16 U-I-312/97 (OdlUS XI/1, 1).
- 17 U-I-101/97 (OdlUS VIII/1, 105).
- 18 U-I-64/97 (OdlUS VII/1, 78, S. 494).
- 19 Vgl. mit der Verfassungsrechtsprechung, die von Šturm angeführt wird (Šturm [Fn. 13], S. 69 ff.).
- 20 Beschluss II Ips 261/14 des Obersten Gerichts der Republik Sloweniens (OGRS). Siehe auch das Urteil II Ips 774/09 des OGRS.
- 21 Beschluss II Ips 261/14 des OGRS.
- 22 Siehe z.B. die Entscheidungen U-I-69/03 (OdlUS XIV/2, 75) und Up-164/15 des Verfassungsgerichts der Republik Sloweniens. Siehe auch Pavčnik (Fn. 12), S. 85 ff., S. 91 f.
- 23 Über die Feinheiten der Änderung der Rechtsprechung siehe das profunde Werk von Lorenz Kähler: Strukturen und Methoden der Rechtssprechungsänderung, 2. Aufl., Baden-Baden 2011.
- 24 An mehreren Stellen siehe auch D. Neil MacCormick/Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents. A Comparative Study, Aldershot 1997; Müller (Fn. 5), S. 314, S. 317, S. 551 f., S. 553; Kramer (Fn. 5), S. 300 ff., und Mehrdad PAyandeh, Judikative Rechtserzeugung, Tübingen 2017, S. 310 ff., S. 319, S. 330 ff., S. 485 ff., S. 488 f. Vgl. auch Pierluigi Chiassoni, The Philosophy of Precedent: Conceptual Analysis and Rational Reconstruction, in: On the Philosophy of Precedent, ARSP, Beiheft 133 (2012), S. 13−33.
-
25
Das Recht und das Sein werden von Gerhard Sprenger eingehend erörtert:
- Vom Wert der Wahrheit und der «Wahrheit» des Wertes im Recht, in: Recht und Ideologie. Festschrift für Hermann Klenner zum 70. Geburtstag, Berlin 1996, S. 190−222.
- 50 Jahre Radbruchsche Formel oder: Von der Sprachnot der Juristen, Neue Justiz, 1 (1997), S. 3−7.
- Crainquebille – oder: die verweigerte Gegenseitigkeit. Zur Ontologie des Rechtsgefühls, in: Teoria prawa. Filozofia prawa. Wspólczesne prawo i prawoznawstvo, 1998, S. 291−314, und
- Rechtsgefühl ohne Recht, in: Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, Berlin 2003, S. 317−338.
- 26 Siehe und vgl. Ulfrid Neumann, Theorie der juristischen Argumentation, in: Winfried Hassemer/Ulfrid Neumann/Frank Saliger (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl., Heidelberg 2016, S. 310: «Denn rechtliche Regeln haben, anders als etwa mathematische Gesetze, keine ideale sondern nur eine soziale Existenz. Das bedeutet: ‹Richtig› ist die Entscheidung (wie die sie tragende Rechtsregel), die sich anhand der anerkannten Argumentationsregel als ‹richtig› begründen lässt.»