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Der (angebliche) Normbegriffswandel in Kelsens Rechtstheorie und seine Folgen für die Frage nach der Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen

  • Author: Diogo Campos Sasdelli
  • Category of articles: Legal Theory
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2024
  • DOI: 10.38023/8840f544-04ae-4ac2-8cce-f45cb5f1d370
  • Citation: Diogo Campos Sasdelli, Der (angebliche) Normbegriffswandel in Kelsens Rechtstheorie und seine Folgen für die Frage nach der Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen, in: Jusletter IT 28 March 2024
In den 1960er Jahren änderte Kelsen ausdrücklich seine Auffassung zur Beziehung zwischen Logik und Recht: Für den sog. „späten Kelsen“ sind logische Prinzipien auf Rechtsnormen grundsätzlich nicht anwendbar. In loser Anlehnung an einer Bemerkung von Ulrich Klug wird im vorliegenden Beitrag argumentiert, dass Kelsens Ablehnung der Logik im Recht auf die Annahme einer sog. ontologischen Auffassung zum Normbegriff zurückzuführen ist, die einer sog. semiotischen Auffassung zum Normbegriff gegenübersteht. Es wird gezeigt, dass die Dichotomie zwischen diesen Auffassungen nicht auf die von Alchourrón und Bulygin vorgeschlagene Unterscheidung zwischen hyletischen und expressiven Normkonzeptionen reduziert werden kann. Nach einer Diskussion seiner früheren Werke wird argumentiert, dass die normontologischen Thesen, die Kelsen in der Allgemeinen Theorie der Normen vertritt, keinen fundamentalen Bruch mit seinen früheren Ansichten darstellen; stattdessen können Kernelemente der ontologischen Auffassung zum Normbegriff in der Gesamtheit von Kelsens Oeuvre gefunden werden. Es wird außerdem argumentiert, dass der Kelsen’sche Rechtspositivismus konsequent zu seinen erst später ausdrücklich formulierten normontologischen bzw. logikkritischen Thesen führt. Schließlich wird im Gegensatz zu Ota Weinbergers Ansichten argumentiert, dass Kelsens Normontologie zwar mit dem Aufbau einer eigentlichen Normenlogik, allerdings nicht mit der Vorstellung einer nach strengen Methoden geführten Rechtswissenschaft inkompatibel ist.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Auffassungen zum Normbegriff
  • 2.1. Semiotische und ontologische Auffassungen zum Normbegriff
  • 2.1.1. Die semiotische Auffassung zum Normbegriff
  • 2.1.2. Die ontologische Auffassung zum Normbegriff
  • 2.2. Hyletische und Expressive Normkonzeptionen nach Alchourrón und Bulygin
  • 3. Ontologische und Semiotische Auffassungen zum Normbegriff in Kelsens Oeuvre
  • 4. Schlussbemerkungen
  • 4.1. Folgen für den Aufbau der Normenlogik
  • 4.2. Rechtspositivismus und Normontologie
  • Literatur

1.

Einleitung ^

[1]

Im Rahmen ihres berühmten Briefwechsels zur Frage nach der Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen [Kelsen/Klug 1981] schrieb Ulrich Klug in einem Brief vom 20.07.1965 an Hans Kelsen:

Definiert man Normen als den Sinn von Willensakten, dann gibt es u.a. zwei Auslegungsmöglichkeiten: Entweder dieser Sinn ist – ebenso wie der Willensakt selbst – ein nichtsprachliches Faktum oder er ist ein sprachliches Gebilde. Im ersten Fall findet die Logik keine Anwendung; im zweiten Fall ist sie anwendbar. [Kelsen/Klug 1981, 85]
[2]

