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Gerichtsurteile neu darstellen – Legal Design Thinking anhand eines Bundesgerichtsurteils

  • Author: Vittore Osele
  • Category of articles: Rechtsvisualisierung & Legal Design
  • Category: Next Generation
  • Field of law: LegalTech
  • DOI: 10.38023/545ae468-c1cb-4e50-b5c3-8eb1e49ce3e2
  • Citation: Vittore Osele, Gerichtsurteile neu darstellen – Legal Design Thinking anhand eines Bundesgerichtsurteils, in: Jusletter IT 20 July 2023
This work deals with the question of how federal court decisions can be made more understandable and accessible to non-lawyers through legal design thinking. For this purpose, a randomly selected federal court decision was redesigned. The goal was not to didactically change the decision, but to emphasise the important/decisive points by using bullet points, colouring or bold printing of parts of the sentence. Care was taken to ensure that no relevant arguments of an opposing party were overlooked. A prepared outline of the facts did not add any value, but explanations of legal terms in the footnotes and supplementing the «Regeste» with «key take-aways» helped. It is believed that these methods make an implementation by the court more likely than when the judge or clerk is encouraged to use more commonly understood terms and phrases.

Inhaltsverzeichnis

  • I. Einleitung
  • II. Legal Design Thinking
  • III. Der Legal Design Prozess
  • 1. Team and Cultural Building
  • 2. Research and Unterstanding
  • 3. Synthesize and Define
  • 4. Idea Development
  • 5. Prototyping and Testing
  • 6. Implementation
  • IV. Legally Designed Bundesgerichtsentscheid
  • 1. Team and Cultural Building
  • 2. Research and Unterstanding
  • 3. Synthezise and Define
  • 4. Idea Development
  • 5. Prototyping and Testing
  • V. Fazit
  • Anhang
  • Interview 1:
  • Interview 2
  • Interview 3
  • Interview 4
  • BGE 148 IV 113 neu dargestellt

I.

Einleitung ^

[1]

Um jemanden oder sich selber vor Gericht zu vertreten, genügt es nicht, «nur» das Gesetz zu kennen. Obwohl die Schweiz kein Common Law Staat ist, sind Präzedenzfälle sowie allg. Gerichtsurteile ausschlaggebend für die Rechtsanwendung eines Artikels resp. um einen Fall zu gewinnen. Für Juristen (auch schon für Jurastudenten) ist das Lesen von Bundes-/Gerichtsentscheiden Alltag und nicht selten mühsam. Für Laien – ohne Kenntnis des Fachjargons – ist es noch viel aufwendiger, Entscheide von 20 oder mehr Seiten zu lesen.1 Es kann gesagt werden, dass Gerichtsentscheide von Juristen für Juristen geschrieben werden. Fairerweise ist z.B. das ZGB – im Vergleich zum BGB2 – dank Eugen Huber, mehr oder weniger allgemein verständlich3, auf Gerichtsurteile und somit die Rechtsanwendung des ZGBs trifft dies nicht unbedingt zu. Was daraus folgt ist, dass nicht Juristen schneller rechtliche Beratung benötigen als dies u.U. nötig wäre. Abhilfe schaffen könnte eine andere, benutzerfreundlichere Darstellung von Gerichtsurteilen. Erreicht werden könnte dies durch Legal Design Thinking.

[2]

Wenn die meisten Menschen an Design denken, denken sie an Ästhetik: Die Art und Weise, wie etwas für den Betrachter aussieht und sich in der Hand anfühlt. Sie denken vielleicht an Objekte wie Sonnenbrillen, Vasen, Autos oder Besteck. Dieser Aspekt ist richtig, aber nicht alles. Design kommt mit seiner eigenen, einzigartigen Mentalität und Art, Probleme anzugehen.4

[3]

Ein Anwalt hat ein lösungsorientiertes Denken.5 Instinktiv denkt er von Anfang an an die beste mögliche Lösung für seinen Klienten aufgrund seiner Einschätzung der rechtlichen Situation. Die Mentalität eines Designers ist nutzerorientiert. Bevor dieser mit einer Lösung kommt, fragt er sich, wer überhaupt die Stakeholder resp. Benutzer sein werden und wie diese am besten Informationen verstehen.6

[4]

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage: Wie könnte ein Bundesgerichtsentscheid für nicht Juristen, unter Zuhilfenahme von Legal Design Thinking, konkret dargestellt werden?

[5]

In einem ersten Schritt wird Legal Design Thinking näher betrachtet. Mithilfe der erarbeiteten Theorie und den Inputs aus verschiedenen Interviews wird ein zufällig ausgewählter Bundesgerichtsentscheid (BGE) neu gestaltet. Ziel ist es, dass dieser BGE für nicht Juristen besser verständlich und zugänglich ist.

II.

Legal Design Thinking ^

[6]

Legal design kann definiert werden als Design, das im Bereich des Rechts eingesetzt wird, um rechtliche Produkte, Dienstleistungen, Arbeit, Systeme, Geschäftsstrategien, Ökosysteme und die Benutzererfahrung zu transformieren.7 Schlussendlich ist alles Design.8 Bei Legal Design handelt es sich um eine integrative Disziplin, welche Rechtskenntnisse und Designkenntnisse erfordert.9

[7]

Legal Design Thinking ist eine Methode von Legal Design, bei welcher der Nutzer im Zentrum steht.10 Es bedeutet eine Neubewertung von Wegen, wie man Probleme löst, zum Nutzen der Kunden.11 Durch eine klarere, verständlichere und benutzerfreundlichere Gestaltung werden Verträge, AGB, Gerichtsurteile usw. von Parteien wahrscheinlich häufiger und besser genutzt, und es gibt weniger Zweifel an ihrer Auslegung.12 Jede Herausforderung wird durch verschiedene Perspektiven des Endnutzers betrachtet, egal ob es ein Produkt, Service oder Prozess ist.13 Eine so erworbene Empathie kann einerseits durch Interviews erreicht werden, aber auch durch die Beobachtung des Nutzers.14 Um Legal Designer zu werden, muss sich eine besondere Denkweise zu eigen gemacht und das Denken sowie die Arbeitsmethode neu bewerten werden.15

[8]

(Legal) Design kann in vier verschiedene Sparten unterteilt werden:16

  1. Design als Funktion und Formenlehre
  2. Design als Denkweise (Mindset)
  3. Design als Fähigkeit (Skill-Set)
  4. Design als Prozess
[9]

Nachfolgend wird 3. weiter ausgeführt, da diese Fähigkeit ausschlaggebend ist für eine veränderte Darstellung eines Bundesgerichtsentscheids.

[10]

Design als Fähigkeit kann in ein «invisible design skill set»17 und in ein «tangible design skill set»18 unterteilt werden. Wobei bei ersterem der Mehrwert oft nicht direkt erkennbar ist, während er bei letzterem direkt ersichtlich ist.

[11]

Unter das «invisible design skill set» fällt u.a.:

  • Business Design (nutzerzentriertes Leistungsversprechen wird mit einem nutzerzentrierten Business Modell verbunden),
  • Service (vom Planen bis hin zum Organisieren von Menschen) oder
  • Kommunikation (der Prozess, wie eine Nachricht übermittelt wird resp. wie man etwas verständlich kommuniziert).
[12]

Unter einem «tangible skill set» kann insbesondere folgendes subsumiert werden:

  • Produktdesign (wobei Design und Funktionalität abgewogen werden müssen),
  • User-Experience-Design (Interaktion des Nutzers mit dem meist digitalem Produkt),
  • Visuelles Design (wie können Informationen/Nachrichten optisch oder auch graphisch dargestellt werden?) oder
  • Informationsarchitektur (wie wird Information strukturiert?).
[13]

Im 3. Abschnitt werden die verschiedenen Schritte für die Erstellung eines Legal Design Produktes näher betrachtet.

III.

Der Legal Design Prozess ^

[14]

Für die Erstellung eines Legal Design Produktes kann gemäss dem von Klemola und Kohlmeier beschriebenen Prozess «The Legal Design Process»19 vorgegangen werden. Dieser beinhaltet sechs Schritten.

1.

Team and Cultural Building ^

[15]

Es stellt sich die Frage, nach der Gruppen-Zusammenstellung. Es wird betont, dass je nach Thema ein anderes Skill-Set benötigt wird. Wichtig ist auch, dass alle Stakeholder in den Prozess einbezogen werden.20

2.

Research and Unterstanding ^

[16]

In diesem Schritt wird ein Problem evaluiert und ein Verständnis für die verschiedenen Stakeholder entwickelt. Für das Erreichen dieser zwei Zwischen-Ziele, gibt es verschiedene Methoden. So z.B. Umfragen21, Stakeholder Mapping22, fiktive Profile anlegen23 oder Interviews24 mit den betroffenen Stakeholdern.

3.

Synthesize and Define ^

[17]

Hier geht es um das Auswerten, Kondensieren und Festlegen der ermittelten Daten. Das Ziel ist, herauszufinden, was Probleme (aus der Sicht der Stakeholder) sind und wie diese ausformuliert werden können.25

4.

Idea Development ^

[18]

Im vierten Schritt geht es um das eigentliche Entwickeln einer Lösung. Als Tipp heisst es, dass möglichst viele verschiedene Lösungen herausgearbeitet werden sollen, um in einem zweiten Schritt die besten auszusuchen.26

5.

Prototyping and Testing ^

[19]

Es gilt, erste Versuche zu wagen und halb fertige Ideen zu teilen. Ein Prototyp dient dazu, erste Rückmeldungen zu erhalten, Stärken sowie Schwächen seiner Idee zu erfahren und diese umzusetzen.27 Dies ist so lange zu wiederholen, bis man zu 6. wechseln kann.

6.

Implementation ^

[20]

Im letzten Schritt geht es um die Implementierung der Idee. Implementierung bedeutet, eine Idee mit ausreichender Klarheit zu vermitteln, damit sie auf Akzeptanz stösst sowie zu beweisen und zu zeigen, dass sie in ihrem vorgesehenen Markt funktioniert.28

[21]

Im nächsten Abschnitt wird dieser Prozess bis und mit Punkt 5 umgesetzt.

IV.

Legally Designed Bundesgerichtsentscheid ^

[22]

Dieser Beitrag versucht Recht(-sprechung) für die Allgemeinheit zugänglicher zu machen (Acess to Justic). Um dies zu erreichen, wird konkret versucht, den Bundesgerichtsentscheid BGE 148 IV 113 für nicht Juristen verständlicher darzustellen. Für das Gestalten eines Gerichtsentscheides wird nach dem oben (III.) beschriebenen Prozess vorgegangen. Der Prozess wird bis zur Erstellung eines Prototypen, inklusive einer ersten Rückmeldung, verfolgt.

1.

Team and Cultural Building ^

[23]

Da es sich um eine Einzelarbeit handelt, ist es nicht möglich, sich eine Gruppe mit verschiedenen Stakeholdern oder Fähigkeiten zusammenzustellen. Um dies auszugleichen, wurde u.a. ein Student der ZHDK interviewt und um Designtipps gefragt.

2.

Research and Unterstanding ^

[24]

Um ein Verständnis für Laien im Recht zu entwickeln, wurde je ein Interview29 mit Roman, Janis und Colin geführt. Auf die Frage «Wie würdest Du vorgehen, wenn Du ein rechtliches Problem lösen willst?», wurde von den drei gesagt, dass sie googlen oder einen Freund im Jurastudium fragen würden. Keiner würde einen Gerichtsentscheid lesen.

[25]

Als weitere Stakeholder werden die Richter und Gerichtschreiber identifiziert. Aufgrund der bereits hohen Auslastung der Gerichte wird vermutet, dass diese zwei Interessensgruppen möglichst keinen Mehraufwand in ihrer Arbeit wollen. Weiter wird geschätzt, dass für diese beiden sowie für Anwälte/Juristen besonders wichtig ist, dass ein Gerichtsentscheid nicht an Präzision einbüsst durch eine allgemein verständlichere Sprache.

3.

Synthezise and Define ^

[26]

In den Interviews wurden verschiedene Gründe angegeben, wieso die drei Befragten, auch wenn sie ein rechtliches Problem haben, keine Bundesgerichtsentscheide lesen würden. Roman und Janis lesen keine wegen den juristischen Fachausdrücken, weil sie denken, dass sie nichts verstehen werden. Colin liest keine wegen der Länge eines Entscheides, aber vor allem weil er nie sicher ist, ob der Entscheid auch wirklich sein Problem behandelt.

[27]

Ein weiteres Problem – von den Befragten nicht angegeben – könnte sein, dass Fachfremde nur mit langem Suchen überhaupt einschlägige Gerichtsentscheide finden, da sie vermutlich andere Schlagwörter in die Suchmaschine eintippen als ein Jurist. Weiter wird ein Verständnis auch durch zu lange Sätze erschwert.

4.

Idea Development ^

[28]

Als mögliche Lösungen könnten visuelle Hilfsmittel wie z.B. Symbole, Zeitleisten, Diagramme oder Farbschemata verwendet werden. Auch Typografie, Schriftgrösse, Verwendung von Leerraum oder Hervorhebungstechniken können zu einer erhöhten Benutzerfreundlichkeit beitragen.30 Von einer visuelle Darstellung – z.B. als Comics – wird hier gleich Abstand genommen, weil den Gerichten bereits Ressourcen für das Anonymisieren von allen Urteilen fehlt.31 Zeichner/Designer einzustellen ist somit praktisch nicht möglich. Eine effektive Implementierung scheint am erfolgversprechendsten, wenn das neue Design für die Verfasser einen möglichst geringen Mehraufwand zur Folge hat.

[29]

Ob ein Gerichtsurteil für das eigene Problem einschlägig ist, hängt grundsätzlich vom Sachverhalt ab. Dieser könnte durch eine Zeitleiste (wer hat wann was gemacht) oder Skizze sowie einer kurzen Überschrift (wenn möglich in Alltagssprache) ergänzt werden.

[30]

Benötigte Key-Take-Aways – wie es Roman ausdrückt – um nicht den ganzen Entscheid zu lesen, sind bereits in der Regeste32 enthalten. Diese könnte durch Bullet Points dargestellt und jeweils die Schlagwörter fett oder mit Farbe hervorgehoben werden. Weiter wussten die Interviewten nicht, dass die Regeste die wichtigsten Punkte auflistet. In dem man den Titel «Regeste» mit «wichtigste Punkte» oder ähnlichem ergänzt, wäre demnach auch schon viel getan. Auch ein Verweis von der Regeste auf die jeweils einschlägige Erwägung besteht bereits. Ein Verlinken der Verweise mit der Erwägung, würde ein Zurechtfinden noch weiter erleichtern. Auch ein Einfärben der Sätze aus der Regeste mit den einschlägigen Sätzen aus den Erwägungen würde u.U. den Zugang und das Auffinden vereinfachen. Wichtig ist, dass die Regeste schnell überflogen werden kann. Colin würde z.B. auch einen Bundesgerichtsentscheid lesen und Fachbegriffe nachschlagen, wenn er wüsste, dass seine Frage durch das Lesen des Urteils beantwortet werden würde.

[31]

Damit Gerichtsurteile eher durch eine Suchanfrage ohne juristische Fachbegriffe erscheint, wäre ein Ergänzen der Begriffe aus der Regeste durch Alltagssprache womöglich hilfreich (z.B. in Klammer dahinter).

[32]

Das grösste Problem stellt sich mit den juristischen Begriffen. Die Alltagssprache gebraucht oft Wörter synonym, was in der Jurisprudenz nicht möglich ist (z.B. Besitz und Eigentum). Fachbegriffe sind und bleiben Fachbegriffe und ein Ersetzen ist somit ausgeschlossen. Was möglich wäre, wäre ein Verlinken der Begriffe zu Websites33, die diese Begriffe erklären. Es könnte auch mit internen Begriffsdefinitionstabellen gearbeitet werden, in dem solche vom Gericht erstellt und dem Urteil beigelegt wird. Mit «Ctrl + f» könnte dann ohne viel Suchaufwand der Begriff gefunden werden. Der Mehraufwand würde sich auch auf das (einmalige) Erstellen einer solchen Tabelle beschränken.

5.

Prototyping and Testing ^

[33]

Im Anhang unter «BGE 148 IV 113 neu Dargestellt» wurden die oben erwähnten Möglichkeiten umgesetzt. Der Prototyp wurde danach Luis gezeigt (Interview 4), welcher verschiedene Inputs gab, um den Entscheid weiter zu verbessern.

[34]

Sein erster Punkt war, dass die Key-Take-Aways (Regeste), schöner formuliert werden könnten. Mit dem Hintergedanken, den Mehraufwand für die Richter und Gerichtsschreiber möglichst gering zu halten, wurde die Regeste lediglich in Bullet-Points unterteilt, vereinzelte juristische Begriffe in den Fussnoten erklärt und die entscheidenden Punkte durch ein Fettdrucken hervorgehoben.Es müsste nun mit einem Gericht (z.B. als Pilotprojekt) versucht/abgeklärt werden, inwiefern die Richter bereit wären, die Regeste «universeller zu formulieren»34.

[35]

Weiter kritisiert er die Fussnoten und schlägt vor, dass juristische Begriffe interaktiv verlinkt werden könnten. Für eine übersichtliche Darstellung wäre es anschaulich, wenn man mit der Maus auf den Begriff fahren könnte und sich ein kleines Fenster öffnen würde, welches den Begriff erklärt.

[36]

Luis ergänzt weiter, dass es handlich wäre, wenn man auf den Verweis in der Regeste klicken könnte und direkt zum relevanten Abschnitt gelangen würde. Im behandelten Bundesgerichtsentscheid wurde versucht, mit dem Einfärben der ausschlaggebenden Erwägungen das Zurechtfinden zu erleichtern. Ein Verlinken würde den Zeitaufwand nochmals verringern. Um das umzusetzen, müsste mindestens den Gerichtsschreiber erklärt werden, wie so etwas umgesetzt werden kann.

[37]

Abschliessend sieht Luis keinen Mehrwert in der Skizze des Sachverhaltes. Eine visuelle Darstellung stellt sich somit als schwierig heraus. Insbesondere, da eine solche auch einen Mehraufwand bedeutet.

[38]

In einem nächsten Schritt wäre nun die konstruktive Kritik von Luis umzusetzen, die Meinungen von weiteren Laien und den restlichen Interessensgruppen in Erfahrung zu bringen und dies so lange zu wiederholen, bis eine Implementierung erfolgsversprechend erscheint.

V.

Fazit ^

[39]

Bereits durch kleine stilistische Kniffe/Formatierungen kann ein Bundesgerichtsentscheid für nicht Juristen zugänglicher gemacht werden. Es stellte sich heraus, dass alle Befragten nicht wussten, was eine Regeste ist. Bereits das Ergänzen der Regeste durch «Key-Take-Aways», half dem Interviewten Luis, sich einen kurzen Überblick zu verschaffen. Weiter verschaffte das Einfärben der entscheidenden Sätze aus den Erwägungen einen beträchtlichen Zeitgewinn.

[40]

Die juristischen Begriffe wurden im bearbeiteten Bundesgerichtsentscheid in den Fussnoten erklärt. Hier wäre es sicher anschaulicher, wenn die Wörter verlinkt werden. Um nicht an Genauigkeit einzubüssen, wurde auf ein Ersetzen der Begriffe im Entscheid verzichtet.

[41]

Die erstellte Skizze des Sachverhalts bringt weiter keinen (grossen) Mehrwert. Es muss auch immer abgewogen werden, inwiefern ein Mehraufwand gerechtfertigt ist und vor allem für die Gerichte zumutbar. In dem Beitrag wurde aus diesem Grund insbesondere von aufwendigeren visuellen Darstellungen, wie z.B. Comics, Abstand genommen. Auf eine Skizze könnte gemäss Interview 4 auch verzichtet werden.

[42]

Grundsätzlich wurde versucht, den Bundesgerichtsentscheid didaktisch möglichst nicht zu verändern, sondern lediglich durch Bullet-Points, Einfärben oder Fettdrucken von Satzteilen das Wichtige/Entscheidende hervorzuheben. Es wird vermutet, dass so eine Implementierung durch das Gericht wahrscheinlicher ist, als wenn der Richter oder Gerichtsschreiber angehalten wird, allgemein verständlichere Begriffe und Formulierungen zu benutzen. Auch Juristen könnten ein Zeitgewinn durch die eingefärbten Sätze haben, da nicht mehr der ganze Entscheid gelesen werden muss. Durch das Einfärben der «relevanten»35 Begründungen besteht aber die Gefahr, dass nur noch die Meinung des Gerichts gelesen wird und womöglich ebenfalls überzeugende Argumente einer Gegenpartei übersehen werden. Eine kritischer Diskurs über Gerichtsentscheidungen könnte so verloren gehen.

[43]

Ergänzend zu diesem Beitrag wäre zu untersuchen, inwiefern ein Bundesgerichtsentscheid vermarktet werden könnte, dass er auf der ersten Seite der Suchmaschine angezeigt wird. Ein benutzerfreundlicher Bundesgerichtsentscheid bringt keinen Mehrwert für nicht Juristen, solange er von ihnen nicht gefunden wird.

[44]

Abschliessend kann gesagt werden, dass Legal Design Thinking ein Mindset ist, welches auch von den Gerichten in einer Weise aufgenommen werden sollte. Denn das Recht ist kompliziert muss aber nicht so bleiben.


Vittore Osele ist Bachelor-Student der Rechtswissenschaften an der Universität St. Gallen (HSG).


Anhang ^

Interview 1: ^

Offenes Interview mit Roman, 23, Bachelor (FH) Sozialearbeit, 12. November 2022, Berikon. Dauer: 4 Minuten 44 Sekunden.

Vittore: «Würdest Du einen Bundesgerichtsentscheid lesen?»
Roman: «Nein. Kauderwelsch.»
Vittore: «Kannst Du mir erläutern, wieso nicht? Ist es das Vokabular, die Länge, die Zeit?»
Roman: «Ich bin grundsätzlich abgeschreckt davon, da ich glaube ich werde eh nichts verstehen. Ich lese gerne und viel, von dem her ist es nicht die Länge eines Bundesgerichtsentscheides, sondern die ganzen Begrifflichkeiten, welche mich abschrecken. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich nichts verstehen werde.»
Vittore: «Wie würdest Du vorgehen, wenn Du ein rechtliches Problem lösen willst?»
Roman: «Ich würde versuchen zu googlen, aber auch wenn ich da auf einen Gerichtsentscheid stossen würde, würde ich diesen nicht lesen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich danach nicht schlauer wäre.»
Vittore: «Wie müsste denn ein solcher Entscheid aufgebaut/dargestellt werden, dass Du diesen liest?»
Roman: «So wie in the Nutshell, Key-Take-Aways was dieser Entscheid genau für mich bedeutet, was stellt er klar oder was verändert er an der Rechtslage.»
Vittore: «Also Key-Take-Aways findest Du eig. bereits in der Regeste.»
Roman: «Ja diese werde ich auch nicht verstehen, wenn da keine normalen Wörter drin stehen. Und was bedeutet überhaupt Regeste?»

Interview 2 ^

Offenes Interview mit Janis, 24, Mediamatiker, 12. November 2022, Bremgarten. Dauer: 5 Minuten 23 Sekunden.

Vittore: «Würdest Du einen Bundesgerichtsentscheid lesen?»
Janis: «Hab ich noch nie, werde ich nie.»
Vittore: «Wie würdest Du vorgehen, wenn Du ein rechtliches Problem lösen willst?»
Janis: «Ich frage Dich.»
Vittore: «Und wenn Du jetzt nicht mich fragen könntest?»
Janis: «Dann frage ich Marina, die studiert auch Jura.»
Vittore: «Und wenn Du niemanden fragen könntest, auch keinen Anwalt?»
Janis: «Ja dann würde ich googlen. Irgendjemand hatte sicher schon das gleiche Problem.»
Vittore: «Beim Googlen stehen die Chancen gut, dass Du auf einen Bundesgerichtsentscheid stösst, würdest Du diesen dann lesen wenn er Dein Problem lösen könnte? Wenn Nein, wieso nicht?»
Janis: «Wie schon gesagt werde ich nicht. Ich verstehe eh nicht, was da geschrieben wird, das ist schlimmer als der Deutsch-Unterricht bei Frau Moranz. Abgesehen von den unverständlichen Wörtern ist er mir auch zu lange.»
Vittore: «Wie müsste denn ein solcher Entscheid aufgebaut/dargestellt werden, dass Du diesen liest?»
Janis: «Am besten kurz zusammengefasst was dieser konkret aussagt oder eben verändert. Bilder sind natürlich immer nice, aber vor allem die Key-Punkte in normalem Deutsch wären ausreichend.»

Interview 3 ^

Offenes Interview mit Colin, 24, Bachelor ZHDK Industrial Design, 12. November 2022, Berikon. Dauer: 6 Minuten 7 Sekunden.

Vittore: «Würdest Du einen Bundesgerichtsentscheid lesen?»
Colin: «Betrifft der Entscheid mich? Wenn nicht, müsste ich gezwungen werden.»
Vittore: «Wie würdest Du vorgehen, wenn Du ein rechtliches Problem lösen willst?»
Colin: «Googlen und dann Dich Fragen.»
Vittore: «Angenommen Du könntest niemanden fragen und würdest beim Googlen auf einen Gerichtsentscheid stossen, würdest Du diesen lesen?»
Colin: «Wäre er konkret auf meine Fragestellung, dann ja. Müsste ich vlt. ein paar Wörter nachschlagen, dies würde ich aber machen, wenn ich mir sicher wäre, dass meine Frage dadurch beantwortet wird. In der Realität würde es aber wahrscheinlich so aussehen, dass ich draufklicken werde, den Entscheid anschaue, merken dass der viel zu lange ist und etwas suchen, was drei Sätze lang ist.»
Vittore: «Wie müsste denn ein solcher Entscheid aufgebaut/dargestellt werden, dass Du diesen liest?»
Colin: «Ich würde ihn schon lesen, aber es muss mir bestätigt werden, bevor ich den Gerichtsentscheid anfange zu lese, dass er relevant für meine Frage ist. Wenn der Entscheid übersichtlicher gestaltet ist, z.B. mit grossen Headliner für die vier grossen Sachen, die behandelt werden. Dann jeder Teil nochmals unterteilt in Überthemen. Vielleicht zu jedem Überthema noch ein Beschrieb. Ich glaube Text wäre am einfachsten, da ich mir Comics zu mühsam vorstelle zum Zeichnen und zum Interpretieren.»

Interview 4 ^

Offenes Interview mit Luis, 22, BVWL Universität St. Gallen, 18. November 2022, St. Gallen. Dauer 8 Minuten 13 Sekunden.

Vittore: «Verstehst Du das Gerichtsurteil? Hast Du Verbesserungen für die Verständlichkeit?»
Luis: «Also die Key-Take-Aways find ich sehr gut. Die könnte man vielleicht sogar noch etwas ausbauen. Idealerweise müsste man als nicht Jurist nur die Takeaways lesen um das Urteil zu verstehen. Vieleicht könnte man versuchen, diese Takeaways etwas universeller zu formulieren. Also dass es auch für nicht Juristen angenehm zum Lesen ist: Bsp. ‹Die Gemeinschaft der Fahrenden gilt als kulturelle oder ethnische Minderheit. Im vorliegenden Kontext ist der Ausdruck ‹ausländische Zigeuner› als Bezeichnung für eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB zu qualifizieren.› vielleicht eher als: ‹Fahrende sind eine kulturelle oder ethnische Minderheit. Im vorliegenden Fall ist der Ausdruck ‹ausländische Zigeuner› eine Bezeichnung für eine Ethnie, welche durch Art. Art. 261bis des Schweizer Strafgesetzbuches vor öffentlicher Herabsetzung oder Diskriminierung geschützt werden.› (kein Gebrauch von Juristenjargon ‹qualifizieren›)»
  «Weiter verstehe ich den ersten Bullet Point nicht. Was soll der aussagen?»
Vittore: «Einfach um was es geht. Du musst wissen, dass ich diese Key-Take-Aways nicht selber geschrieben habe sondern einfach anders dargestellt. Das Gericht hat diese verfasst.»
Luis: «Okay, das wusste ich gar nicht. Ich dachte das wäre eine Erfindung von dir. Trotzdem, diesen ersten Punkt mit dem Artikel könnte man auch streichen für mich.»
Vittore: «Ist vermerkt. Sonst noch etwas?»
Luis: «Du hast jetzt immer mit Fussnoten die Wörter erklärt. Besser fände ich wenn es, wie bei Wikipedia, interaktive Links wären. Am besten dies auch gleich von den Takeaways zu den relevanten Stellen im Urteil. Also z.B. Definition Zigeuner verlinkt zur Definition.»
Vittore: «Das wäre super, stimme ich Dir zu. Muss ich aufschreiben.»
Luis: «Sag vielleicht auch noch, was es bedeutet, wenn das Bundesgericht eine Beschwerde abweist und sind die Duden und Wikipedia Quellen von dir? Das würde ich auch nicht machen, das ist nicht wissenschaftlich.»
Vittore: «Da hast Du völlig recht Luis, aber das Bundesgericht braucht Wikipedia!»
Luis: «Noch zur Skizze, naja, die gibt mir jetzt nicht wirklich einen Überblick.»
Vittore: «Ja es gibt sicher Sachverhalte, welche besser geeignet sind für eine Skizze. Danke Dir vielmals!»

Die Interviews wurden elektronisch aufgezeichnet. Die Aufzeichnungen sind beim Autor verfügbar.

BGE 148 IV 113 neu dargestellt ^

Dieser Gerichtsentscheid wurde zufällig auf www.bger.ch ausgewählt, indem auf Leitentscheide gegangen wurde. Der Originaltext ist in Grau, während der veränderte Text in normalem schwarz angezeigt ist. Die eingefügten Fussnoten sind Beispiele, wie das Gericht juristische Begriffe für Laien besser verständlich machen könnte. Da sich Laien etwas unter Rassendiskriminierung und Meinungsfreiheit vorstellen können und Begriffe wie Ethnie im Urteil selbst erläutert werden, müssen in diesem Entscheid vermutlich weniger Wörter erklärt werden als in anderen. Der Bundesgerichtsentscheid ist auf Platz 1236, wenn man «Rassendiskriminierung» und auf Platz 1 wenn man «Zigeuner» eingibt auf www.bger.ch. Bei einer Frage über dieses Thema ist es demnach möglich, den Entscheid zu finden.

Für eine unveränderte Version des Entscheides kann auf dieselbe Website gegangen und BGE 148 IV 113 eingegeben werden.

Urteilskopf

148 IV 113

12. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. und B. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Beschwerde in Strafsachen)

6B_636/2020 / 6B_637/2020 vom 10. März 2022

Regeste a/Key-Take-Aways

  • Art. 261bis Abs. 1 und Abs. 4 erster Teilsatz StGB; Rassendiskriminierung; Aufruf zu Hass oder Diskriminierung; Herabsetzung oder Diskriminierung37.
  • Der Begriff «Zigeuner» wird als abwertend wahrgenommen, weshalb der Ausdruck «Fahrende» als neutraler Begriff eingeführt wurde.
  • Die Gemeinschaft der Fahrenden gilt als kulturelle oder ethnische Minderheit. Im vorliegenden Kontext ist der Ausdruck «ausländische Zigeuner» als Bezeichnung für eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB zu qualifizieren38 (E. 3 und 4).
  • Definition der Begriffe «Fahrende» und «Zigeuner» (E. 4.3 und 4.4).

Regeste b/Key-Take-Aways

  • Art. 16 BV; Art. 10 EMRK; Art. 19 UNO-Pakt II; Meinungsäusserungsfreiheit.
  • Verletzung der Meinungsäusserungsfreiheit im beurteilten Fall – auch im Lichte der Rechtsprechung des EGMR – verneint (E. 5.3) (Kapitälchen)

Sachverhalt ab Seite 114

BGE 148 IV 113 S. 114

Zwei Mitglieder der JSVP posten auf Facebook und ihrer Homepage einen rassistischen Kommentar mit Bild

A. Am 21. Februar 2018 veröffentlichte die Junge SVP des Kantons Bern (nachfolgend: JSVP) auf Facebook und auf ihrer Homepage nachfolgenden Beitrag:

«JSVP-Kandidaten wählen – Transitplätze für Zigeuner verhindern!

Die neue Legislatur wird eine wichtige Weichenstellung sein. Im Seeland und im Berner Mittelland macht man sich Sorgen um die geplanten Transitplätze für ausländische Zigeuner. Wollen wir im Kanton Bern solch teure und schädliche Transitplätze, welche die Lebensqualität in der entsprechenden Region verschlechtern?

Genau diese Frage wird sich in den nächsten vier Jahren stellen. Die Junge SVP Kanton Bern ist bisher die einzige Kantonalpartei, welche sich klipp und klar gegen solche Pläne ausgesprochen hat. Umso wichtiger, dass ihre Kandidaten unterstützt werden. Das Motto lautet also: JSVP wählen – Transitplätze verhindern!

#bernstark».

Auf diesen Text folgte eine farbige Abbildung im Stil eines Cartoons. Darauf ist ein Transitplatz für Fahrende zu sehen, auf dem sich stinkender Abfall türmt und eine leicht dunkelhäutige Person ihre Notdurft im Freien verrichtet. Im Hintergrund ist ein Dorf mit einem Glockenturm zu erblicken. Im Vordergrund ist ein Mann mit verärgertem Gesichtsausdruck, mit einer Tracht und einer Kappe mit dem Schweizerkreuz zu sehen, der sich angewidert die Nase zuhält. Darüber steht: «Millionenkosten für Bau und Unterhalt, Schmutz, Fäkalien, Lärm, Diebstahl, etc. Gegen den Willen der Gemeindebevölkerung». Unter der Abbildung steht der grossbuchstabige Text: «Wir sagen NEIN zu Transitplätzen für ausländische Zigeuner! Wählen Sie JSVP-Kandidaten in den Grossen Rat!»

B. Die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland erliess gegen A. und B. am 18. April 2018 einen Strafbefehl wegen Rassendiskriminierung. Auf Einsprache von A. und B. hin überwies die Staatsanwaltschaft

BGE 148 IV 113 S. 115

den Strafbefehl als Anklageschrift dem Regionalgericht Bern-Mittelland.

C. Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach A. und B. mit Urteil vom 14. Januar 2019 der Rassendiskriminierung schuldig. Es verurteilte A. zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Fr. 110.- und B. zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Fr. 120.-, jeweils unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren.

D. Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte den Schuldspruch von A. und B. mit Urteil vom 6. Dezember 2019. Es verurteilte A. zu einer bedingten Geldstrafe39 von 30 Tagessätzen zu je Fr. 160.- und B. zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je Fr. 120.-, jeweils unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren. Das Obergericht widerrief den mit Urteil der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, vom 23. Juni 2016 für eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je Fr. 100.- A. bedingt gewährten Vollzug nicht, sondern verwarnte ihn.

E. A. und B. beantragen mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und sie seien vom Vorwurf der Rassendiskriminierung freizusprechen. Eventualiter beantragen sie, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur Fortsetzung des Verfahrens und Vervollständigung der Sachverhaltsermittlung an das Obergericht zurückzuweisen. Ferner ersuchen sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.

Das Bundesgericht hat die Angelegenheit am 10. März 2022 in einer öffentlichen Sitzung beraten.

Das Bundesgericht vereinigt die Verfahren 6B_636/2020 und 6B_637/2020.

Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen/Begründungen

Aus den Erwägungen:

3. Wegen «Rassendiskriminierung» (Randtitel) wird gemäss Art. 261bis StGB unter anderem bestraft, (Absatz 1) wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse,

BGE 148 IV 113 S. 116

Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder Diskriminierung aufruft und (Absatz 4 erster Teilsatz) wer öffentlich durch Wort, Schrift, Bild, Gebärden, Tätlichkeiten oder in anderer Weise eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise herabsetzt oder diskriminiert.

Welches der Inhalt einer Äusserung ist, ist Tatfrage. Welcher Sinn einer Äusserung zukommt, ist hingegen Rechtsfrage, die das Bundesgericht frei prüft. Massgebend ist dabei der Sinn, welchen der unbefangene Durchschnittsleser der Äusserung unter den gegebenen Umständen beilegt (BGE 145 IV 462 E. 4.2.3; BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 140 IV 67 E. 2.1.2; Urteil 6B_1126/2020 vom 10. Juni 2021 E. 2.1.1; je mit Hinweisen). Äusserungen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen sind nicht strikt nach ihrem Wortlaut zu messen, da bei solchen Auseinandersetzungen Vereinfachungen und Übertreibungen üblich sind (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 131 IV 23 E. 2.1 mit Hinweisen). Bei der Auslegung von Art. 261bis StGB ist der Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]) Rechnung zu tragen. In einer Demokratie ist es von zentraler Bedeutung, dass auch Standpunkte vertreten werden können, die einer Mehrheit missfallen oder für viele schockierend wirken (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 131 IV 23 E. 3.1; je mit Hinweisen).

Die Strafbestimmung betreffend die Rassendiskriminierung bezweckt unter anderem, die angeborene Würde und Gleichheit aller Menschen zu schützen. Im Lichte dieser Zielsetzung erscheinen als Herabsetzung oder Diskriminierung im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 erster Teilsatz StGB alle Verhaltensweisen, durch welche den Angehörigen einer Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung die Gleichwertigkeit als menschliche Wesen oder die Gleichberechtigung in Bezug auf die Menschenrechte abgesprochen oder zumindest in Frage gestellt wird (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 140 IV 67 E. 2.1.1; BGE 133 IV 308 E. 8.2; je mit Hinweisen). Der Begriff des «Aufrufens» (zu Hass oder Diskriminierung) im Sinne von Art. 261bis Abs. 1 StGB umfasst auch das «Aufreizen». Erfasst werden damit auch die allgemeine Hetze oder das Schüren von Emotionen, die auch ohne hinreichend expliziten Aufforderungscharakter Hass und Diskriminierung hervorrufen können (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 123 IV 202 E. 3b).

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB ein Segment der Bevölkerung, das sich selbst als abgegrenzte Gruppe versteht und das vom Rest der

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Bevölkerung als Gruppe verstanden wird. Sie muss eine gemeinsame Geschichte sowie ein gemeinsames zusammenhängendes System von Einstellungen und Verhaltensnormen (Tradition, Brauchtum, Sitte, Sprache etc.) haben, wobei die genannten Merkmale zur Abgrenzung verwendet werden müssen (BGE 143 IV 193 E. 2.3 S. 200 mit Hinweisen). Der Begriff der «Ethnie» im Sinne von Art. 261bis StGB erfasst auch eine unter einem Sammelbegriff zusammengefasste Mehrheit von Ethnien (BGE 143 IV 193 E. 2.3 S. 201 mit Hinweisen). Vor diesem Hintergrund hat das Bundesgericht festgehalten, dass der Begriff «Kosovaren» als Sammelkategorie die verschiedenen im Kosovo lebenden Ethnien bezeichnet und damit eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB erfasst (BGE 143 IV 193 E. 2.3 S. 201).

Der Tatbestand der Rassendiskriminierung setzt Vorsatz voraus, wobei Eventualvorsatz genügt (BGE 145 IV 23 E. 2.3; Urteil 6B_1126/2020 vom 10. Juni 2021 E. 2.1.3; je mit Hinweisen).

4.

4.1 Die Beschwerdeführer machen geltend, der Begriff «Zigeuner» bezeichne keine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB. Der Begriff «Zigeuner» sei ein Sammelbegriff, der in seiner Allgemeinheit keinerlei ethnische Konnotation mehr habe. Roma, Sinti und Jenische seien zwar auch «Fahrende» bzw. «Zigeuner», dies lasse aber noch nicht den Umkehrschluss zu, dass «Fahrende» bzw. «Zigeuner» einzig verschiedene Ethnien umfasse. Der Begriff «Fahrende» oder das Synonym «Zigeuner» bezeichne eine nichtsesshafte Tätigkeit, was aber für sich genommen kein kulturelles oder ethnisches Merkmal darstellen könne. Gemäss Duden sei eine Ethnie eine Menschengruppe (insbesondere Stamm oder Volk) mit einheitlicher Kultur. Nicht sesshaft zu sein, sei aber für sich genommen noch keine Kultur. Je nach Standpunkt des Betrachters würden sich beispielsweise auch vorübergehend in der Stadt Bern reisende Gruppen wie die Stadtnomaden oder schlicht «Heimatlose» nicht sesshaft verhalten.

4.2 Die Vorinstanz erwägt, die Gemeinschaft der Fahrenden in der Schweiz werde auch «Zigeuner» genannt. Das Nomadentum sei eines der wesentlichen Elemente der kulturellen Identität der Fahrenden und sei unmittelbar mit der Ausübung ihrer verschiedenen Erwerbstätigkeiten verbunden. Mit Verweis auf das Konzept des Regierungsrates des Kantons Bern vom Juni 2011 hält sie fest, dass der Begriff «Fahrende» ein Sammelbegriff für die Gruppen der

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Jenischen (als Hauptgruppe), Sinti und Roma sei. Ausländische Fahrende seien meist Roma und Sinti aus Frankreich und Italien. Alle diese Gruppen würden sich durch eine ungebundene, weil eben fahrende Lebensweise, die mit dieser Mobilität verbundenen typischen Erwerbstätigkeit und einer eigenständigen Kultur auszeichnen. Der Begriff der Fahrenden und damit das Synonym der Zigeuner sei als Sammelbegriff verschiedener Ethnien der Roma, Sinti und Jenischen ebenfalls dem Schutz von Art. 261bis StGB zu unterstellen. Wenn «Zigeuner» als Sammelbegriff für verschiedene Ethnien zu verstehen sei, gelte dies auch für den Begriff «ausländische Zigeuner». Der Begriff «ausländische Zigeuner» werde als Sammelbegriff für nichtschweizerische Sinti und Roma, mithin anerkannte Ethnien, verstanden und falle deshalb unter den Schutzbereich von Art. 261bis StGB. Der unbefangene Durchschnittsleser stelle sich unter «ausländischen Zigeunern» «Zigeuner» vor, die im Unterschied zu den Schweizer «Zigeunern» keinen Schweizer Pass besitzen, aber ebenso ein Segment der Gesellschaft bilden und über ein spezielles System von Einstellungen und Verhaltensnormen im Bereich der Traditionen, Brauchtum, Sitte, Sprache etc. verfügen. Hinzu komme, dass sich die Beschwerdeführer keiner genauen Sprache bedient hätten, da der Beitrag mit «JSVP-Kandidaten wählen – Transitplätze für Zigeuner verhindern» betitelt gewesen sei und keine Beschränkung auf die «ausländischen Zigeuner» enthalten habe.

4.3 Das vorinstanzliche Urteil stellt den Begriff der «Fahrenden» demjenigen der «Zigeuner» gleich und setzt sich weitgehend mit dem Begriff «Fahrende» auseinander. Das Bundesgericht hat sich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit der Gemeinschaft der Fahrenden befasst. Im Hinblick auf die Bemessung des Invalideneinkommens hat es festgehalten, dass «Fahrende» auch «Zigeuner» genannt werden und dass das Nomadentum ein bestimmendes Merkmal der kulturellen Identität der Fahrenden sei, wenn auch ein bedeutender Teil von ihnen sesshaft lebe (BGE 138 I 205 E. 4 mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit der Überprüfung kantonaler Regelungen von Transitplätzen hat das Bundesgericht unter anderem festgehalten, dass die Minderheit der Fahrenden in der Schweiz durch mehrere Staatsverträge, wie auch durch die Verfassung, in verschiedener Hinsicht geschützt ist (BGE 147 I 103 E. 11.1; BGE 145 I 73 E. 4; BGE 138 I 205 E. 6.1). Das Bundesgericht hatte sich nicht dazu zu äussern, ob die Gemeinschaft der Fahrenden als kulturelle oder ethnische Minderheit zu qualifizieren ist. Aus dem von den

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Beschwerdeführern vorgebrachten Urteil 1P.147/2003 vom 19. März 2003 geht hervor, dass die Staatsanwaltschaft des Kantons Genf die Frage, ob Fahrende eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB sind, verneint hat. Da das Bundesgericht indessen nicht auf die Beschwerde eingetreten ist, lässt sich dem Urteil darüber hinaus nichts entnehmen.

Der Begriff «Fahrende» wurde als neutraler Begriff eingeführt, der sich vom abwertend wahrgenommenen Begriff «Zigeuner» unterschied und mit dem eine Ethnisierung vermieden werden sollte (www.bak.admin.ch/bak/de/home/jenische-und-sinti.html [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]). In der Schweiz nimmt der Begriff Bezug auf die fahrende Lebensweise (https://www.bak.admin.ch/bak/jenische-und-sinti.html [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]). Demnach sollte mit dem Begriff «Fahrende» die ethnische Komponente entfallen und lediglich die Art der Lebensweise in den Vordergrund gestellt werden. Unter Berücksichtigung dessen ist für die vorliegend massgebende Frage, ob mit dem Begriff «Zigeuner» eine Ethnie bezeichnet wird, nicht primär auf den Ausdruck «Fahrende», sondern direkt auf den von den Beschwerdeführern verwendeten Begriff «Zigeuner» abzustellen.

4.4 Der Ausdruck «Zigeuner» wird nicht einheitlich definiert. Er wird als Fremdbezeichnung für Angehörige des Volkes der Sinti und Roma (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 8. Aufl. 2015, S. 2075; vgl. Brockhaus, Enzyklopädie, in 30 Bänden, Band 30, 21. Aufl. 2006, S. 597 f.), aber auch als Fremdbezeichnung für Angehörige der Roma und Jenische (https://de.wikipedia.org/wiki/Zigeuner [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]) definiert. Von den betroffenen Gruppen wird er als diskriminierend abgelehnt (Duden, a.a.O., S. 2075; Brockhaus, a.a.O., S. 597; https://de.wikipedia.org/wiki/Zigeuner#Heutige_Wortbedeutung [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]). Die Bedeutung des Begriffs «Zigeuner» ist demnach von einer gewissen Unschärfe geprägt. Gemeinsam haben die dargelegten Beschreibungsweisen indes, dass sie nicht auf die Lebensweise abstellen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte [EGMR] hat festgehalten, dass es sich bei «Zigeunern» («Tsiganes») um eine von

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Art. 8 EMRK erfasste Minderheit handelt, ohne diese spezifisch als ethnische Minderheit zu qualifizieren (vgl. Urteil des EGMR Chapman gegen Grossbritannien vom 18. Januar 2001, Recueil CourEDH 2001-I § 73). Roma und Sinti gelten gemeinhin als Ethnien (betreffend Roma BGE 143 IV 193 E. 2.3 S. 201 und Urteil des EGMR Aksu gegen Türkei vom 15. März 2012, Nr. 4149/04 und 41029/04; https://de.wikipedia.org/wiki/Roma [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]; https://de.wikipedia.org/wiki/Sinti [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]). Dass es sich bei Roma und Sinti um Ethnien handelt, wird auch von den Beschwerdeführern nicht bestritten. Jenische bilden eine eigenständige Gruppe mit eigener Sprache. Sie leben in ganz Europa, hauptsächlich in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Frankreich und sind eine anerkannte kulturelle Minderheit der Schweiz (www.bak.admin.ch/bak/de/home/sprachen-und-gesellschaft/jenische-und-sinti-als-nationale-minderheit/weiterfuehrende-informationen.html [zuletzt konsultiert am 10. März 2022]). Die Jenischen bilden die Hauptgruppe der Fahrenden schweizerischer Nationalität. Als ausländische Fahrende werden in der Schweiz meist Roma und Sinti aus Frankreich und Deutschland bezeichnet (Bericht des Bundesrats über die Situation der Fahrenden in der Schweiz, 2006, S. 6).

4.5 Es ist nicht davon auszugehen, dass der Durchschnittsadressat Kenntnis der dargestellten Komplexität des Begriffs «Zigeuner» hat oder in der Lage ist, eine klare Abgrenzung der verschiedenen vom Begriff «Zigeuner» erfassten Gruppen und Untergruppen vorzunehmen. Dies kann aber dahingestellt bleiben. Massgebend für die Frage, welchen Sinn der Durchschnittsadressat in dem von den Beschwerdeführern verwendeten Ausdruck «Zigeuner» erkannt hat, ist der Kontext, in dem ihn die Beschwerdeführer verwendet haben. Auf dem Bildelement ist unverkennbar eine dunkelhäutige Person zu sehen. Die gut sichtbare Überschrift enthält die Präzisierung, dass «ausländische Zigeuner» gemeint sind. Durch den mit dem Schweizerkreuz auf der Kappe der im Vordergrund stehenden Person geschaffenen Kontrast wird die ausländische Herkunft der «Zigeuner» zusätzlich betont. Dass der Durchschnittsadressat unter Berücksichtigung dieser Elemente bei dem Begriff «ausländische Zigeuner» ganz allgemein an nicht sesshafte Personen denkt, wie dies von den Beschwerdeführern geltend gemacht wird, ist auszuschliessen. Ebenfalls nicht anzunehmen ist, dass der Durchschnittsadressat unter Berücksichtigung der im Beitrag vorgenommenen

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Abgrenzung zur Schweizer Bevölkerung an Jenische, der Hauptgruppe der Fahrenden mit Schweizer Staatsangehörigkeit, denkt. Aufgrund der dargelegten Elemente wird der Ausdruck «ausländische Zigeuner» im konkreten Kontext vom Durchschnittsadressaten als Sammelkategorie für Roma und Sinti und damit für ethnische Gruppen verstanden.

Die Beschwerdeführer haben demnach im dargelegten Kontext mit dem Ausdruck «ausländische Zigeuner» eine unter einem Sammelbegriff zusammengefasste Mehrheit von Ethnien, namentlich diejenigen der Roma und Sinti, bezeichnet. Der Begriff «ausländische Zigeuner» ist im dargelegten Kontext als Bezeichnung für eine «Ethnie» im Sinne von Art. 261bis StGB zu qualifizieren.

5. (...)

5.3 Die Beschwerdeführer rügen sodann eine Verletzung ihrer Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO-Pakt II). Sie machen geltend, die Vorinstanz habe die Meinungsäusserungsfreiheit nicht hinreichend gewichtet. Ihr Beitrag habe Missstände auf Transitplätzen und damit ein sachlich unbestrittenes Problem thematisiert. Der Beitrag sei sachbezogen gewesen, woran die für den Durchschnittsbetrachter erkennbare Zuspitzung nichts geändert habe.

5.3.1 Bei der Auslegung von Art. 261bis StGB ist der Freiheit der Meinungsäusserung (Art. 16 BV, Art. 10 EMRK, Art. 19 UNO-Pakt II) Rechnung zu tragen. Dass Missstände in einer im politischen Diskurs zulässigen zugespitzten Form dargestellt werden können und die Meinungsäusserungsfreiheit in einer politischen Debatte besonders stark zu gewichten ist, steht ausser Frage (vgl. Urteile des EGMR i.S. Féret gegen Belgien vom 16. Juli 2009, Nr. 15615/07, § 63; Feldek gegen Slovakei vom 12. Juli 2001, Nr. 29032/95, § 83). Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR Äusserungen zu politischen Fragen und Problemen des öffentlichen Lebens ein besonderer Stellenwert zukommt. In einer Demokratie ist es von zentraler Bedeutung, dass auch Standpunkte vertreten werden können, die einer Mehrheit missfallen und für viele schockierend wirken (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 131 IV 23 E. 3.1 mit Hinweisen; BGE 101 Ia 252 E. 3c S. 258; Urteil des EGMR Thorgeirson gegen Island vom 25. Juni 1992, Nr. 13778/88, Serie A Bd. 239 § 63). Dies ist unmittelbare Konsequenz des durch Pluralismus, Toleranz und

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Offenheit geprägten Leitbilds einer demokratischen Gesellschaft. Eingriffe in die Rechte aus Art. 10 Abs. 1 EMRK sind gerechtfertigt, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, einem legitimen Ziel dienen und sich in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig erweisen, wobei die Schranken von Art. 10 Abs. 2 EMRK eng auszulegen sind. Kritik muss dabei in einer gewissen Breite und bisweilen auch in überspitzter Form zulässig sein. Denn in öffentlichen Debatten ist es oft nicht von Anfang an möglich, eindeutig zwischen unwahrer, halbwahrer und begründeter Kritik zu unterscheiden. Werden durch eine extensive Auslegung der Normen des Strafrechts zu hohe Anforderungen an kritische Äusserungen gestellt, besteht die Gefahr, dass auch begründete Kritik nicht mehr vorgebracht wird (BGE 131 IV 23 E. 3.1 mit Hinweis). Allerdings darf der Meinungsäusserungsfreiheit keine so weitreichende Bedeutung gegeben werden, dass das Anliegen der Bekämpfung der Rassendiskriminierung seiner Substanz beraubt würde (vgl. BGE 131 IV 23 E. 3.1 mit Hinweis auf Urteil des EGMR Jersild gegen Dänemark vom 23. September 1994, Nr. 15890/89, Serie A Bd. 298 § 27). Gleichwohl muss es in einer Demokratie aber möglich sein, auch am Verhalten einzelner Bevölkerungsgruppen Kritik zu üben. Eine Herabsetzung oder Diskriminierung im Sinne von Art. 261bis Abs. 4 StGB ist daher in der politischen Auseinandersetzung nicht leichthin zu bejahen. Jedenfalls erfüllt den Tatbestand nicht bereits, wer über eine von dieser Norm40 geschützte Gruppe etwas Unvorteilhaftes äussert, solange die Kritik insgesamt sachlich bleibt und sich auf objektive Gründe stützt (siehe BGE 143 IV 193 E. 3.3.3; BGE 131 IV 23 E. 3.1 mit Hinweisen; Urteil 6B_627/2015 vom 4. November 2015 E. 2.5). Äusserungen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen sind nicht strikt nach ihrem Wortlaut zu messen, da bei solchen Auseinandersetzungen Vereinfachungen und Übertreibungen üblich sind (BGE 143 IV 193 E. 1; BGE 131 IV 23 E. 2.1; Urteile 6B_1126/ 2020 vom 10. Juni 2021 E. 2.1.1; 6B_644/2020 vom 14. Oktober 2020 E. 1.3; je mit Hinweisen), daher sind sie nicht zu engherzig auszulegen, sondern immer in ihrem Gesamtzusammenhang zu würdigen (BGE 131 IV 23 E. 3.1 mit Hinweis auf das Urteil Jersild, § 31; Urteil 6B_620/2018 vom 9. Oktober 2018 E. 3.1.1). So mag die Darstellung eines wahren Sachverhaltes erlaubt sein, selbst wenn sie geeignet ist, ein feindseliges Klima gegen Angehörige bestimmter Gruppen zu schaffen oder zu verstärken (vgl. BGE 143 IV 193 E. 3.3.3 mit Hinweis).

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Nach der Rechtsprechung des EGMR ist der Meinungsäusserungsfreiheit politischer Parteien, die sich im Wahlkampf befinden und den Wähler überzeugen wollen, aus demokratischen Gründen weitreichender Schutz zuzugestehen, wobei der EGMR in diesem Zusammenhang auch betont, dass gerade in einem politischen Kontext ein fremdenfeindlicher Diskurs weitaus schädlichere Auswirkungen hat (Urteil Féret, § 76) und dass «la tolérance et le respect de l’égale dignité de tous les êtres humains constituent le fondement d’une société démocratique et pluraliste» (Urteil des EGMR Erkizia Almandoz gegen Spanien vom 22. Juni 2021, Nr. 5869/17, § 38). Angriffe auf Personen durch das Beleidigen, Lächerlichmachen oder Verleumden bestimmter Bevölkerungsgruppen können ausreichen, um die Bekämpfung rassistischer Äusserungen angesichts der unverantwortlichen Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäuserung gutzuheissen (Urteil des EGMR Vejdeland u.a. gegen Schweden vom 9. Februar 2012, Nr. 1813/07, § 55; Urteil des EGMR Féret , § 73). Bei der Abwägung gegenläufiger Grundrechtsinteressen gilt es bei Meinungsäusserungen den Beitrag zu einer Debatte von öffentlichem Interesse, den Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, den Gegenstand des Nachrichtenberichtes sowie früheres Verhalten der betroffenen Person sowie Inhalt, Form und Folgen der Veröffentlichung zu berücksichtigen (Urteil des EGMR GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus gegen Schweiz vom 9. Januar 2018, Nr. 18597/13, § 56). Bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit eines Eingriffs in die Meinungsäusserungsfreiheit ist auch die Natur und Schwere der auferlegten Strafe als wichtiger Umstand mit einzubeziehen (Urteil des EGMR GRA Stiftung Rassismus und Antisemitismus, § 77; Urteil Vejdeland, § 58).

5.3.2 Im Rahmen der damaligen politischen Auseinandersetzung und des Wahlkampfes durften die Beschwerdeführer selbstverständlich Kritik an bestehenden Missständen äussern. Dass Missstände auf Transitplätzen in einer im politischen Diskurs zulässigen zugespitzten Form dargestellt werden können und die Meinungsäusserungsfreiheit in der politischen Debatte besonders stark zu gewichten ist, steht ausser Frage. Wie dargelegt ist der Tatbestand der Rassendiskriminierung nicht bereits dann erfüllt, wenn jemand über eine von dieser Norm geschützte Gruppe etwas Unvorteilhaftes äussert, solange die Kritik insgesamt sachlich bleibt und sich auf objektive Gründe stützt. Mit der Kernbotschaft, wonach «ausländische Zigeuner» generell unhygienisch, ekelerregend und kriminell

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seien, stellt der fragliche Beitrag aber nicht bestehende Missstände sachbezogen in den Vordergrund, sondern nimmt vielmehr eine pauschale Verunglimpfung und Herabsetzung der betroffenen Gruppe vor. Die Beschwerdeführer zeigten die von ihnen kritisierten Missstände nicht im Rahmen dessen, was nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EGMR in politischen Debatten zulässig ist, auf, sondern es erfolgte eine Herabsetzung im Sinne der infrage kommenden Strafbestimmung: «On doit admettre qu’un rabaissement porte atteinte à la dignité humaine au sens de l’art. 261bis al. 4 CP lorsque la personne visée est traitée comme un être humain de deuxième classe.» (BGE 143 IV 308 E. 4.1; Urteil 6B_1126/2020 vom 10. Juni 2021 E. 2.1.1). Schliesslich ist unter Berücksichtigung der dargelegten Rechtsprechung des EGMR zu betonen, dass die Beschwerdeführer zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden sind, wobei das Strafmass von Art. 261bis StGB eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsieht. Die dargelegte Auslegung von Art. 261bis Abs. 4 StGB trägt der Meinungsäusserungsfreiheit hinreichend Rechnung und die geltend gemachte Verletzung ist zu verneinen.

  1. 1 So z.B. BGE 138 I 378.
  2. 2 Bügerliches Gesetzbuch, zentrale Kodifikation des deutschen allg. Privatrechts.
  3. 3 https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/internationales-recht/120jahre-bgb/2291698.
  4. 4 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 50.
  5. 5 Berger-Walliser/Barton/Haapio, From Visualization to Legal Design: A Collaborative and Creative Process, American Law Journal, Volume 54, Issue 2, 347–392 (2017), S. 360.
  6. 6 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 51.
  7. 7 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 46.
  8. 8 Talking Legal Tech, <15> Legal Design – was ist das, Lina Krawietz?, Legal Tech Podcast (2020), Minute 4:30.
  9. 9 Kohlmeier, Legal Design – eine Methode für Innovationen in der Rechtsindustrie, in: Breidenbach Stephan/Glatz Florian (Hrsg.), Rechtshandbuch Legal Tech (2. A München 2021), Rechtshandbuch Legal Tech, S. 402 Rz. 15.
  10. 10 Talking Legal Tech, <15> Legal Design – was ist das, Lina Krawietz?, Legal Tech Podcast (2020), Minute 5.
  11. 11 Fraser/Roberge, Legal Design Lawyering: Rebooting Legal Business Model with Design Thinking, Pepperdine Dispute Resolution Law Journal, Vol. 16 (2016), S. 315.
  12. 12 Vega Sainz, Legal Design Thinking, visuals en los contratos y su validez legal (2020), https://ojs.austral.edu.ar/index.php/juridicaaustral/article/view/342/541, S. 306.
  13. 13 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 51.
  14. 14 Talking Legal Tech, <15> Legal Design – was ist das, Lina Krawietz?, Legal Tech Podcast (2020), Minute 6.
  15. 15 Fraser/Roberge, Legal Design Lawyering: Rebooting Legal Business Model with Design Thinking, Pepperdine Dispute Resolution Law Journal, Vol. 16 (2016), S. 307.
  16. 16 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 47.
  17. 17 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 55 ff.
  18. 18 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 61 ff.
  19. 19 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), The Legal Design Process, S. 103 ff.
  20. 20 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 104.
  21. 21 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 117.
  22. 22 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 107.
  23. 23 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 109.
  24. 24 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 111.
  25. 25 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 118f.
  26. 26 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 127.
  27. 27 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 136f.
  28. 28 Klemola/Kohlmeier, The Legal Design Book: Doing Law in the 21st Century (2021), S. 142.
  29. 29 Interaction Foundation, Empathize, https://www.interaction-design.org/literature/topics/empathize (besucht am 11. November 2022).
  30. 30 Sainz, S. 308.
  31. 31 BGE 147 I 407 E. 8.1 im Besonderen. Weiter wird auf den Vortrag von BALO.AI verwiesen (Folie 39 f.), Frau Schmidheiny Konic erwähnte dort, dass im Kanton Aargau – seit der Verwendung von BALO.AI und der erhöhten Effizienz – beträchtlich mehr Gerichtsentscheide veröffentlicht werden können.
  32. 32 Falls keine Regeste im Urteil enthalten ist (so z.B. im BGer 6B_100/2012), wäre das Schreiben einer solchen in Alltagsprache notwendig.
  33. 33 So z.B. das Juristische Wörterbuch vom Zürcher Gericht, die Website https://www.getyourlawyer.ch oder LawMedia https://www.lawmedia.ch/channels-lawmedia/, welche verschiedenste Rechtsgebiete und Begriffe erklärt, meist mit einer Kurzdefinition am Anfang.
  34. 34 Interview 4.
  35. 35 Wer entscheidet was relevant ist?
  36. 36 Auf der Website www.bger.ch unter Leitentscheide.
  37. 37 Eine Ungleichbehandlung knüpft an verpönten Merkmalen an, welche nicht durch ernsthafte und triftige Gründe gerechtfertigt werden können.
  38. 38 Qualifizieren = ist eine Ethnie im Sinne von Art. 261bis StGB.
  39. 39 Eine bedingte Geldstrafe bedeutet, dass der Vollzug (das effektive Bezahlen) aufgeschoben wird. Siehe auch Art. 42 ff. StGB.
  40. 40 Norm = Gesetz.