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Das chinesische Social Credit System – Neue Formen der E-Governance zwischen Recht und Policy?

  • Author: Georg Gesk
  • Category of articles: Legal Informatics
  • Category: Articles
  • Region: China
  • Field of law: Legal Informatics
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2020
  • DOI: 10.38023/3b670f49-0fc6-4f49-bfc9-5f9544143d36
  • Citation: Georg Gesk, Das chinesische Social Credit System – Neue Formen der E-Governance zwischen Recht und Policy? , in: Jusletter IT 27 Mai 2020
Wie erste Forderungen nach einem Social Credit System (SCS) in China aufkamen, hatte sich niemand vorstellen können, bis zu welchem Grad Big Data und Algorithmen die Kreditwürdigkeit und andere Aspekte unternehmerischen Handelns vernetzen und analysieren kann. Daher ist der Versuch Chinas, durch SCS eine neue Form des e-governments zu errichten, ohne Vorbilder. Wie vollzieht sich dieser Aufbau, der Policy-Entscheidungen in Verwaltungshandeln umwandelt? Woher kommen Daten und wie werden sie eingesetzt? Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen SCS Sanktionen und insbesondere Verwaltungsbußen? Wieso ist das SCS für die Glaubwürdigkeit des Staates mindestens so wichtig, wie für die Kreditwürdigkeit von Unternehmen? All diesen Fragen geht der Beitrag nach und versucht dadurch Spezifika des SCS-Systems zu erklären.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung – Versagen der Marktwirtschaft?
  • 2. Das SCS für Unternehmen – Vertrauen als Wettbewerbsfaktor
  • 3. Social Credit System als Mittel zur Disziplinierung der Exekutive
  • 4. Einbettung von Sanktionen des SCS in bestehende normative Muster
  • 5. Fazit

1.

Einführung – Versagen der Marktwirtschaft? ^

[1]

Wie sich die chinesische Gesellschaft darauf vorbereitete, der WTO beizutreten, war dies Gelegenheit zu einer Fehleranalyse innerhalb dessen, was bislang erreicht worden war. Dabei gab es Stimmen, die den Finger auf einen generellen Vertrauensverlust legten und die dies als eines der Grundprobleme der chinesischen Wirtschaft betrachteten. Sehen wir uns korrespondierend zu diesen Klagen Urteile an, dann können wir feststellen, wie es kaum einen Aspekt gibt, in dem Akteure nicht versuchen, Profite aus vertragswidrigem oder illegalem Verhalten zu ziehen.1 Ja es gibt Hinweise darauf, wie der gezielte Versuch, illegale Geschäftsmodelle als zumindest mittelfristige unternehmerische Strategie anzuwenden, für die Betroffenen nur dahingehend negative Konsequenzen hatten, dass sie jeweils nach Jahresfrist eine neue Gesellschaft eröffnen mussten.2 Dass es sich bei diesen Phänomenen nicht um isolierte Fälle handelt, sondern um Schlaglichter, die symptomatisch ein Grundproblem beleuchten, zeigt sich an dem chronischen Problem der Nicht-Vollstreckung von Zivilurteilen im Unternehmensbereich3. Es verwundert daher nicht, wenn soziologische Forschungen einen generellen Vertrauensverlust in der Gesellschaft feststellen.4 Es war unter diesen Vorzeichen, dass Stimmen nach einem neuen System zur Feststellung und Regulierung von Kreditwürdigkeit bzw. sozialem Vertrauen laut wurden.5

2.