Klug beschreibt in dieser Passage die Grundzüge zweier Auffassungen zum Normbegriff, die hier jeweils als die ontologische bzw. die semiotische Auffassung zum Normbegriff bezeichnet werden. Die semiotische Auffassung zum Normbegriff betrachtet Normen als Ausdrücke, d.h. als sprachliche Gebilde, etwa als Imperativ- oder Normsätze. Im Sinne der ontologischen Auffassung werden Normen wiederum als abstrakte, dennoch irgendwie wirklich existierende Dinge oder Sachverhalte erfasst, und zwar auf eine ähnliche Weise, wie Zahlen, geometrische Figuren und andere mathematische Gegenstände im Sinne des mathematischen Platonismus (vgl. etwa [Scholz/Hasenjaeger 1961, 1 ff.]) verstanden werden. Obwohl Klug bereits in einem früheren Brief aus dem Jahre 1959 auf den grundlegenden Charakter der Annahme einer dieser Auffassungen zum Normbegriff für die Frage nach der Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen hingewiesen hat [Kelsen/Klug 1981, 33], nahm Kelsen dazu in ihrem gesamten Briefwechsel von 1959 bis 1965 in keiner Passage eindeutig Stellung.

[3]

Der frühe Kelsen schien die Anwendbarkeit logischer Prinzipien, allen voran des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch und der Regeln der logischen Schlussfolgerung auf Rechtsnormen als selbstverständlich zu betrachten. Diese habe die Reine Rechtslehre, wie er mehrfach betont, seit jeher auf Verhältnisse zwischen Rechtsnormen angewendet (vgl. etwa [Kelsen 2017, 147]; [Kelsen/Klug 1981, 14]). Diese logikaffine Ansicht, die Kelsen noch bei der zweiten Auflage der Reine[n] Rechtslehre (1960) vertrat, wurde in den darauffolgenden Jahren schrittweise aufgegeben – eine Entwicklung, die im oben erwähnten Briefwechsel mit Klug sichtbar ist und u.a. von Ota Weinberger [Weinberger 1981] bereits analysiert wurde. In seiner posthum erschienenen Allgemeine[n] Theorie der Normen (1979) bekennt sich Kelsen schließlich zu einer harten, fast ausnahmslosen Ablehnung der Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen ([Kelsen 1979, 215 ff.]; vgl. auch [Kelsen 1965] und [Kelsen 1967]), einer Ansicht, die von Weinberger als Normenirrationalismus (vgl. bspw. [Weinberger 1981, 7 bzw. 8, Fußnote 5]) bezeichnet wird.

[4]

Im vorliegenden Beitrag wird argumentiert, dass diese Entwicklung hinsichtlich der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf Rechtsnormen in Kelsens Theorie auf eine entsprechende Entwicklung hin zur Aufgabe einer semiotischen bzw. zur bewussten Annahme einer ontologischen Auffassung zum Normbegriff zurückzuführen ist. Wie zu zeigen sein wird, ist diese Entwicklung allerdings nicht linear: Spuren beider Auffassungen können in nahezu allen Werken des Autors der Reinen Rechtslehre gefunden werden. Insofern hat der späte Kelsen seine Auffassung nicht wirklich geändert, sondern vielmehr raffiniert, indem er Elemente, die mit seiner Theorie als Ganzem nicht kompatibel waren (dabei insbesondere die semiotische Auffassung zum Normbegriff), beseitigt hat.

[5]

Der vorliegende Beitrag wird wie folgt strukturiert: Im Abschnitt 2 wird die Unterscheidung zwischen semiotischen und ontologischen Auffassungen zum Normbegriff des Näheren diskutiert und mit einer ähnlichen, von Bulygin und Alchourrón vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen hyletischen und expressiven Normkonzeptionen [Alchourrón/Bulygin 1981] verglichen. Im Abschnitt 3 wird sodann untersucht, in welchem Ausmaß sich Elemente einer semiotischen bzw. einer ontologischen Auffassung zum Normbegriff in verschiedenen Schriften Kelsens feststellen lassen. Abschließend wird im Abschnitt 4 das Verhältnis zwischen diesen Auffassungen zum Normbegriff und dem Aufbau des Normenlogik einerseits sowie den Grundzügen des Rechtspositivismus andererseits analysiert. Es wird argumentiert, dass sich im Rahmen einer Kelsen’schen Rechtstheorie nur die ontologische Auffassung zum Normbegriff kohärent vertreten lässt.

2.

Auffassungen zum Normbegriff ^

2.1.

Semiotische und ontologische Auffassungen zum Normbegriff ^

[6]

Der entscheidende Unterschied zwischen ontologischen und semiotischen Auffassungen zum Normbegriff besteht darin, dass diese Normen primär als sprachliche Gebilde, jene sie aber als abstrakte Gegenstände – wie Klug es formuliert, als „nichtsprachliches Faktum“ [Kelsen/Klug 1981, 85] – erfassen.

2.1.1.

Die semiotische Auffassung zum Normbegriff ^

[7]

Dementsprechend werden Normen im Sinne der semiotischen Auffassung vor allem nach ihren sprachtheoretischen Eigenschaften untersucht, etwa syntaktisch nach ihrer Form (z.B. die Struktur der bedingten Norm als eines hypothetischen Imperativs), semantisch nach ihrer Bedeutung (z.B. die Interdefinierbarkeit zwischen den deontischen Modalitäten oder die Unterscheidung zwischen Normen und Aussagen) sowie pragmatisch nach ihrem Gebrauch (z.B. in Hinblick auf ihre Funktionen und Wirkungen als Sprechakte). Normen (bzw. Normsätze) werden somit als die präskriptiven Korrelate zu Aussagen erfasst. Insbesondere wird die Geltung oder Nichtgeltung von Normen als analog zur Wahrheit oder Falschheit von Aussagen betrachtet. Normtheorie wird somit als eine besondere Form von Sprachtheorie verstanden, die sich mit dem normativen Gebrauch der Sprache beschäftigt.

[8]

Die Literatur liefert zahlreiche Beispiele für Schriften, in denen eine semiotische Auffassung zum Normbegriff vertreten wird. Für Norberto Bobbio sind Normen bspw. aus formaler Sicht Propositionen: „Dal punto di vista formale, che qui abbiamo prescelto, una norma è una proposizione“ [Bobbio 1993, 48]. Ota und Christiane Weinberger verstehen wiederum „unter einem Normsatz den sprachlichen Ausdruck der Norm, unter der Norm die Bedeutung eines Normsatzes“ [Weinberger/Weinberger 1979, 20]. Auf ähnliche Weise definiert Georges Kalinowski die Norm als einen Gedanken und die normative Proposition als die entsprechende sprachliche Formulierung desselben: „J‘entends par [norme] une pensée et par [proposition normative] le signe linguistique de celle-ci“ [Kalinowski 1963 101]. Alchourrón und Bulygin fokussieren sich wiederum auf die pragmatische Ebene. Sie behaupten: „Commanding is essentially a linguistic activity, a speech act“ [Alchourrón/Bulygin 1981, 100]. Lourival Villanova unterscheidet zwischen Normen (präskriptive Sprache) und (rechtswissenschaftlichen) Aussagen, die Norm beschreiben (deskriptive Sprache): „As normas estão no mundo do direito positivo, e as descrições de normas no nível do conhecimento jurídico. Linguagem descritiva aqui; linguagem prescritiva ali“ [Villanova 1997, 65]. Schließlich sieht Garcia Máynez die Geltung bzw. Nichtgeltung von Normen als Analog zur Wahrheit bzw. Falschheit von Aussagen: „Validez y carencia de validez son a las normas lo que verdad y falsedad a los juicios existenciales“ [Máynez 1951, 27].

2.1.2.

Die ontologische Auffassung zum Normbegriff ^

[9]

Im Sinne der ontologischen Auffassung werden Normen als abstrakte bzw. ideelle Gegenstände oder als Sachverhalte erfasst, die einen Teil der Welt ausmachen und daher irgendwie gegeben sind, d.h. existieren. Wie bereits in der Einleitung betont wurde, kann diese ideelle Normontologie mit der Weise verglichen werden, wie Zahlen, geometrische Figuren und sonstige mathematische Gegenstände im Sinne des mathematischen Platonismus erfasst werden. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen hierbei der Ursprung (Setzungsakt) und die gesellschaftliche Wirkung (z.B. im Sinne der Rechtssoziologie) von Rechtsnormen sowie die Weise, wie sie wahrgenommen werden. Als abstrakte oder ideelle Gegenstände werden Normen als Korrelate zu physischen Gegenständen erfasst; ihre Geltung wird dementsprechend als besondere Form von Existenz bzw. von Wirklichkeit verstanden. Normtheorie ist in diesem Sinne eine Form von Ontologie, die sich mit den besonderen abstrakten bzw. ideellen Dingen beschäftigt, die man „Normen“ nennt.

[10]

Die Literatur – insbesondere aus dem Umfeld der Rechts- und Normenlogik bzw. der analytischen Rechtsphilosophie – liefert vergleichsweise wenige Beispiele von Werken, in denen die ontologische Auffassung ausdrücklich vertreten wird. Sie taucht allerdings manchmal (wenn auch häufig nur implizit) in unerwarteten Stellen auf. Kalinowski unterscheidet bspw. zwischen erstens der „Äußerung“ die er „ohne Zögern [...] normativen (deontischen) Satz“ nennt, zweitens „dem normativen (deontischen) Urteil, das diese Äußerung bedeutet“ (was er „‚Norm‘ im eigentlichen Sinn des Terminus“ nennt“) sowie drittens dem „Sachverhalt, den die betreffende Äußerung bezeichnet und der sich als normative (deontische) Relation erweist [...], nämlich die Relation zwischen einem Handlungsträger [...] und einer Handlung [...]“ [Kalinowski 1972, 6]. Letzteres, also die wirklich existierende Norm im ontologischen Sinne wird von Kalinowski und andere (z.B. Hector Neri Castañeda) in Anlehnung an Tarski als Wahrheitsbedingung für die entsprechende Norm definiert – nach dem Muster: Die Norm ‚Karl muss seine Schulden zahlen‘ ist genau dann wahr, wenn Karl (tatsächlich) seine Schulden zahlen muss [Kalinowski 1972, 10]. Auf ähnliche Weise behauptet H. L. A. Hart, dass die Aussage, dass jemand ein Gebot hat bzw. unter einem Gebot steht, die Existenz einer Norm impliziert: „The statement that someone has or is under an obligation does indeed imply the existence of a rule“ [Hart 1961, 85]. Dieselbe Grundidee wird auch in [Kutschera 1973, 11 ff.] vertreten. Eine besondere Form von Normontologie mit psychologischen Zügen wird von Heinrich Maier vertreten. Ihm zufolge liegt im Wollen des Gebotstellers „eine Vorstellung, dieselbe Vorstellung, die er auch ‚zum Ausdruck bringt‘. Das ist aber die Begehrungsvorstellung, die sich aus der Begehrungstendenz entwickelt und das Begehrungsziel zum Objekt hat. Sie ist Vorstellung eines begehrt Wirklichen, sie stellt ein Seinsollendes vor. Solche Vorstellungen erhalten in den Gebotsätzen ihren Ausdruck. So auch in den Rechtsnormen“ [Maier 1908, 684].

2.2.

Hyletische und Expressive Normkonzeptionen nach Alchourrón und Bulygin ^

[11]

Es erscheint sinnvoll, die hier angeführte Unterscheidung zwischen ontologischen und semiotischen Auffassungen zum Normbegriff mit der von Carlos Alchourrón und Eugenio Bulygin in [Alchourrón/Bulygin 1981] vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen hyletischen und expressiven Normkonzeptionen zu vergleichen.

[12]

Die hyletische1 Normkonzeption erfasst Normen als aussagenähnliche Entitäten („proposition-like entities“), genauer als die Bedeutung von normativen Ausdrücken („normative sentence“): „A normative sentence is the linguistic expression of a norm and a norm is said to be the meaning of a normative sentence in much the same way in which a proposition is regarded as the meaning (sense) of a descriptive sentence“ [Alchourrón/Bulygin 1981, 96]. Somit wiesen Normen insofern eine ideelle Dimension auf, als sie unabhängig von jeglicher spezifischen Sprachanwendung wären, sodass es Normen geben könnte, die noch nicht in einer bestimmten Sprache ausgedrückt worden sind bzw. vielleicht nie ausgedrückt werden [Alchourrón/Bulygin 1981, 96]. Im Sinne der hyletischen Konzeption sind Normen ferner das Ergebnis der Anwendung bestimmter (normativer) Operatoren auf Aussagen. Die Norm □Φ („Phi ist geboten“) entsteht bspw. durch die Anwendung des Gebotsoperators auf die Aussage Φ. Als Beispiele für Vertreter der hyletischen Konzeption nennen Alchourrón und Bulygin sich selbst in ihrem früheren Werk Normative Systems [Alchourrón/Bulygin 1971] sowie Georges Kalinowski und Ota Weinberger [Alchourrón/Bulygin 1981, 98 ff.].2

[13]

Nach der expressiven Normkonzeption werden Normen wiederum grundsätzlich als Befehle verstanden. Sie sind das Ergebnis des normativen Gebrauchs von Sprache. Während das Normative im Sinne der hyletischen Konzeption einen Teil des ausgedrückten Inhalts darstellt, sieht die Expressive Konzeption das Normative darin, wie dieser Inhalt mitgeteilt wurde – anstatt darin, was dieser Inhalt ist. Dementsprechend kann ein und derselbe Inhalt Φ sowohl als Aussage oder als Norm geäußert werden. Um diesen Unterscheid zu kennzeichnen, führen Alchourrón und Bulygin die Zeichen und ! an. Dabei soll ⱵΦ verwendet werden, um klarzustellen, dass Φ als Aussage geäußert wurde; zeigt wiederum, dass Φ als Norm verstanden werden soll. Alchourrón und Bulygin betonen, dass und ! keine Operatoren bzw. ⱵΦ und keine Aussagen sind: Sie tragen keine Wahrheitswerte und dürfen nicht mit logischen Operatoren kombiniert werden [Alchourrón/Bulygin 1981, 96 f.].3 Nach Alchourrón und Bulygin vertreten die meisten Moral- und Rechtsphilosophen sowie Normenlogiker die expressive Normkonzeption. Als Beispiele nennen sie neben Kelsen u.a. noch Alf Ross, Manfred Moritz, Lennart Åqvist und Franz von Kutschera. In [Bulygin 1983] wird interessanterweise auch Ulrich Klug der expressiven Normkonzeption zugeordnet.

[14]

Die von Alchourrón und Bulygin vorgeschlagenen Unterscheidung und die hiesige sind nicht äquivalent; denn weder die hyletische noch die expressive Normkonzeption entspricht der ontologischen Auffassung: Obwohl die hyletische Konzeption ähnlich wie die ontologische Auffassung Normen eine ideelle bzw. platonische Dimension zuweist, ist sie dennoch der semiotischen Auffassung zuzuordnen; denn sie erfasst Normen semantisch als die Bedeutung von gewissen Ausdrücken. Wiederum muss ebenso die expressive Konzeption der semiotischen Auffassung zugeordnet werden; denn sie führt das Normative auf eine bestimmte Gebrauchsform von Sprache zurück, genauer mit dem (Sprech-)Akt des Befehlens. Im Mittelpunkt bleibt stets die Vorstellung der Norm als eines sprachlichen Gebildes. Die Unterscheidung zwischen hyletischen und expressiven Normkonzeptionen im Sinne Alchourrón und Bulygin kann also als eine weitere Unterteilung der hiesigen semiotischen Auffassung zum Normbegriff betrachtet werden.

[15]

Wie bereits von Weinberger angemerkt [Weinberger 1985, 168], fußt die von Alchourrón und Bulygin vorgeschlagene Unterscheidung offenbar auf der Sprechakttheorie4: Nach der hyletischen Konzeption werden Normen lokutionär als der Inhalt eines Ausdrucks erfasst. Im Sinne der expressiven Konzeption werden sie wiederum illokutionär als eine Form des Ausdrückens definiert. Beides gehört nach der oben angeführten Definition zum Bereich der semiotischen Auffassung zum Normbegriff. Bleibt man bei der Sprechakttheorie, so ist das, was hierbei fehlt, genau der Bereich der ontologischen Auffassung zum Normbegriff: Im Sinne der ontologischen Auffassung werden Normen perlokutionär als abstrakte Gegenstände oder Sachverhalte definiert, die durch den Akt des Befehlens erschaffen werden – also als eine von einem Sprechakt hervorgerufene (ideelle), nichtsprachliche Veränderung in der Welt.5

3.

Ontologische und Semiotische Auffassungen zum Normbegriff in Kelsens Oeuvre ^

[16]

Wie schon oben erwähnt wurde, waren Alchourrón und Bulygin der Auffassung, dass Kelsen (insbesondere in seinem späteren Werk) die expressive Normkonzeption vertreten hat. Hierfür scheint vor allem Kelsens Annahme der Dubislav’schen Maxime Kein Imperativ ohne Imperator [Dubislav 1937] zu sprechen, wodurch das Normative mit dem (illokutionären) Sprechakt des Befehlens in Verbindung gesetzt zu werden scheint. Diese Interpretation von Kelsens Theorie ist indes aus zwei Gründen abzulehnen. Erstens ist sie mit Kelsens Oevre als Ganzem nur schlecht vereinbar: Die Kritik an die (Austin’sche) Auffassung, Rechtsnormen seien Imperative, ist ein häufig vorkommender Topos in Kelsens (ebenso wie in Harts) Werken. Zweitens ist sie mit Kernpassagen aus der Allgemeine[n] Theorie der Normen offenbar inkompatibel. Im Kap. 41 unterscheidet Kelsen z.B. zwischen Sätzen (als Produkten von Sprechakten) einerseits und Normen bzw. Aussagen als deren Sinnen (oder Bedeutungen) andererseits: „Die Norm [bzw. die Aussage], die der Sinn des Willensaktes [bzw. des Denkaktes] ist, ist die Bedeutung des Satzes, der Das Produkt des Sprechaktes ist, in dem der Sinn des Willensaktes [bzw. des Denkaktes] zum Ausdruck kommt.“ Dadurch, dass Kelsen die Norm bzw. der Sinn des Willensaktes mit der Bedeutung eines Satzes identifiziert, scheint er auf den ersten Blick eine hyletische Normkonzeption anzunehmen. Doch schon wenige Sätze später führt er den Unterschied zwischen Aussagen und Normen auf die beschreibenden bzw. vorschreibenden Funktionen der entsprechenden Sätze zurück, was wiederum im Sinne von Alchourrón und Bulygin eine expressive, illokutionäre Normkonzeption nahezulegen scheint. Entscheidend für die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist die Klärung dessen, was Kelsen mit „Bedeutung des Satzes“ bzw. mit „Sinn des Willensaktes“ (bzw. des Denkaktes) verstehen will. Erhellend ist dabei eine Beobachtung Opałeks, nach dem dieser Sinn „kein Begriff der Semantik [ist], nicht der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks, sondern der Sinn der empirischen Tatsachen [...]. Der Begriff ist evident neukantischer Herkunft: Es handelt sich hier um einen überempirischen Soll-Sinn der empirischen Tatsachen [...]“ [Opałek, 1980, 22]. Opałek verweist dabei auf eine Passage am Ende desselben Kap. 41:

Der Sache nach ist auch die Aussage über eine Norm eine Seins-Aussage: die Aussage über das spezifische Sein, das Vorhandensein, die spezifische Existenz einer Norm, eines Sollens, wobei allerdings das Sein eines Sollens, die Existenz einer Norm, etwas anderes ist als das Sein, die Existenz einer Seins-Tatsache: ein ideelles, kein reales Sein, eine ideelle, keine reale Existenz. [Kelsen 1979, 130]
[17]

Die Norm als Sinn des Willensaktes ist somit weder die lokutionäre noch die illokutionäre Dimension der Semantik eines Ausdrucks, sondern im Sinne der ontologischen Auffassung perlokutionär die Weise, wie die Wirklichkeit – genauer ihre Transformation durch normsetzende Willensakte – erfasst bzw. verstanden (vgl. [Kelsen 1979, 27 f.]) wird.

[18]

Der Umstand, dass Kelsen seine Ansichten zur Anwendbarkeit der Logik auf Rechtsnormen in seinen späteren Schriften ausdrücklich geändert hat, legt auf den ersten Blick nahe, dass er ab den 1960er Jahren eine frühere, eher der semiotischen Auffassung (bzw. der hyletischen Konzeption) zuzuordnenden Normdefinition zugunsten einer ontologischen Auffassung aufgegeben hat. Eine genauere Analyse zeigt indes, dass die in der Allgemeine[n] Theorie der Normen vertretenen ontologischen Thesen schon von früh an einen wesentlichen Bestandteil von Kelsens Rechtspositivismus darstellten. Bereits in den Hauptproblemen (Erstveröffentlichung 1911) hat Kelsen geschrieben:

Auf alle mögliche Weise können Subjekte durch die kompetente Autorität verpflichtet werden: durch eine Gebärde, ein Wort, durch einen gesprochenen oder geschrieben Satz u.a.m. Da könnte denn die Frage aufgeworfen werden, warum denn gerade die eine Tatsache [von mir hervorgehoben], oder wenn man, wie üblich, an den grammatikalischen Ausdruck der Norm denkt – gerade der eine Satz als ein Sollen statuierend, d.h. also als Norm erkannt wird, der andere aber nicht? Allein dafür [...] gibt es ebensowenig eine Erklärung wie dafür, daß etwas als seien erkannt wird. 6 Insbesondere wäre es verfehlt, die Norm als solche mit irgeneiner grammatikalischen Form zu identifizieren, etwa jeden Imperativ oder jeden „Soll“-Satz als Norm zu betrachten. Die Norm als solche [...] ist überhaupt nicht an einen sprachlichen Ausdruck gebunden und kann, wenn sie in Worten erscheint, ebensogut als Imperativ wie als Infinitiv, als Soll-Satz oder als hypothetisches Urteil erscheinen. [Kelsen 1923, 70]
[19]

Wie Kelsen in der Vorrede zur zweiten Auflage der Hauptprobleme betont, wurde die Konsolidierung der Rechtswissenschaft bzw. die „Selbständigkeit des Rechts als eines Gegenstandes wissenschaftlicher Erkenntnis“, und zwar sowohl „gegen die Ansprüche einer sogenannten ‚soziologischen‘ Betrachtung [als auch] gegen die Naturrechtslehre“ [Kelsen 1923, V] zum Hauptziel seiner Arbeiten. Dabei spielte der Begriff des Rechtssatzes als eines hypothetischen Urteils eine zentrale Rolle. Dies hat wahrscheinlich dazu geführt, dass Kelsen sich zunehmend mit sprachlichen Aspekten des Normativen beschäftigt hat, was eine (wohl unbewussten) Annahme einer semiotischen Auffassung zum Normbegriff in seinen Schriften zur Folge hatte. So behauptet er in der Allgemeine[n] Staatslehre, dass der spezifisch rechtsgesetzliche Zusammenhang zwischen Bedingung und Folge im Rechtssystem nur „grammatisch durch Sätze, logisch durch Urteile“ geschehen könne [Kelsen 1925, S. 54]. Ähnlich definierte er bereits in Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (Erstveröffentlichung 1922) den Staat als ein System von Normen, „die sprachlich in Sollsätzen, logisch in hypothetischen Urteilen ausgedrückt werden“ [Kelsen 1928, 75]. