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Entwicklung eines digitalen Basisdokuments

  • Authors: Bettina Mielke / Christian Wolff
  • Category of articles: E-Justice
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Justice
  • DOI: 10.38023/0696d792-d5d8-4367-bc5f-0671da892bf2
  • Citation: Bettina Mielke / Christian Wolff, Entwicklung eines digitalen Basisdokuments, in: Jusletter IT 31 May 2022
Der Beitrag berichtet über Ergebnisse eines Pilotprojekts, das zum Ziel hat, auf der Basis des Vorschlags der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses für ein Basisdokument im deutschen Zivilprozess Prototypen zu entwickeln. Im Mittelpunkt steht die nutzerzentrierte Entwicklungsmethodik (User-Centered Design), wobei ein Schwerpunkt auf der zielgruppenspezifischen Erhebung von Anforderungen von Anwält*innen und Richter*innen liegt. Als Ergebnis sind teilfunktionale Prototypen entstanden, für die unterschiedliche Sichten für Anwält*innen und Richter*innen umgesetzt wurden. Ergänzend wurde ein Animationsfilm erstellt, der die wichtigsten Ideen und Ergebnisse zusammenfasst.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Problemstellung und Herangehensweise
  • 2.1. Entwicklungsmethodik
  • 2.2. Materialgrundlage
  • 3. Anforderungsmanagement (Requirements Engineering)
  • 3.1. Anforderungsermittlung für die richterliche Perspektive
  • 4. Iteratives Prototyping für ein Richter-Basisdokument
  • 5. Anwaltliche Perspektive
  • 6. Entwicklung eines Animationsfilms
  • 7. Ausblick
  • 8. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]

Der Hintergrund für das nachfolgend beschriebene Pilotprojekt ist das Diskussionspapier der von den Präsident*innen der Oberlandesgerichte und dem Bundesgerichtshof eingesetzten Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses unter Leitung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg Dr. Thomas Dickert, das den Vorschlag für ein Basisdokument als weitgehender Strukturierungsmöglichkeit im Zivilprozess enthält (Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses 2021, S. 31ff). Aus diesem Anlass hat sich an der Universität Regensburg eine interdisziplinäre Projektgruppe gebildet, die zum einen aus Mitarbeiter*innen1 des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Verfahrensrecht, Internationales Privatrecht sowie außergerichtliche Streitbeilegung (Prof. Althammer), an dem auch die Forschungsstelle „Digitalisierung des Verfahrensrechts“ angesiedelt ist, und zum anderen aus Mitarbeiter*innen2 des Lehrstuhls für Medieninformatik (Prof. Wolff) besteht. Ziel der Kooperation ist, am konkreten Beispiel der Vorschläge für ein Basisdokument Kompetenzen aus Rechtswissenschaft und (Medien-)Informatik zusammenzuführen und fruchtbar zu machen. Teil der Projektgruppe sind zudem drei Richter*innen des Oberlandesgerichts Nürnberg.3 Die unten beschriebene Entwicklung und Umsetzung der Prototypen erfolgte durch zwei studentische Arbeitsgruppen im Master of Science Medieninformatik.4 Die Arbeiten fanden von April bis Oktober 2021 statt und konnten im Oktober mit der Fertigstellung eines Animationsfilms (siehe Kap. 6) einen ersten Schlusspunkt erreichen einschließlich seiner öffentlichen Präsentation beim Staatsempfang des bayerischen Justizministers aus Anlass des Zivilrichtertags 2021 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg.

2.

Problemstellung und Herangehensweise ^

[2]

Aus der Literatur sind bereits zahlreiche Vorschläge für bessere Strukturierungsmöglichkeiten des Parteivortrags im Zivilprozess bekannt (Mielke/Wolff 2022; Zwickel 2016, 2021). Üblich ist auch, dass Richter*innen bei der Sachbearbeitung das oft umfangreiche und teilweise sehr heterogen strukturierte Material der Schriftsätze in sogenannten Relationstabellen zusammenführen, in denen in mehreren Spalten, die die jeweiligen Vorträge der beiden Parteien aufeinander beziehen, der Sachvortrag neu geordnet wird (Schultzky 2021). An derartigen Aufbereitungsformen orientiert sich auch der Vorschlag für das Basisdokument.

2.1.

Entwicklungsmethodik ^

[3]

Grundsätzlich wäre denkbar gewesen, mit Hilfe geeigneter Innovationsmethoden wie Design Thinking (Brown 2008; Uebernickel et al. 2015) oder Design Sprints (Knapp 2016) voraussetzungslos nach geeigneten Lösungsmöglichkeiten für die Problematik der Komplexitätsreduktion für die Schriftsätze im Zivilprozess zu suchen. Im vorliegenden Fall waren als Ausgangspunkt allerdings die Vorschläge der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses sowie weitere Diskussionsbeiträge aus der Literatur bereits verfügbar und ein sinnvoller Ausgangspunkt. Für die Projektgruppe wurde die nutzerzentrierte Gestaltung im Sinne heutiger Praktiken des Usability Engineering als Herangehensweise ausgewählt. Ziel ist das größtmögliche Maß an Gebrauchstauglichkeit als „das Ausmaß, in dem ein Produkt durch bestimmte Benutzer in einem bestimmten Nutzungskontext genutzt werden kann, um bestimmte Ziele effizient, effektiv und zufriedenstellend zu erreichen“ (DIN EN ISO 9241-110:2020-10). Die Gebrauchstauglichkeit ist dabei ein wichtiger Aspekt des ganzheitlichen Konzeptes der User Experience (Nutzererleben), der in DIN EN ISO 9241-210:2020-03 wie folgt definiert ist: “a person’s perceptions and responses that result from the use or anticipated use of a product, system or service”. Ein hohes Maß an Gebrauchstauglichkeit und eine positive User Experience lassen sich durch systematischen Einsatz mensch-zentrierter Entwicklungsmethoden (User-Centered Design) erreichen, wie sie in DIN EN ISO 9241-210:2020-03 definiert sind. Mensch-zentrierte Gestaltungslehren haben mittlerweile zahlreiche Felder erfasst und werden auch im Rechtswesen aufgegriffen:

“Human-centered design has been a dominant innovation methodology in service industries, from medicine to insurance to finance. It has now come to the legal system, together with movements related to legal technology, legal hacking, and access to justice reform, as a collective legal design movement.” ( Hagan 2020, 3)
[4]

In ersten Diskussionen wurde schnell deutlich, dass insbesondere in der Anwaltschaft nicht unerhebliche Vorbehalte gegenüber verbindlichen Strukturierungsvorgaben bestehen. Diese speisen sich unter anderem aus der Sorge, dass so gegebenenfalls das grundgesetzlich garantierte rechtliche Gehör eingeschränkt werde oder dass bewährte und etablierte kommunikative Praktiken der Anwaltschaft nicht mehr in vollem Umfang umgesetzt werden könnten.5 Aus diesem Grund hat sich die Projektgruppe frühzeitig entschieden, die anwaltliche und richterliche Perspektive jeweils gesondert zu behandeln und die Anforderungen beider Perspektiven systematisch zu erheben.

2.2.

Materialgrundlage ^

[5]

Die Projektgruppe konnte für die Entwicklung der Prototypen mit Originalakten arbeiten. Dazu wurden von den beteiligten Richter*innen drei ausgewählte Fälle bereitgestellt, die typische zivilprozessuale Themen abdecken. Grundlage waren die (anonymisierten) Verfahrensakten (Klage, Klageerwiderung, ggf. Replik, Duplik etc., Anlagen) der drei Fälle:

  • Flugverspätung, Ausgleichsforderung gemäß EU-Fluggastrechteverordnung Nr. 261/2004 aus abgetretenem Recht (Sammelklage)
  • KiTa-Platz, Klage auf Schadensersatz aus Amtshaftung
  • Verkehrsunfall, Klage auf Schadensersatz
[6]

Die Fälle wurden in Arbeitsgruppen einführend erläutert und diskutiert, um die beteiligten Medien-Informatiker*innen an die juristische Materie heranzuführen; sie standen auf einem von der Projektgruppe als Kooperationsplattform genutzten Cloud-Speicher (Microsoft OneDrive) zur Verfügung.

3.

Anforderungsmanagement (Requirements Engineering) ^

[7]

In der Softwaretechnik ist die Ermittlung, Erfassung, Priorisierung und Formalisierung der Anforderungen der Nutzer*innen eine außerordentlich wichtige Phase (Ebert 2019; Rupp 2021). Hier gilt es, die fachliche Perspektive der Nutzer*innen (hier Jurist*innen als Anwält*innen oder Richter*innen) auf technische Lösungsmöglichkeiten abzubilden.

[8]

Die Anforderungserhebung und die Entwicklung der Prototypen übernahmen zwei Arbeitsgruppen aus Studierenden (Master of Science Medieninformatik) bei gleichzeitig intensivem Austausch mit den beteiligten Rechtswissenschaftler*innen. Als Grundlage der nachfolgenden Darstellungen werden die Projektberichte der beiden Gruppen herangezogen (Hahn/Röhr/Sautmann 2021 (Projektbericht Arbeitsgruppe Basisdokument – Richter), Freisleben/Schwarz/Zels 2021 (Projektbericht Arbeitsgruppe Basisdokument – Anwälte)).

3.1.

Anforderungsermittlung für die richterliche Perspektive ^

[9]

Die Arbeitsgruppe Basisdokument – Richter konnte unmittelbar von den Anforderungen ausgehen, die bereits im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses enthalten sind. Dazu gehören unter anderem die grundsätzliche Strukturierung des Parteivortrags, die Verbesserung der Erarbeitung des Sachverhalts aus richterlicher Sicht, Möglichkeiten, die Sachvorträge der Parteien zusammenzuführen, sowie die Funktion des Basisdokuments als gemeinsamer und verbindlicher Grundlage für das gesamte Parteivorbringen. Im Mittelpunkt steht die strukturierte und aufeinander bezogene Darstellung der Sachverhalte und der dazu angebotenen Beweismittel.

[10]

Ergänzend zu den aus dem Abschlussbericht ermittelten Anforderungen wurden weitere Anregungen aus der Analyse bekannter juristischer Publikationsformate gewonnen, beispielsweise die Referenzierung in juristischen Kommentaren über Randnummern. Weitere Anforderungen ergaben sich aus Diskussionen innerhalb der interdisziplinären Projektgruppe. Eine zweite Anforderungsermittlung erfolgte durch leitfadengestützte Interviews (Ullrich 2019) mit den beteiligten Richter*innen sowie einem weiteren Richter, der einem Amtsgericht angehört. Dazu gehörte die Entwicklung eines Interviewleitfadens, der zum Ziel hatte, wesentliche Abläufe der bisherigen Aktenbearbeitung durch Richter*innen im Zivilprozess zu ermitteln und insbesondere herauszuarbeiten, welche Strukturierungsformate wie etwa Relationstabellen die Richter*innen bisher nutzen und welche besonderen Techniken zur Hervorhebung, Strukturierung und Referenzierung der teilweise umfangreichen Inhalte sie verwenden. Auch typographische Aspekte (Hervorhebungen, Überschriften, Einsatz von Farbe und Markierungen) wurden erfragt. Insgesamt erfolgten Interviews mit vier Richter*innen, die jeweils Erfahrungen im Zivilprozess haben und auf unterschiedlichen Ebenen arbeiten (Amtsgericht, Landgericht, Oberlandesgericht). Ergänzend wurde eine Liste technischer Anregungen zusammengestellt, die sich nicht aus den Erfahrungen der juristischen Perspektive speiste, sondern bekannte Funktionalitäten aus Werkzeugen zur Softwareentwicklung, zum Projektmanagement und zur Codeverwaltung (zum Beispiel Versionskontrolle) nutzbar macht. Zum Einsatz kamen Softwaretools wie Asana (webbasiertes IT-Projektmanagementtool, https://asana.com), GitHub (internetbasierte Codeverwaltung mit Versionierung, https://github.com), JIRA (Fehlerverwaltung (issue tracking) und Projektmanagement, https://www.atlassian.com/de/software/jira) oder Replit (browserbasierte kollaborative Softwareentwicklungsumgebung, https://replit.com/). Insbesondere in der gemeinsamen Codebearbeitung ergeben sich offenkundige Strukturähnlichkeiten zu den Zuordnungsaufgaben bei der Aufbereitung des Parteivortrags.

Abbildung 1: Visualisierung der inhaltlich klassifizierten und gruppierten Anforderungen (Ausschnitt; grün: Kategorien, blau/gelb/pink: Farbcodes für Quelle der Anforderung), Quelle: Hahn/Röhr/Sautmann 2021

[11]

Die so ermittelten Anforderungen wurden mithilfe der Visualisierungstechnik des Affinity Diagram (Kawakita 1991; Scupin 1997) und unter Nutzung online verfügbarer Kollaborationswerkzeuge wie Mural (https://www.mural.co/) erstellt, um eine erste Gesamtübersicht zu erzeugen (Abbildung 1). In mehreren Schritten konnte so eine strukturierte und systematisch geordnete Übersicht der Anforderungen generiert werden. Als Ordnungskategorien ergaben sich die Themen Verlinkungen, Strukturierung, Anmerkungen, Versionskontrolle, Nutzungskontext, kollaboratives Arbeiten und Automatisierung, zusätzlich wurden Ideen und Ziele erfasst.

[12]

Die beteiligten Richter*innen unterwarfen diese im Anschluss einer Priorisierung, um die Relevanz und Bedeutung der Anforderungen herauszuarbeiten. Die Anforderungen wurden im Sinne einer agilen Entwicklungsmethodik als User Stories (Lucassen et al. 2015) formuliert, nach Anforderungstypen geordnet und hinsichtlich ihrer Herkunft dokumentiert. Abbildung 2 zeigt einen Ausschnitt aus der Anforderungstabelle. Nachfolgend illustriert in Abbildung 3 je eine User Story Anforderungen für die Bereiche Strukturierung, Verlinkung und Anmerkungen deren Aufbau.

Abbildung 2: Geordnete User Stories als Liste der Anforderungen (Product Backlog), Quelle: Hahn/Röhr/Sautmann 2021

Nr. User Story
2.1.5 Als Richter:in möchte ich streitige und unstreitige Punkte im Basisdokument als solche erkennen können, um dies nicht jedes Mal neu beurteilen zu müssen.
2.2.5 Als Richter:in möchte ich im Basisdokument (bzw. in meinen Anmerkungen) auf Randnummern im Basisdokument verlinken können, um Bezüge herzustellen.
2.3.1 Als Richter:in möchte ich mir Anmerkungen zu dem Basisdokument machen können, ohne dass diese von anderen ohne meine Zustimmung eingesehen werden können.

Abbildung 3: Drei Beispiele für User Stories aus den Bereichen Strukturierung (Nr. 2.1.5), Verlinkung (Nr. 2.2.5) und Anmerkungen (Nr. 2.3.1)

4.

Iteratives Prototyping für ein Richter-Basisdokument ^

[13]

Den Vorgehensweisen der nutzerzentrierten Gestaltung (User-Centered Design, Holtzblatt 2005; Still 2017) entsprechend, erfolgte die Umsetzung der priorisierten Anforderungen in mehreren Phasen: Erste Entwürfe entstanden zunächst als Sketches auf Papier (Paper Prototyping, vgl. Snyder 2003). Eine frühe Einschätzung und Beurteilung ist bereits mit einem derartigen niederschwelligen Entwicklungsprodukt möglich. Im Anschluss wurde ein erster digitaler Prototyp mit dem Prototypingwerkzeug Figma (https://www.figma.com/) generiert. Im Zentrum der richterlichen Sicht steht dabei jeweils die strukturierte Gegenüberstellung der einzelnen Teile des Parteivortrags sowie deren eindeutige Kennzeichnung durch IDs bzw. laufende Nummerierung.

[14]

Da Figma als Prototypingwerkzeug nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten der funktionalen Umsetzung und der interaktiven Ausgestaltung bietet, generierten die Arbeitsgruppen in einer dritten Prototyping-Phase mit Hilfe von Axure einen bereits teilfunktionalen und interaktiven Prototyp als zunächst letzte Entwicklungsphase. Zur methodischen Unterstützung für die Prototypenentwicklung konnten die beiden Projektgruppen an einem online-Sketching-Workshop teilnehmen.

[15]

Abbildung 4 zeigt die Benutzerschnittstelle des Prototyps der Arbeitsgruppe Basisdokument – Richter. Wesentliche Merkmale in diesem Prototyp sind neben der Möglichkeit, die von den Parteien bereits aufeinander abgebildeten Strukturelemente zu sichten und zu bearbeiten, zusätzliche Einbindungsmöglichkeiten (Anmerkungen, Verweise auf Literatur und Normtexte, verschiedene Möglichkeiten der Hervorhebung und Bewertung (zum Beispiel als streitiger Vortrag)). Die Darstellung greift die Vorschläge tabellarischer Relationstabellen auf, die Identifizierung der einzelnen Beiträge befindet sich zusammen mit weiteren Bearbeitungsmöglichkeiten in der Mitte. Die Anmerkungen in der dritten Spalte rechts sind nur für den Bearbeiter sichtbar und nicht Teil des Basisdokuments als gemeinsamer Grundlage.

Abbildung 4: Hauptansicht Basisdokument mit zugeordneten Blindtext-Bausteinen (und Anmerkungen); rechte Spalte: richterliche Bearbeitungsanmerkungen, Quelle: Hahn/Röhr/Sautmann 2021

[16]

Abbildung 5 zeigt einen Entwurf, der illustriert, wie der Prototyp eines Basisdokuments in die Arbeitsumgebung der bayerischen Justiz (elektronisches Integrationsportal (eIP) des IT-Servicezentrums der bayerischen Justiz) eingefügt werden könnte.

Abbildung 5: Entwurf zur Integration des Basisdokuments in das elektronische Integrationsportal (eIP), Quelle: Hahn/Röhr/Sautmann 2021

5.

Anwaltliche Perspektive ^

[17]

Aus Platzgründen gehen wir in der Darstellung hier zunächst von dem Prototyp der Arbeitsgruppe Basisdokument – Richter aus. Die zweite Projektgruppe, die die anwaltliche Perspektive untersucht hat, durchlief grundsätzlich denselben Arbeitsprozess (Anforderungserhebung, insbesondere durch leitfadengestützte Interviews mit insgesamt fünf Anwält*innen, Erfassung, Klassifikation und Gewichtung der Anforderungen mit Affinity Diagrams, Entwicklung von Prototypen in mehreren Schritten). Für den Prototyp Basisdokument – Anwalt war insbesondere wichtig, die bekannten Kritikpunkte der Anwaltschaft aufzugreifen. Diese beziehen sich u.a. auf die Frage, wie sich eine zusätzliche Strukturierung in den anwaltlichen Arbeitsprozess eingliedern lässt. Zudem muss Bedenken, dass eine zu strikte Vorgabe die Möglichkeiten des rechtlichen Gehörs einschränken könnte, Rechnung getragen werden.

[18]

Die hier entwickelte Lösung sieht eine niederschwellige Strukturierungsmöglichkeit durch Überschriften und Absätze vor. Dadurch kann – zumindest bei der Erstellung des ersten Schriftsatzes – mit üblichen Mitteln der Textverarbeitung gearbeitet werden, wobei die weitere Strukturierung dann automatisiert erfolgen kann.

Abbildung 6: Schriftsatzerstellung im Prototyp der Arbeitsgruppe Basisdokument – Anwalt, Quelle: Freisleben/Schwarz/Zels 2021

[19]

Bei der Klageerwiderung liegt der erste Schriftsatz der Klagepartei (neben der Schriftsatzansicht mit einer Strukturierung lediglich mit Überschriften und Absätzen) zwar bereits als strukturiertes Basisdokument vor, die Gegenseite ist aber nicht gezwungen, darauf Bezug zu nehmen, sondern könnte den eigenen Sachvortrag als weitere Punkte in das Basisdokument einfügen. Damit entstünde eine Struktur, in der die einzelnen Sachverhaltsbeiträge noch nicht aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Auszugehen ist aber davon, dass Anwält*innen, sobald ihnen die strukturierte Form zur Verfügung steht, diese auch nutzen werden. Gleichzeitig besteht kein irgendwie gearteter Zwang, eine bestimmte Form der bereits vorhandenen Strukturierung in einem Arbeitsschritt akzeptieren zu müssen. Wann immer Anwält*innen der Meinung sind, die bereits vorhandene Struktur, auf die sie argumentativ reagieren, erweitern oder verändern zu müssen, steht ihnen das frei.

[20]

Anzunehmen ist, dass die grundsätzlichen Strukturierungsmöglichkeiten nicht nur für Richter*innen, sondern auch für Anwält*innen die Arbeit erheblich vereinfachen und damit die angestrebte verbesserte Effizienz im Zivilprozess erreichen können. Zur Evaluation sind aber empirische Studien mithilfe weiterentwickelter Prototypen erforderlich. Die niederschwellige Strukturierung ist mit typischen Arbeitstechniken von Anwält*innen kompatibel, insbesondere Diktat (ggf. mit Spracherkennung) und nachgelagerte Dokumenterstellung durch Unterstützungspersonal.

6.

Entwicklung eines Animationsfilms ^

[21]

Das vorliegende Projekt ist nicht nur ein Beispiel einer aktuellen interdisziplinären Kooperation zwischen Rechtswissenschaft und Medieninformatik, sondern wird durch ein Infrastrukturprojekt zum wissenschaftlichen Transfer (Third Mission) im ostbayerischen Raum begleitet – das Projekt Transfer und Innovation Ostbayern (TRIO, https://www.transfer-und-innovation-ostbayern.de/), das im Rahmen eines bundesdeutschen Förderprogramms Innovative Hochschule (IHS) seit 2017 gefördert wird. Da ein wesentlicher Teil dieses Projektes auch Fragen verbesserter Wissenschaftskommunikation adressiert, war es naheliegend, neue Formen der Aufbereitung und Kommunikation wissenschaftlicher Inhalte zu nutzen.

Abbildung 7: Ausschnitte aus dem Animationsfilm: Schematische Darstellung der Relationierung (oben), Hauptansicht Prototyp Basisdokument (unten)6

[22]

Hier erscheint das Format eines Animationsfilms von wenigen Minuten Dauer als sinnvolle Herangehensweise. Ein entsprechender Film wurde in Kooperation mit TymClyps, einer Amberger Filmproduktionsgesellschaft erstellt (https://tymclyps.de/), wobei die Projektgruppe ein Skript entwickelte, das durch seine fachsprachlich-juristische Prägung explizit an ein rechtswissenschaftliches Fachpublikum gerichtet ist, während sich die visuelle Gestaltung des Films an moderne Standards animierter Kurzfilmformate anlehnt (zur Koppelung von Fachsprache und der Ästhetik moderner visueller Kommunikation vgl. Hahn/Mielke/Wolff 2013).

7.

Ausblick ^

[23]

Die Idee eines Basisdokuments ist nach wie vor umstritten. Erst kürzlich hat sich die Bundesrechtsanwaltskammer mit Blick auf die Koalitionsverhandlungen in Deutschland nach der Bundestagswahl 2021 und das Entwicklungspotential der Digitalisierung im Rechtswesen gegen die Umsetzung eines Basisdokumentes ausgesprochen und stattdessen andere Handlungsfelder empfohlen (Bundesrechtsanwaltskammer 2021).

[24]

Wir gehen davon aus, dass die bisherige Nichtverfügbarkeit lebens- und problemnaher Prototypen maßgeblich zur negativen Bewertung dieser grundsätzlich interessanten Idee beigetragen hat. Insofern ist es ein besonderes Anliegen, durch die hier entwickelten Prototypen und deren mediale Aufbereitung zur weiteren konstruktiven Diskussion um Strukturierungsmöglichkeiten im Zivilprozess beizutragen.

[25]

Zu den nächsten Schritten könnte gehören, die bisherigen Prototypen funktional weiterzuentwickeln, bisher noch nicht verfügbare formale Strukturierungsformate als Grundlage der Dokumentbearbeitung sowie Speicherungs- und Weiterentwicklungsmöglichkeiten des Basisdokuments zu entwerfen. Gleichzeitig ist zu untersuchen, inwieweit Verfahren des Natural Language Processing geeignet sein können, zur automatisierten Strukturierung des Basisdokuments beizutragen, etwa durch automatisches Erkennen inhaltsgleicher oder inhaltsähnlicher Passagen im Sachvortrag der verschiedenen Schriftsätze.

[26]

Mittelfristig sind unterschiedliche Entwicklungspfade denkbar: Vor dem Hintergrund elektronisch verfügbarer (und automatisch analysierbarer) Schriftsätze und Akten im Zivilprozess erscheint die Entwicklung eines Relationierungswerkzeugs für Richter*innen (und ggf. auch Anwält*innen) auch unabhängig von der weiteren Entwicklung des Basisdokuments als eine interessante Forschungs- und Entwicklungsaufgabe. Gleiches gilt für die Frage, inwiefern Verfahren der automatischen Sprachverarbeitung, also klassische KI-Anwendungen, bei der Aufbereitung und Strukturierung helfen können.

8.

Literatur ^

Arbeitsgruppe Modernisierung des Zivilprozesses, Diskussionspapier Modernisierung des Zivilprozesses, hrsg. im Auftrag der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichthofs. OLG Nürnberg, Nürnberg 2021, online: https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/ oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf.

Brown, Tim, Design Thinking, Harvard Business Review, 2008, 86, S. 84–92.

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DIN EN ISO 9241-110:2020-10. Ergonomics of human-system interaction – Part 110: Interaction principles (ISO 9241-110:2020); German version EN ISO 9241-110:2020. Beuth, Berlin 2020.

DIN EN ISO 9241-210:2020-03. Ergonomics of human-system interaction – Part 210: Human-centred design for interactive systems (ISO 9241-210:2019); German version EN ISO 9241-210:2019. Beuth, Berlin 2020.

Ebert, Christof, Systematisches Requirements Engineering: Anforderungen ermitteln, dokumentieren, analysieren und verwalten, dpunkt.verlag, Heidelberg 2019.

Freisleben, Sabrina/Schwarz, Sebastian/Zels, Tobias, Projektdokumentation zur prototypischen Umsetzung des digitalen Basisdokuments – Anwälte. Universität Regensburg, Lehrstuhl für Medieninformatik, Regensburg 2021.

Hagan, Margaret, Legal Design as a Thing: A Theory of Change and a Set of Methods to Craft a Human-Centered Legal System, Design Issues, 2020, 36, S. 3–15.

Hahn, Sebastian/Röhr, Isabell/Sautmann, Marie, Projekt-Log zur prototypischen Umsetzung des digitalen Basisdokuments – Richter. Universität Regensburg, Lehrstuhl für Medieninformatik, Regensburg 2021, online: https://github.com/kindOfCurly/PS-Basisdokument/wiki/Projekt-Log.

Hahn, Tamara/Mielke, Bettina/Wolff, Christian, Juristische Lehrcomics – Anforderungen und Möglichkeiten. In: Erich Schweighofer/Franz Kummer/Walter Hötzendorfer (Hrsg.), Abstraktion und Applikation. Proceedings 16. Internationales Rechtsinformatik-Symposion (IRIS 2013). Österreichische Computer-Gesellschaft (ÖCG), Wien 2013, S. 393–402.

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Kawakita, Jiro, The Original KJ method, Kawakita Research Institute, Meguro, Tokyo 1991.

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Lucassen, Garm/Dalpiaz, Fabiano/van der Werf, Jan Martijn E. M./Brinkkemper, Sjaak (2015), Forging High-quality User Stories: Towards a Discipline for Agile Requirements. Proceedings 2015 IEEE 23rd International Requirements Engineering Conference (RE), S. 126–135.

Mielke, Bettina/Wolff, Christian, Der strukturierte Parteivortrag im Basisdokument (S. 197 in diesem Band).

Rupp, Chris, Requirements-Engineering und -Management: Das Handbuch für Anforderungen in jeder Situation, Hanser, München 2021.

Schultzky, Hendrik, Richter fordern umfassende Modernisierung des Zivilprozesses, MDR, 2021, 75, S. r69–r70.

Scupin, Raymond, The KJ Method: A Technique for Analyzing Data Derived from Japanese Ethnology, Human Organization, 1997, 56, S. 233–237.

Snyder, Carolyn, Paper Prototyping: The Fast and Easy Way to Design and Refine User Interfaces, Morgan Kaufmann, Amsterdam [u.a.] 2003.

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Uebernickel, Falk/Brenner, Walter/Pukall, Britta/Naef, Therese/Schindlholzer, Bernhard, Design Thinking: Das Handbuch, Frunkfurter Societäts-Medien GmbH, Frankfurt/Main 2015.

Ullrich, Carsten G., Das diskursive Interview: Methodische und methodologische Grundlagen, Springer VS, Wiesbaden 2019.

Zwickel, Martin, Die Strukturierung von Schriftsätzen, MDR, 2016, S. 988–992.

Zwickel, Martin, Analoge und digitale Strukturierung und Abschichtung im zivilgerichtlichen Verfahren, MDR, 2021, S. 716–723.

  1. 1 Ass. Jur. Jens Bauer, Ass. Jur. Stefanie Gold, Ass. Jur. Thomas Nix, Ass. Jur. Simon Staimer.
  2. 2 Patricia Böhm, M.A., Victoria Böhm, M.A., Jakob Fehle, M.Sc.
  3. 3 RiOLG Dr. Uwe Frommhold, VRinOLG Dr. Bettina Mielke, VRiLG Dr. Hendrik Schultzky.
  4. 4 Arbeitsgruppe Basisdokument – Richter: Sebastian Hahn, B.A., Isabell Röhr, B.A., Marie Sautmann, B.A., Arbeitsgruppe Basisdokument – Anwälte: Sabrina Freisleben, B.A., Sebastian Schwarz, B.A., Tobias Zels, B.A.
  5. 5 Vgl. dazu die aktuelle Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer vom November 2021: „Die Einführung des Basisdokuments wird abgelehnt, da mit ihr eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, des Beibringungsgrundsatzes und der Dispositionsmaxime verbunden ist.“ (Bundesrechtsanwaltskammer 2021).
  6. 6 Der Animationsfilm wird auf der noch im Aufbau befindlichen Website dieses Kooperationsprojekts verfügbar gemacht werden.