Das SCS für Unternehmen – Vertrauen als Wettbewerbsfaktor ^

[2]

Wenn also die Steuerbehörde feststellt, dass ein Unternehmen einem illegalen Geschäftszweck nachgeht, wenn dieser illegale Geschäftszweck die hauptsächliche Betätigung des Unternehmens darstellt, dann ist es unzureichend, wenn dieses eine Unternehmen aus dem Unternehmensregister gestrichen wird, wenn aber der Inhaber oder der Geschäftsführer in der nächsten Stadt sofort das nächste Unternehmen gründet, um sein illegales Geschäftsmodell weiterzuführen. Eben hier setzt der Grundgedanke des Social Credit Systems (SCS) für Unternehmen an: der Staat versucht, compliance über gegebene regionale und institutionelle Grenzen hinweg durchzusetzen, um auf diese Weise Unternehmen, die sich rechtskonform verhalten, zu belohnen und Unternehmen, die sich widerrechtlich verhalten, nicht nur in einem Punkt zu sanktionieren, sondern durch einen «ripple effect» auch in anderen Bereichen einzuschränken. Als Konsequenz dessen kann zB ein Unternehmen, das im Vollstreckungsverfahren eine vertragliche Schuldbeziehung nicht bedient, wesentlich schwieriger gleichzeitig die Genehmigung für einen staatlichen Bankkredit erhalten.

[3]

Um diesen Gedanken in der Realität umzusetzen, hat der chinesische Staat seit 2013 konsequent Strukturen geschaffen, welche die Verknüpfung von Compliance in einem Feld mit derjenigen anderer Felder ermöglicht. Der Weg hierhin erfolgte in mehreren Schritten: Kennzeichnungen von Unternehmen in unterschiedlichen Registern wurden vereinheitlicht: seit 2015 sind die Nummern im Unternehmensregister, die Steuernummer, und die Nummer, unter der die Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitnehmern abgebucht werden, gleich. Dazu wurde landesweit vereinheitlicht, welche Informationen innerhalb der einzelnen Register erfasst werden müssen.6 Durch diesen Schritt wurde die Vernetzung von Daten zur Unternehmensstruktur, zur finanziellen Situation der Unternehmen und zur Arbeitnehmerstruktur möglich. Weiter wurde die Infrastruktur für Big Data (Serverkapazitäten etc.) aufgebaut, um solch eine Fülle an Daten tatsächlich zusammenführen zu können. Drittens wurden die jeweiligen Fachverwaltungen verpflichtet, in ihrem Kompetenzbereich anfallende Daten nach einheitlichen Mustern zu digitalisieren und in einem klar definierten Zeitrahmen diese funktional eingegrenzten Datenbanken mit denen des Gesamtstaats, der Provinzen etc. zu vernetzen.7 Es wurden also effektive Schritte unternommen, um erstens «big data» zum Verhalten und zur compliance von Unternehmen zu generieren und um diese zweitens durch Algorithmen verfügbar und analysierbar zu machen.

[4]

Als Konsequenz dieser neuen Strukturen entsteht ein unternehmensorientiertes System des compliance monitorings, das es individuellen Unternehmen ermöglicht, sowohl Bonus- als auch Malus-Punkte zu sammeln. Wie unter anderem aus der Social Credit Ordnung der Stadt Shanghai8 ersichtlich ist, werden die politischen Vorgaben, die sich in Folge des Beschlusses des 18. Parteitags9 und als Teil der chinesischen Digitalisierungsstrategie10 gebildet haben, bereits seit einigen Jahren auf Provinzebene sukzessive in gesetzlich verbindliche Normen umgesetzt. Zwar existiert bislang keine gesamtstaatliche, einheitliche Gesetzesgrundlage, jedoch können auf diese Art und Weise lokale Unterschiede in administrativer Struktur und in digitaler Infrastruktur berücksichtigt werden, ohne dass einzelne Provinzen, Städte etc. sofort gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen. Da hinter den individuellen, fragmentierten Bestimmungen ein gemeinsamer Masterplan steht, können erforderliche Anpassungen im Zuge von Aufarbeitung, Vergleich und Reflexion praktischer Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen werden. Eben aus diesem Grund gibt es bislang auch nicht eine einzelne nationale Datenbank, die repräsentativ für alle Bereiche unternehmerischer Aktivitäten wäre, sondern es werden in relevanten Publikationen insgesamt neun wichtige nationale Datenbanksysteme aufgeführt11, die zumindest in Teilen öffentlich einsehbar sind und durch die sich Betroffene über ihre Geschäftspartner ebenso informieren können, wie es staatlichen Stellen über diese Systeme möglich ist, sich einen Überblick über Antragsteller etc. zu verschaffen.

[5]

Um nicht nur Daten über das Verhalten von Unternehmen zu erhalten, sondern effektiv diese in ihrem Verhalten zu Anpassungen zu veranlassen, wurden zudem normative Möglichkeiten geschaffen, um eben dieses Unternehmensverhalten zu belohnen oder zu sanktionieren. Wiederum am Beispiel der Shanghai Social Credit Ordnung von 2017 sehen wir, wie Kapitel 3 positive Gratifikationen und negative Sanktionierungsmaßnahmen bestimmt, womit sich dieses Gesetz in Provinzrang innerhalb der Vorgaben des Staatsrats von 201612 befindet. Danach werden nicht nur «rote Listen» geführt, sondern man versucht, Unternehmen durch positive und negative Sanktionen in ihren Handlungsmustern zur Anpassung zu bewegen. In den Arbeitsschwerpunkten der Stadt Shanghai zum Aufbau des SCS für das Jahr 201913 ist denn auch ausdrücklich in 3. aufgeführt, dass die städtische Verwaltung die Einbindung von Unternehmen auf guten («roten») und schlechten («schwarzen») Listen in Reaktionsmuster der Exekutive für Schlüsselindustrien vorantreiben soll. Es soll also verhindert werden, dass die Ergebnisse des Scorings im SCS und die Reaktion der Verwaltung asynchron verlaufen. Dabei sollen Unternehmen der roten Liste (红名单) präferentiell behandelt werden, während Unternehmen der schwarzen Liste (黑名单) im Einklang mit Gesetzen (依法) und Bestimmungen (依规) eingeschränkt werden sollen. Explizit wird also gefordert, dass die Idee, die im Protokoll zur konzertierten Belohnung bzw. Sanktionierung durch unterschiedliche staatliche Behörden (国家联合奖惩合作备忘录) ausgedrückt wurde, zur Anwendung kommen soll.

[6]

Als Schwerpunktbereiche dieser konzertierten Aktion staatlicher Behörden werden folgende Bereiche aufgeführt: (1) gerichtliche Vollstreckung (法院执行), (2) Marktaufsicht (市场监管), (3) Umweltschutz (环境保护), (4) Steuerpflicht (税务), und (5) Im-/Export und Zölle ((进口, 出口, 关税)). Bei Belohnung bzw. Sanktionierung wird unterschieden in (1) administrative, (2) marktregulierende, und (3) branchenweite Maßnahmen. Ganz abgesehen davon, ob die Einordnung der Gerichte in die Reihe staatlicher Berhörden in Deutschland eher Unverständnis auflöst, sehen wir ganz deutlich, wie die Realisierung des SCSs sich in Abschnitten vollzieht und bereits zum jetzigen Zeitpunkt die ursprüngliche Zielrichtung weit überschreitet. Neben dem Problem der Vollstreckbarkeit von Urteilen sind Aspekte wie Marktverhalten, branchenweite Selbstregulierung unternehmerischer Aktivitäten, sowie compliance bezüglich Steuer, Zoll und Umweltschutz als Systemfokus hinzugetreten.

[7]

Wenn hier von präferentieller Behandlung von Unternehmen durch staatliche Behörden die Rede ist, dann handelt es sich u.a. um die Möglichkeit, Anträge einzureichen und die Antragsunterlagen erst zu einem späteren Zeitpunkt nachzureichen; an anderer Stelle wird davon gesprochen, dass bei Ausschreibungen präferentielle Behandlung möglich ist. Ein Unternehmen, das einen guten («roten») credit-status hat, kann also auf Ausschreibungen kurzfristig reagieren und die notwendigen Unterlagen nachreichen, hat Anspruch auf bevorzugte Kreditlinien, oder kann Steuer- und Zollformalitäten beschleunigt abwickeln. Es hat also im Wettbewerb mit anderen Akteuren durchaus manifeste Vorteile, die sich in beschleunigte Unternehmensabläufe und damit in Wettbewerbsvorteile umwandeln lassen. Umgekehrt ist ein Unternehmen mit negativem («schwarzem») credit-Status u.U. von Ausschreibungen ausgeschlossen, hat Probleme, Kredite gewährt zu bekommen und wird bei Steuer-, Zoll und anderen Verwaltungshandlungen besonders genau unter die Lupe genommen. Die guten und schlechten Erfahrungen, die eine Fachverwaltung mit einem Unternehmen gemacht hat, kann also über Behörden- und Kompetenzgrenzen hinweg Auswirkungen auf das Gesamtverhalten der Exekutive gegenüber einem bestimmten Unternehmen haben. Wir sehen, wie sich hier ein System der e-governance bildet, das bereits zu einem Zeitpunkt einsetzt, bei dem es nicht notwendiger Weise zu einer Verwaltungssanktion im klassischen Sinne (also nach einschlägigen Bestimmungen des Verwaltungsbußgesetzes)14 kommen kann, und das nicht nur negatives Verhalten sanktioniert, sondern auch positives Verhalten belohnt. Trotzdem soll das SCS nicht statisch angewandt werden, vielmehr erlaubt es Unternehmen, die im Rahmen des SCS diszipliniert wurden, durch Compliance-Kurse Maluspunkte abzubauen, so dass diese gelöscht werden.15

[8]

Was dabei mindestens für den Moment etwas verwirrend bleibt, ist der teilweise fragmentarische Charakter des Systems, der zwar viele Daten bereits zusammengeführt hat, der aber auch auf nationaler Ebene bislang kein allumfassendes System aufgebaut hat. Mehrere wichtige Datenbanken werden getrennt voneinander geführt, so dass die Fachverwaltung für Zoll zwar sehen kann, ob das betreffende Unternehmen etwa in Beijing Steuern schuldet, dass aber bislang nicht automatisch beim Aufrufen einer Datei ein entsprechendes fact sheet generiert wird. Genau deshalb die Forderung der Stadt Shanghai, dass es nicht nur zur Kompilierung von Daten kommen darf, sondern dass die einzelnen Fachbehörden auch auf Grund dieser Daten Handlungsalternativen ausüben sollen.

3.

Social Credit System als Mittel zur Disziplinierung der Exekutive ^

[9]

Genau an dieser Stelle sehen wir ein weiteres Charakteristikum des SCS, denn es eignet sich zur Beurteilung von Unternehmen genauso wie zur Bewertung einzelner Fachverwaltungen. Werden Kreditlinien vermittelt, obwohl Unternehmen ausstehende Rechnungen nicht begleichen? Werden Unternehmen Aufträge erteilt, obwohl falsche Angaben gemacht wurden? Solche Entscheidungen entsprachen bislang häufig soft constraits, die auf Grund persönlicher Verpflichtungen die Verwaltung dazu gebracht hatten, sich in ihren Entscheidungen jenseits von normativen Vorgaben zu bewegen.16 Wenn nun Verwaltungshandeln in quantitativ bewertbare Raster eingebettet wird17 und wenn Behörden konkret danach beurteilt werden, wie viele Punkte sie in ihrem jeweiligen Score bekommen, dann werden eben diese soft constraints radikal aufgebrochen. Der Staat verwendet das SCS nicht nur, um Unternehmen zu compliance zu veranlassen, sondern er versucht auch die staatliche Fachverwaltung zur Einhaltung bestehender Regeln zu bewegen.18 Wenn sich dann eine Behörde im Dilemma befindet, dass sie mit derselben Handlung im einen Score Maluspunkte (Auftragsvergabe an einen minderqualifizierten Bewerber) und im anderen Score Pluspunkte (Erhalt von lokalen Arbeitsplätzen) erhält, dann ist es durch das Punkte-System nicht ausgeschlossen, sich entgegen einzelner normativer oder administrativer Erwartungen zu verhalten. Solange der Gesamtscore nicht ins Negative abrutscht, ist «schlechtes» Verhalten in einer Kategorie durch «gutes» Verhalten in einer anderen aufzufangen. Da das System zum größten Teil transparent ist und den Betroffenen Einblick in ihre jeweiligen Scores erlaubt, ist ein solchermaßen rationales Abwägen möglich.

[10]

Das gilt für die Verwaltung ebenso, wie für Unternehmen. Von daher wird das SCS auf keinen Fall über Nacht zu einer kompletten compliance führen, es erlaubt aber dem Gesamtsystem sich über die Zeit so anzupassen, dass aus Sicht der Akteure ein optimaler Score erreicht wird, dass also optimale Risikovorsorge realisiert wird. Gleichzeitig erlaubt das SCS den staatlichen Planungsbehörden zu erfahren, wo genau die Verwerfungen sind, die Unternehmen (oder die Verwaltung) zu non-compliance bringen. Es erlaubt also für die Zukunft eine rationale Anpassung des SCS und eine sukzessive Anhebung des Compliance-Levels.

4.

Einbettung von Sanktionen des SCS in bestehende normative Muster ^

[11]

Dass es sich bei diesem System um ein flexibles handelt, das nicht starr auf jede Verfehlung mit einer vorhersehbaren Sanktion antwortet, zeigt sich auch an dem Entwurf zur Anpassung des Verwaltungsbußgesetzes.19 In dem Entwurf wird eindeutig gefordert, dass der Score, den etwa ein Unternehmen in seinem social credit ranking hat, nur dann als sanktionsschärfend bei der Verhängung von Verwaltungsbußen berücksichtigt werden soll, wenn es sich bei den zu Grunde liegenden Handlungen um besonders schwerwiegende Verfehlungen handelt. Es wird also ein Abstandsgebot zwischen Sanktionierung innerhalb des SCS und dem allgemeinen Verwaltungsrecht formuliert.

[12]

Genau hieran erkennen wir aber, dass es nicht unbedingt oder gar ausschließlich um die Disziplierung von Unternehmen geht, sondern dass durch das SCS auch eine Disziplinierung der Verwaltung angestrebt wird. Wenn eine Verwaltung einem Unternehmen präferentielle Behandlung angedeihen läßt, tut sie das dann auf Grund nachvollziehbarer Gründe? Handelt es sich um verdeckte Formen administrativ unterstützter Monopolbildung, wie diese in Kapitel 5 des Anti-Monopolgesetzes beschrieben wird, die aber immer wieder von der öffentlichen Hand erwünscht wird, so dass es nur selten zu offiziellen Verfahren kommt? Ist das Verhalten der Administrative im Einzelfall rational und gesamtgesellschaftlich begründbar?

5.

Fazit ^

[13]

Aus den obigen Ausführungen ersehen wir, dass die Einführung des SCS zweischneidig ist. Aus utopischer Perspektive betrachtet erlaubt das SCS eine Objektivierung der Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen, die gleichzeitig durch positive und negative Sanktionierungen einen kontinuierlichen Anpassungsprozess in Gang setzt, der zu einer Optimierung von Compliance-Strukturen in ganzen Branchen führen wird. Aus Sicht der dystopischen Perspektive kann der Staat durch dieses System alle unternehmerischen Handlungen tracken, ohne dass behördlicher Ermessensspielraum wirklich eindeutig geregelt wäre. Es ist damit zB möglich, Erfolgsmodelle privater Unternehmen zu behindern und in präferentiell behandelten Unternehmen der öffentlichen Hand zu klonen.

[14]

Für die Entscheidung, in welche Richtung die Entwicklung geht, wird also entscheidend sein, ob die Transparenz der «roten Listen» und der behördlichen Entscheidungen tatsächlich großflächig durchgesetzt werden können und ob es im Fall des Missbrauchs effektiven Rechtsschutz gibt. Dennoch kann sich das Modell in ein sehr effizientes Mittel gegen Korruption entwickeln, weil es Entscheidungsprozesse nachvollziehbar macht, die bislang für die Außenwelt nicht einsehbar waren. In der Außenperspektive wird wichtig werden, inwiefern ausländische Unternehmen nicht nur Daten ihrer Aktivitäten vor Ort dem System zur Verfügung stellen müssen, sondern darüber hinaus Kennzahlen von Heimat- oder Drittmärkten einfüttern müssen. Ansatzpunkte wie etwa §§ 42, 46 des chinesischen Außenhandelsgesetzes20 existieren schon seit vielen Jahren.

[15]

Darüber hinaus sehen wir, wie dieses verbindliche Compliance-Regime aufgebaut wird, ohne dass es sofort Teil allgemeiner Gesetze wäre. Vielmehr bildet es eine Schicht aus soft law, welche sich über strikte gesetzliche Bestimmungen legt, um dadurch normkonforme Handlungsweisen bereits vor der Frage Gesetzesverstoß ja oder nein zu stimulieren. Insgesamt handelt es sich daher um einen konfuzianisch geprägten Weg hin zu einem neuen Modell der e-governance.

  1. 1 Dieses Grundproblem wird nicht zuletzt an dem breit publizierten Maissamenfall von Luoyang deutlich: beide Vertragsparteien gaben offen zu, dass ihr Streit aus Vertragsbruch erstand, jedoch dachte die beklagte Seite, sie könne den Schaden unter Marktpreis berechnen und daraus außerordentlichen Profit erzielen, siehe zB Kong Xiangjun (孔祥俊), Über das Recht des Richters, über Rechtsanwendung bei Normkonflikten zu entscheiden (论法官在法律规范冲突的选择适用权), Law Application Monthly (法律适用月刊) 2004, Nr. 4, Vol. 217, S. 2–8. Für ein Beispiel, wie eine Gesellschaft «Gesellschafter» ohne deren Wissen ins Register einträgt und wie das Gericht eindeutig feststellt, dass das Registeramt nicht zur faktischen Kontrolle von Angaben verpflichtet ist, siehe zB Zivilurteil des Volksgerichts des Bezirks Fengxian der Stadt Shanghai (2013) Feng Zivilkammer zwei (Handel) Erstinstanz Nr. 1534 (上海市奉贤区人民法院 (2013) 奉民二(商)初字第 1534 号民事判决书), wiedergegeben und kommentiert in Center for the Development of Leading Cases at the China Judges Academy (中国法官学院案例开发研究中心) (Hg.), Leading Cases of Chinese Courts 2015 (中国法院2015年度案例) Bd. 14, Unternehmensstreitigkeiten (公司纠纷), Beijing: China Legal Publishing House (中国法制出版社), 2015, S. 11–13.
  2. 2 Vgl. Dan Harris, How to Form a WFOE in China, Part 7: Why Business Scope is so Important, 3.12.2015, http://www.chinalawblog.com/2015/12/how-to-form-a-wfoe-in-china-part-7.html, zuletzt aufgerufen am 5.1.2020.
  3. 3 Aus diesem Grunde wird bei der Berechnung von Anwaltskosten für die Vollstreckung meist ein höherer Satz berechnet als für übliche Verfahren. Zum Zusammenhang von Zwangsvollstreckung und SCS, siehe Jingyi von Strasser, Ein Spagat zwischen effektiver Zwangsvollstreckung und Schuldnerschutz: Die revidierten Bestimmungen des OVG zur Namensliste kreditunwürdiger Schuldner und zur Anordnung der Ausgabenbeschränkung, in: ZChinR, 2019, Heft 3, S. 276–284.
  4. 4 Vgl. Jing Shijie (井世洁), Yang Yiyin (杨宜音), Stratifikatorische und lokale Merkmale des sozialen Vertrauens in Zeiten der Veränderung (转型期社会信任感的阶层与区域特征), Social Science (社会科学), 2013, Nr. 6, S. 77–85.
  5. 5 Im Zuge dessen brachte Lin Junyue in den Jahren 1999 bzw. 2000 (Towards a National System of Credit Management) die Idee des Social Credit System auf. Siehe: René Raphael, Ling Xi, Discipline and Punish: the Birth of China’s Social Credit System, https://www.thenation.com/article/china-social-credit-system/, zuletzt aufgerufen am 5.1.2020.
  6. 6 Siehe hierzu im Einzelnen Zhou Ye (周烨), Angewandte Forschung zur allgemeinen SCS-Nummer von juristischen Personen und anderen Organisationen im Rahmen der Digitalisierung der macro-ökonomischen Marktregulierungsdaten (法人及其他组织统一社会信用代码数据在大市场监管信息化工作中的应用研究), Technical Trends (科技风), 2019, September, S. 265 f.
  7. 7 Siehe exemplarisch den Arbeitsplan zur Digitalisierung und Vernetzung relevanter Daten im Kompetenzbereich des Distrikts Jianghan der Stadt Wuhan; siehe Beurteilungsregeln des Distrikts Jianghan zu den Arbeitszielen für das Jahr 2018 beim Aufbau des SCS (2018 年江汉区社会信用体系建设工作目标考核计分办法), zuletzt abgerufen von der CNKI-Datenbank (Rechtswissenschaft) am 5.12.2019.
  8. 8 Social Credit Ordnung der Stadt Shanghai (上海市社会信用条例) vom 23.6.2017.
  9. 9 Es gab also nicht nur einen Beschluss zur Einführung des SCS, sondern eine ganze Reihe von Entscheidungen innerhalb der KP Chinas, welche den Aufbau und die Leitideen dieses Systems adressiert haben und welche in der Folge von staatlichen Stellen in Gesetze und praktische Handlungsalternativen umgesetzt wurden. So führt bereits das Staatsratsdokument von 2014 insgesamt vier Parteidokumente als normativ-politische Begründung für die Leitlinien des Staatsrats auf. Hieran zeigt sich, wie der Nationale Volkskongress (全国人民代表大会) als eigentlicher nationaler Gesetzgeber bislang nicht in Erscheinung trat, so dass sich die Verrechtlichung des SCS über Verwaltungsverordnungen und Gesetze auf der Provinzebene vollzieht. Dieser Prozess ist bislang nicht abgeschlossen.
  10. 10 Die Digitalisierungsstrategie Chinas ist weitaus breiter aufgestellt und umfasst Aspekte staatlicher Sicherheit genauso, wie industrielle Entwicklungsprogramme in Schlüsselindustrien, Forschungscluster, Aufbau einer digitalen Infrastruktur, oder eben die Einführung eines Systems, mit dem die Verantwortlichkeit von Unternehmen und Individuen gestärkt werden soll. Ein Eckdokument innerhalb des Aufbaus des SCS sind die Leitlinien zu Planung und Aufbau des SCS (2014–2020) (社会信用体系建设规划纲要), welche der Staatsrat (国务院) am 14.6.2014 unter dem AktenZ Staatsrat Entwicklung (2014) Nr. 21 (国发 (2014) 21号) veröffentlichte.
  11. 11 Vgl. TriviumChina, Understanding China’s Social Credit System, 23.9.2019, S. 13, http://socialcredit.triviumchina.com, zuletzt abgerufen am 5.1.2020.
  12. 12 Siehe Anweisungen zu Aufbau und Optimierung eines konzertierten Belohnungs- und Sanktionssystem bei Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit und zum beschleunigten Aufbau einer vertrauenswürdigen Gesellschaft (国务院关于建立完善守信联合激励和失信联合惩戒制度加快推进社会诚信建设的指导意见), AktenZ Staatsrat Entwicklung (2016) Nr. 33 (国发 (2016) 33号).
  13. 13 Arbeitsschwerpunkte der Stadt Shanghai zum Aufbau des Social Credit Systems für das Jahr 2019 (2019年上海市社会信用体系建设工作要点) vom 26.3.2019, AktenZ: Pu Development Reform Credit (2019) Nr. 5 (沪发改信 (2019) 5号), veröffentlicht am 9.4.2019, siehe http://www.secta.sh.cn/new_det.aspx?Id=11687, zuletzt aufgerufen 4.11.2019.
  14. 14 Zum Unterschied der Sanktionen nach SCS und nach Verwaltungsbußgesetz (行政处罚法), siehe Zhang Xiaoying (张晓莹), Das Sanktionssystem bei Credit-Verlust unter der Perspektive der Verwaltungsbuße (行政处罚视域下的失信惩戒规制 行政法学研究), 2019 Nr. 5, S. 136 ff. (130–144).
  15. 15 Siehe Mitteilung über die erste Weiterbildung zu Wiederherstellung von sanktionsindizierenden SCS-Informationen in der Stadt Shanghai (关于举办上海市首期行政处罚信息信用修复专题培训的通知) vom 14.8.2019, das auf der Rechtsgrundlage der Mitteilung zur Wiederherstellung des Credit-Rankings bei SCS-Verfehlungen durch regionale SCS-Datenbanken und Verwaltungen sowie die Vervollkommnung der Nationalen SCS-Datenbank (关于进一步完善’信用中国’网站及地方信用门户网站行政处罚信息信用修复机制的通知) durch das Büro der Nationalen Kommission für Entwicklung und Reform (国家发展改革委办公厅), AktenZ Reformkommission Finanzen (2019) Nr. 527 (发改办财金 (2019) 527号).
  16. 16 Siehe zu diesem Problem zB Geert Hofstede, Culture’s Consequences. Comparing Values, Behaviour’s, Institutions, and Organizations across Nations, Thousand Oaks (Cal.), London: Sage, 2003, S. 30 ff.
  17. 17 Siehe Fn 7.
  18. 18 Dies ist eines der genuinen Ziele, die zur Einführung des SCS führten; der Beschluss des 18. Parteitags der KP Chinas, der den Aufbau entsprechender Strukturen verlangt, spricht an erster Stelle von Verlässlichkeit der Verwaltung (行政诚信), bevor er von Verlässlichkeit des Handels (商务诚信) etc. spricht. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Meinung der Staatsratskanzlei bezüglich des Aufbaus eines Ratingsystems für staatliche Services zur Verbesserung des Niveaus staatlicher Services (国务院办公厅关于建立政务服务’好差评’制度提高政务服务水平的意见), AktenZ Staatsrat Kanzlei Entwicklung (2019) Nr. 51 (国办发 (2019) 5号) vom 17.12.2019.
  19. 19 Zur Diskussion des Entwurfs zur Novellierung des Verwaltungsbußgesetzes der VR China (中华人民共和国行政处罚法修正案), siehe den Bericht über die Anhörung zum Entwurf der Novellierung des Verwaltungsbußgesetzes der VR China und zur Novellierung des Abfallregulierungsgesetzes der Stadt Beijing durch die Juristische Vereinigung der Stadt Beijing (北京市法学会举行《中华人民共和国行政处罚法》修正案、《北京市生活垃圾管理条例》 修正案(草案送审稿)立法论证会), Bericht vom 4.11.2019, http://www.bj148.org/wq/szfdw/201911/t20191113_1540609.html, zuletzt aufgerufen am 5.1.2020.
  20. 20 Chinesisches Außenhandelsgesetz (中华人民共和国对外贸易法) in der Fassung vom 7.11.2016.