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Recht Digital: Kreis oder Pfeil?

50 Jahre Rechtsinformatik – 25 Jahre IRIS – Und wie weiter?

  • Author: Rolf H. Weber
  • Category of articles: Digital Law
  • Region: Switzerland
  • Field of law: Legal Informatics
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2022
  • DOI: 10.38023/b3d12386-3adb-4ed0-a87f-e03f576bca13
  • Citation: Rolf H. Weber, Recht Digital: Kreis oder Pfeil?, in: Jusletter IT 24 February 2022
Der interdisziplinäre Ansatz der Rechtsinformatik ist 50 Jahre alt. Mit Verästelungen in das Informationsrecht hat die Digitalisierung die normative Ordnung zwischenzeitlich durchdrungen. Regeln sind z.T. auch als technischer Code, der bestimmte Vorgänge automatisch ablaufen lässt, vorhanden. Parallel dazu nimmt die Künstliche Intelligenz ursprüngliche Konzepte der Rechtsinformatik auf, mit dem Ziel, ein konfliktfrei funktionierendes automatisiertes Regelungssystem zu verwirklichen. Diese Entwicklungen zwingen das Recht dazu, die gesellschaftliche Steuerungsaufgabe neu zu überdenken.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Ursprünge der Rechtsinformatik
  • 2.1. Interdisziplinäre Anfänge
  • 2.2. Kernaufgaben der Rechtsinformatik
  • 3. Mannigfaltige Fortentwicklungen
  • 4. Wie nun weiter?
  • 4.1. «Code is Law» und «Law is Code»
  • 4.2. Künstliche Intelligenz als neue Rechtsinformatik?
  • 4.2.1. Wesen und Funktionen von Künstlicher Intelligenz
  • 4.2.2. Revitalisierung früherer Erkenntnisse
  • 5. Ausblick
  • 6. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]

Wenn heute das Schlagwort «Recht DIGITAL» verwendet wird, steht eine Reflexion über die Auswirkungen neuerer Technologien auf das Recht zur Diskussion. Nicht übersehen lässt sich aber, dass die Rechtsinformatik i.S.v. «Computer und Recht» bereits 50 Jahre alt ist. Der interdisziplinäre Ansatz bohrt also seit fünf Jahrzehnten die harten Bretter bzw. den sehr harten Stahl der traditionellen Rechtswissenschaft.1 Doch selbst wenn sich die Rechtsinformatik nicht sehr breit an den Universitäten durchgesetzt hat, ist doch einiges erreicht worden und trägt die Distributed Ledger Technology (DLT) neu zu einer Stärkung der Bewegung bei.

[2]

Die parallelen Welten des realen Handelns und der Aktivitäten im Cyberspace stellen neue Herausforderungen. Die Rechtsinformatik ist den Kinderschuhen entwachsen, bedarf aber – wie das nachfolgend geschilderte Narrativ ihrer Entwicklung zeigt – immer wieder der Adjustierung an neue Bedürfnisse. Die modernen Technologien haben auch die zwei Ausprägungen von «Code» und «Law» einander immer nähergebracht; neben der Gleichung «Code is Law» (1999) entwickelt sich die Gleichung «Law is Code» (2016). Daraus ergibt sich die Frage nach dem «Wie weiter?».

[3]

Der nachfolgende Beitrag schildert die Ursprünge der Rechtsinformatik und deren Kernaufgaben, gefolgt von einer Darstellung der Weiterentwicklungen des Geflechts von Informationstechnologie und Recht. Die Überlegungen fliessen in die heutige Standortbestimmung ein, die analysiert, welche technologie- und rechtsbezogenen «Netzwerke» künftig eine zentrale Bedeutung erlangen dürften.

2.

Ursprünge der Rechtsinformatik ^

2.1.

Interdisziplinäre Anfänge ^

[4]

Hauptträger der ursprünglichen Bewusstmachung der Bedeutung von Informatik und Recht sind zwei deutsche Professoren gewesen, die neben dem Recht auch eine Ausbildung in anderen Disziplinen (z.B. Psychologie, Mathematik) hatten, nämlich Wilhelm Steinmüller und Herbert Fiedler. Ihre interdisziplinär angelegten Schriften sind der Frage nachgegangen, inwieweit und in welcher Art die Technik des Rechtsanwendungsprozesses für den Computereinsatz geeignet gemacht werden könnte.2

[5]

Steinmüller hat gestützt auf das Gedankengut der damals blühenden Universaldisziplin der Kybernetik von Norbert Wiener,3 die sich an den theoretischen Ideen von Information, Regelung und Algorithmierung ausrichtete, bereits vor gut 50 Jahren (1969) eine Rechtsinformatik-Vorlesung gehalten. 1970 ist auf dieser Grundlage das Lehrheft «EDV und Recht» mit dem Untertitel «Einführung in die Rechtsinformatik» erschienen.4 Steinmüller hat auch eine «Systematik» der Rechtsinformatik entworfen, die sich mit der Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) für das Recht und der Bedeutung des Rechts für die EDV auseinandersetzte. In der völlig neu gestalteten zweiten Auflage des Lehrheftes (1976) ist es zu einer Titelanpassung gekommen, nämlich «ADV und Recht – Einführung in die Rechtsinformatik und das Recht der Informationsverarbeitung», d.h. die algorithmischen Aspekte und damit die «Automatisierung» haben einen grösseren Stellenwert erfahren.5 Stärker in den Vordergrund getreten sind demzufolge die Einsatzmöglichkeiten und -bedingungen der Computer im Recht und zugleich die Auswirkungen der Informationstechnik.6 Die gesammelten Erkenntnisse von über 20 Jahren Erfahrung mit der Rechtsinformatik hat Steinmüller kurz vor seiner Emeritierung im Buch «Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die Angewandte Informatik» zusammengefasst (1993) und eine integrierte «Informationstechnologiepolitik» entworfen.7

[6]

Fiedler lehrte an der Universität Bonn ab 1970 die Fächer «Juristische Informatik» und «Allgemeine Rechtslehre»; zugleich leitete er die von ihm neu eingerichtete «Forschungsstelle für juristische Informatik und Automation». Da die Computersprache grundsätzlich «nur» ja/nein-Antworten erlaubt, ist das System so auszugestalten, dass Entscheid-Strukturen in dieser bipolaren Weise möglich sind.8 Der Computer würde also im Idealfall, gestützt auf den eingegebenen Sachverhalt, die Rechtslage eruieren, wie Fiedler, der während Jahren der IRIS eng verbunden gewesen ist,9 diagnostizierte. Ein zentrales Anliegen der Rechtsinformatik war und ist das Bemühen, Rechtsregeln zu formalisieren; nach Fiedler lässt sich erst mit der Formalisierung jene Abstraktionshöhe erreichen, die den Übergang zur Automation schafft.10

2.2.

Kernaufgaben der Rechtsinformatik ^

[7]

Das Recht muss sich mit der elektronischen Datenverarbeitung gemäss dem ursprünglichen Konzept in zweierlei Hinsicht auseinandersetzen:11

  • Von Bedeutung ist die rechtliche Behandlung des Computers und seiner Anwendungsmöglichkeiten nach geltendem Recht und in rechtspolitischer Hinsicht, was deshalb Herausforderungen nach sich zieht, weil die Rechtsinformatik eine Querschnittsmaterie über alle denkbaren juristischen Bereiche hinweg darstellt.
  • Von Interesse sind die Anwendungsmöglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung für die Rechtspraxis, d.h. die EDV lässt sich als Hilfsmittel in der Rechtswissenschaft einsetzen.
[8]

Unterstützung rechtlicher Arbeit durch die EDV bedeutet, dass ein Einsatz zur Lösung von Informations- und Dokumentationsproblemen bei der Rechtsanwendung denkbar ist; ein zweiter Schritt betrifft die automatisierte Entscheidungsfindung.12 Beide denkbaren Richtungen haben die Weiterentwicklungen der Rechtsinformatik geprägt.

[9]

Die Rechtsinformatik lässt sich auch in der Metaphorik der Bauingenieure abbilden, und zwar nach Steinmüller wie folgt:13

 

I Der Bauplan: Angewandte Informatik
II Das Baumaterial: Information
III Das Gebäude: Informationssystem
IV Die Umwelt: Informationssystem-Folgen
V Die Baukunst: Informationssystem-Gestaltung

Rechtsinformatik in der Metaphorik der Bauingenieure (nach Steinmüller)

[10]

Gestützt darauf lässt sich eine Computer-Architektur bzw. eine Systemarchitektur entwickeln, die eine Grundlage der rechtsanwendenden Prozesse zu bilden vermag.

3.

Mannigfaltige Fortentwicklungen ^

[11]

Wie einleitend erwähnt, sind die Bemühungen der frühen Rechtsinformatiker vorerst an den Universitäten nicht auf sehr fruchtbaren Boden gefallen (d.h. der Fussabdruck in der Rechtslandschaft ist bescheiden geblieben). Vielmehr bestand Argwohn mit Blick auf das «Risiko», das Recht zu einer technologischen und nicht mehr vornehmlich zu einer wertenden Wissenschaft zu machen.14 Immerhin ist bemerkenswert, dass gut 10 Jahre nach der Einrichtung erster Lehrgänge zur Rechtsinformatik die Gründung der Zeitschrift «Computer & Recht» als der ältesten Zeitschrift zum IT-Recht im deutschsprachigen Bereich erfolgte (1982).

[12]

Hernach hat das Fach Rechtsinformatik in der durch die juristische Denkweise und Dogmatik geprägten Rechtswelt den Charakter eines Fremdkörpers mehr und mehr verloren und eine grössere Bedeutung in der rechtswissenschaftlichen Ausbildung erlangt.15 In den neunziger Jahren sind die Beschäftigungsfelder und Publikationen von Erich Schweighofer zur automatischen Textanalyse und zu den Information Retrieval-Systemen als weiterer Schub für die Rechtsinformatik wegweisend gewesen.16 Mit der Durchführung des Internationalen Rechtsinformatik Symposions (IRIS) seit 25 Jahren hat die Rechtsinformatik definitiv einen Stellenwert erlangt, der aus der juristischen Welt nicht mehr wegzudenken ist.17

[13]

Als Elemente solcher Entwicklungen, die das Recht DIGITAL vermehrt prägen, lassen sich nennen:18

  • Einsatz von algorithmischer Software bei der Rechtsausübung (Künstliche Intelligenz, Machine Learning);
  • Ausbau der Technologien, welche den Umgang mit oder den Zugang zum Recht automatisieren, erleichtern und erheblich verändern;
  • Verwendung von Datenverarbeitungsmethoden, die das Rechtssystem, die Rechtsberatung, die Rechtsdienste und die juristischen Arbeitsprozesse unterstützen oder ganz automatisch durchführen.
[14]

Immerhin lässt sich nicht übersehen, dass ein Strang des Rechtsinformatik-Denkens in die Richtung des «Informationsrechts» abgezweigt ist; dieser – vorliegend nicht weiter zu vertiefende19 – Gedankenansatz strebt eine Systematisierung aller der mit der Information zusammenhängenden Rechtskonzepte in einer konzeptionellen Gesamtschau (unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Steuerungs- und der Strukturationstheorie) an.

[15]

Zugleich hat die Technologie seit der Gründung der IRIS vor 25 Jahren zu gewaltigen Veränderungen geführt: Neben den «traditionellen» elektronischen Hilfsmitteln wie Servern und Datenbanken ermöglichen die neuen Internet-Netzwerke auch den Einsatz von Mobiltelefonen, Laptops und Apps, die den Datenaustausch stark zu erweitern vermögen.20 Rechtliche Transaktionen spielen sich deshalb immer mehr im Cyberspace ab, nicht zuletzt gestützt auf die Distributed Ledger Technology, die den Handlungsspielraum für den Austausch digitaler Werte erneut erheblich erweitert hat.

4.

Wie nun weiter? ^

[16]

Zwei Erscheinungen haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, nämlich die technologische Determinierung von Rechtsregeln und die Übertragung von Aufgabenerfüllungen an die Künstliche Intelligenz. Die damit einhergehenden Auswirkungen auf das Recht sind nachfolgend genauer zu betrachten.

4.1.

«Code is Law» und «Law is Code» ^

[17]

Vor gut 20 Jahren (1999) hat Lawrence Lessig in seinem berühmten Buch «Code and other Laws of Cyberspace», das sich mit den theoretischen Grundlagen der Internetregulierung beschäftigt, den berühmten Satz geprägt: «Code is Law».21 Als viertes Element neben (i) dem Markt, (ii) dem Recht und (iii) den sozialen Normen erachtet Lessig auch (iv) die (technologische) Architektur als Gestaltungselement des gesellschaftlichen Lebens.22 Die Botschaft lautet, dass der «Code» ähnlich wie das Recht in der Lage ist, menschliches Verhalten zu regulieren. Lessig hat denn auch im Jahre 2006 klargestellt, dass «Code» nicht gleich Recht ist, sondern nur vergleichbare Funktionen erfüllen kann.23

[18]

Verschiedene Beispiele zeigen, dass technische Vorkehrungen tatsächlich rechtliche Anordnungen zu ersetzen versuchen. Weil etwa die Urheberrechtsregeln in der Internetwelt nur beschränkt wirksam sind (limitierte Möglichkeiten, individuelle Downloads und Uploads zu verhindern), hat die Industrie in der Form der sog. «Digital Rights Management Systems» technische Rahmenbedingungen entwickelt, die den Zweck verfolgen, den Schutz von Urheberrechten zu verbessern.24 Geschaffen werden dadurch «trusted systems» auf technologischer Grundlage.25 Deren Problematik besteht aber darin, dass insoweit die «Regulierungskompetenz» vom Staat auf nicht demokratisch gewählte Private übergeht.26

[19]

Der erweiterte Einsatz der Distributed Ledger Technology in den letzten Jahren, insbesondere die Möglichkeit, Transaktionen auf der Basis von sog. Smart Contracts abzuwickeln, hat zu einem Paradigmenwechsel geführt.27 Der Vertrag als rechtliches Instrument wird beim Smart Contract in der Form einer technischen Formel ausgedrückt, d.h. die programmierte Computerroutine ersetzt die Vertragssprache.28 Verkürzt lässt sich deshalb sagen: «Law is Code».29 Ein solcher Paradigmenwechsel verändert indessen die gesellschaftlichen Verhältnisse stärker als die Inversion des Satzes glauben machen möchte.

[20]

Rechtsregeln sind grundsätzlich in transparenter Weise und in einem demokratischen Verfahren auszuarbeiten und in Kraft zu setzen. Technologische Rahmenbedingungen gründen demgegenüber auf von Privaten entwickelten Artefakten und technischen Prozessen; die Berücksichtigung sozialer Werte ist deshalb nicht sichergestellt.30 Diese Einschätzung zeigt sich schon in dem auf die römische Zeit zurückgehenden Vertragsrecht: Soziale Zielsetzungen wie die Verwirklichung von guten Sitten und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stellen Einschränkungen der sonst privatautonom ausgerichteten Gestaltungsfreiheit der Vertragsparteien dar; der Code bzw. die Computerroutine vermag aber solche Wertungen im Einzelfall nicht vorzunehmen.31 Überdies wäre genauer zu analysieren, welche Folgen sich aus technologisch determinierten «Verfahren» für das Verständnis von Recht ergeben könnten.

[21]

Das Recht dient – konzeptionell betrachtet – der Regelung menschlicher Beziehungen; Rechtsnormen werden von Menschen für Menschen geschaffen.32 Wenn nun aber «Law is Code» gilt, tritt die Technologie an die Stelle des Menschen.33 Damit das Recht seine Gestaltungsfunktion behält und zu vermeiden vermag, dass technologisch disruptive Potentiale in der Hand nicht verantwortungsbewusster Privater das soziale Zusammenleben untergraben, ist die normative Ordnung so festzulegen, dass die grundlegenden gesellschaftlichen Steuerungsfaktoren in der Hand demokratisch legitimierter «Vertreter» bleiben.34

4.2.

Künstliche Intelligenz als neue Rechtsinformatik? ^

4.2.1.

Wesen und Funktionen von Künstlicher Intelligenz ^

[22]

Künstliche Intelligenz (KI) vermag in den verschiedensten Bereichen die Gestaltung von Lebens- und Rechtsverhältnissen zu vereinfachen. Basierend auf Algorithmen als in Einzelschritte zerlegte Handlungsanweisungen zur Lösung einer bestimmten Aufgabenstellung besteht Künstliche Intelligenz aus einer in Programmsprache gegossenen Anzahl klar definierter Abwicklungssequenzen, die für die Computerhardware in Maschinensprache übersetzt werden.35 Technische Abläufe lassen sich somit programmieren und menschliche Interventionen erweisen sich insoweit im programmierten Kontext als überflüssig. Phänomenologisch betrachtet zeichnen sich deterministische Algorithmen dadurch aus, dass mangels Änderung der Entscheidungsprozesse dieselben Inputs immer zu denselben Outputs führen; selbstlernende Algorithmen (Machine Learning) modifizieren hingegen ihre Entscheidungsprozesse anhand der verwendeten Daten.36

[23]

Zwar sind Systeme der Künstlichen Intelligenz oft schneller, kosteneffizienter und inhaltlich durchaus meist weniger fehleranfällig, doch besteht auch das Risiko, dass vorprogrammierte Software einzelne Handlungen ausführt, die ohne menschliche «Kontrolle» ablaufen und dadurch zu sachlich unerwünschten Ergebnissen führen (Problem der «Blackbox»).37 Im Vordergrund stehen als Hauptrisiken (i) die Intransparenz der Entscheidungsprozesse, (ii) das Problem von materiell nicht begründbaren Diskriminierungen und (iii) die Herausforderungen wegen ungerechtfertigt entstehender Unfairness.38

[24]

Soweit die Künstliche Intelligenz einzelne Aufgaben übernimmt, die bisher von juristisch ausgebildeten Personen ausgeführt worden sind,39 tritt eine ähnliche gesellschaftspolitische Situation wie vor 50 Jahren im Rahmen der Einführung der Rechtsinformatik ein:40 Wie weit darf, kann und/oder soll die Technik das menschliche Handeln ersetzen? Wird aus der wertenden Wissenschaft gegebenenfalls eine mathematisch-technologisch orientierte Disziplin?

[25]

Daraus ergeben sich Folgefragen: Stehen wir vor der Aufgabe, dieselben Probleme, die uns bereits vor einem halben Jahrhundert mit Bezug auf die Rechtsinformatik beschäftigt haben, erneut zu bewältigen? Inwieweit weichen die Herausforderungen der beiden technologischen Ereignisse voneinander ab? Lassen sich frühere Erkenntnisse auf die heutige Zeit übertragen? Erstaunlicherweise scheint das schon sehr umfangreiche Schrifttum zur Künstlichen Intelligenz solchen Fragstellungen nicht nachzugehen.

4.2.2.

Revitalisierung früherer Erkenntnisse ^

[26]

Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz vom 21. April 202141 enthält sehr detaillierte Regulierungsvorschriften, die dazu beitragen sollen, die durch KI-Systeme verursachten Risiken mittels verschiedenster Vorkehren zu minimieren. Der (exklusiv) risikobasierte Ansatz ist aber nicht frei von Problemen und Widersprüchen.42 In ähnlicher Weise ist vor 50 Jahren über die schwer fassbaren Risiken der Rechtsinformatik gesprochen worden. Wie schon damals werden auch heute alternative Regulierungsansätze wie z.B. ein an Individualrechten orientiertes Modell oder der Ansatz einer Kosten-/Nutzenanalyse weitgehend ausgeblendet.43 Gegen den allein risikobasierten Ansatz spricht zudem, dass er weder völlig technologieneutral noch wirklich nachhaltig ist, weil die Entwicklung im Bereich der KI rasch voranschreitet und die detaillierte Regelung der Technologie bald zu veralten droht. Zudem lässt sich nicht übersehen, dass der regulatorische Handlungsbedarf gegebenenfalls gar nicht so umfassend ist wie oft (z.B. auch von der EU-Kommission) angenommen, weil bereits bestehende Normen (z.B. im Datenschutz- und Haftungsrecht), die sich analog anwenden lassen, zur Verfügung stehen.44

[27]

Wichtig ist unter regulatorischen Gesichtspunkten bei der Künstlichen Intelligenz – neben der Schaffung grösstmöglicher Transparenz – insbesondere die Verwirklichung der Grundsätze der Nachvollziehbarkeit und der Accountability: Diejenigen Personen, die durch auf Künstlicher Intelligenz basierende Abwicklungs- und Entscheidungsprozesse betroffen sind, müssen in die Lage versetzt werden, die Vorgänge mit Bezug auf eigene Daten vollumfänglich zu verstehen. Die verantwortlichen Personen sind gegengleich zu verpflichten, für die Sachgemässheit der eingesetzten KI-Programme einzustehen.45

[28]

Modelltheoretisch müsste zudem mit Blick auf die Entwicklung harmonisierter Standards und Verhaltensrichtlinien dem in den letzten Jahren vermehrt diskutierten Ansatz der Co-Regulierung verstärkt zum Durchbruch verholfen werden; die gemeinschaftliche Entwicklung von normativen Rahmenbedingungen durch staatliche Stellen sowie durch Private (Individualpersonen und Unternehmen) im Sinne von Soft Law erweist sich im Kontext der Künstlichen Intelligenz oft als sinnvoll.46

[29]

Der Eindruck, dass sich der Kreis bis zu einem gewissen Grad wieder schliesst, da ähnliche Herausforderungen (z.B. Intransparenz, Diskriminierung) wie bei der Einführung der Rechtsinformatik vor 50 Jahren auch heute bei der Künstlichen Intelligenz auftreten, lässt sich somit nicht vollständig wegdiskutieren. Ungeachtet zukunftsweisender Technologien bleibt deshalb auch die Disziplin der Geschichte bzw. der Rechtsgeschichte von Bedeutung: Aus den vor 50 Jahren gemachten Erfahrungen sind die sachgerechten Lehren zu ziehen.

[30]

Neue Horizonte öffnen sich indessen insoweit, als es in der heutigen Zeit zu einer Vernetzung nicht nur von verschiedenen Rechtsordnungen, sondern insbesondere auch von verschiedenen Technologien gekommen ist. «Recht DIGITAL» ist in diese neuen Umgebungen einzubetten. Der Kreis allein zurück zur Rechtsinformatik vermag die Rechtslandschaft dementsprechend nicht ausreichend zu beschreiben; Wege in zukunftsorientierte Richtungen, initiiert vor allem durch technologische Entwicklungen, sind weiter zu verfolgen. Die Zahl der Wege ist nicht beschränkt, die Bewegungspfeile vermögen also viele neue Horizonte abzudecken.

5.

Ausblick ^

[31]

Vor 50 Jahren hat die Rechtsinformatik als neu geborenes (interdisziplinäres) Kind die traditionelle Rechtswissenschaft «erschüttert». Die Jugendzeit des Faches verlief eher schleppend, hat aber vor 25 Jahren durch die IRIS einen zusätzlichen Schub erlebt. Zwischenzeitlich lässt sich sagen, dass die Disziplin «Computer und Recht» etabliert ist und nun oft unter dem Begriff «Recht DIGITAL» segelt. Code-basierte Regeln machen dabei das Recht von der Technologie abhängig. Die Künstliche Intelligenz verschiebt menschliches Verhalten ebenfalls in den automatisierten Softwarebereich.

[32]

Das Recht steht ohne Zweifel vor neuen Herausforderungen; Normen müssen verstärkt eine soziale Gestaltungsaufgabe übernehmen. Insbesondere sind die Rahmenbedingungen neuer technologischer Entwicklungen in sinnvoller Weise normativ festzulegen und es ist sicherzustellen, dass wichtige Bereiche für menschliches Handeln und wertende Entscheidungen erhalten bleiben. Die Erfahrungen der letzten 50 Jahre haben gezeigt, dass interdisziplinäre Projekte und Vorgehensweisen erfolgversprechend sind. Bei der Realisierung der konkreten Aufgabenerfüllung kommt dementsprechend den künftigen IRIS-Symposien weiterhin eine wichtige Funktion zu.

6.

Literatur ^

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Wiener, Norbert, Cybernetics or Control and Communication in the Animal and in the Machine, Cambridge MA 1948.

  1. 1 In diesem Sinne der Titel und die Ausschreibung für die 25. IRIS vom 23.–26. Februar 2022.
  2. 2 Vgl. auch Weber, Rechtsinformatik, S. 8.
  3. 3 Wiener, S. 39, hat den Begriff „Kybernetik“ erstmals 1948 verwendet.
  4. 4 Steinmüller, EDV und Recht.
  5. 5 Steinmüller/Eberle, ADV und Recht.
  6. 6 Vgl. auch Garstka, S. 16 f.
  7. 7 Steinmüller, Informationstechnologie.
  8. 8 Fiedler/Barthel/Voogd.
  9. 9 Schweighofer/Lachmayer, Rz. 5; der Tagungsband der IRIS 2016 ist Fiedler gewidmet und dessen Einleitung enthält eine Würdigung seiner Verdienste (S. 37 ff.).
  10. 10 Schweighofer/Lachmayer, Rz. 7.
  11. 11 Vgl. auch Forstmoser, S. 3.
  12. 12 Weber, IT-Recht, Rz. 9 f.
  13. 13 Coy, S. 95.
  14. 14 Vgl. auch Forstmoser, S. 9–12 m.w.Verw.
  15. 15 Weber, Rechtsinformatik, S. 9.
  16. 16 Vgl. Schweighofer, Wissensrepräsentation, und Schweighofer, Rechtsinformatik.
  17. 17 Weber, IT-Recht, Rz. 24 f.
  18. 18 Weber, Digitalisierung, S. 8 f.
  19. 19 Eine detaillierte Darstellung findet sich in Weber, IT-Recht, Rz. 11 ff.
  20. 20 So auch die Ausschreibung für die 25. IRIS vom 23.–26. Februar 2022.
  21. 21 «Code is Law» ist eine Titelüberschrift (Lessig, Code, S. 3).
  22. 22 Lessig, Code, S. 87 ff., S. 93.
  23. 23 Lessig, Code 2.0, S. 324.
  24. 24 Vgl. Bechtold, S. 1 ff.
  25. 25 Weber, Rose is a rose, S. 704.
  26. 26 Lessig, Code, S. 206.
  27. 27 Vgl. schon Weber, Rose is a rose, S. 703 f.
  28. 28 Weber, Smart Contracts, S. 293 f.
  29. 29 Vgl. De Filippi/Hassan, S. 8 f. Zurückhaltender kürzlich, mit technologischer Begründung, Richard Tromans, Law Isn’t Code – And That’s a Good Thing, Artificial Lawyer, September 27, 2021, https://www.artificiallawyer.com/2021/09/27/law-isnt-code-and-thats-a-good-thing/.
  30. 30 Weber, Rose is a rose, S. 705.
  31. 31 Weber, Rose is a rose, S. 705.
  32. 32 De Filippi/Hassan, S. 11.
  33. 33 Entsprechende Bedenken hat Lessig schon im Jahre 2006 geäussert (Lessig, Code 2.0, S. 6): «[The Code] will present the greatest threat to both liberal and libertarian ideals, as well as their greatest promise. We can build, or architect, or code cyberspace to protect values that we believe are fundamental. Or we can build, or architect, or code cyberspace to allow those values to disappear. There is no middle ground. There is no choice that does not include some kind of building. Code is never found; it is only ever made, and only ever made by us.»
  34. 34 Weber, Rose is a rose, S. 705 f.; Walter, Rz. 19, hat dabei schon vor knapp 20 Jahren darauf hingewiesen, dass im Recht nicht nur das Retrospektive, sondern auch das kreativ Prospektive von zentraler Bedeutung ist.
  35. 35 Vgl. Weber/Henseler, S. 29 m.w.Verw.
  36. 36 Dazu Martini, S. 19.
  37. 37 Vgl. Martini, S. 27 ff.
  38. 38 Vgl. Castelluccia/Le Métayer, S. 43; Weber/Henseler, S. 29 f.
  39. 39 Eingehend dazu Weber, Digitalisierung, S. 8 ff.
  40. 40 Vgl. Forstmoser, S. 9–12.
  41. 41 SEC(2021) 167 final, COM(2021) 2006 final.
  42. 42 Vgl. Spindler, Rz. 84.
  43. 43 Vgl. Weber, Artificial Intelligence, S. 496.
  44. 44 Vgl. auch Braun Binder/Burri/Lohmann/Simmler/Thouvenin/Vokinger, Rz. 54 ff.
  45. 45 Vgl. auch Veale/Zuiderveen Borgesius, Rz. 33 ff.
  46. 46 Weber, Artificial Intelligence, S. 496; vgl. allgemein zur Co-Regulierung auch Marsden/Meyer/Brown, S. 9.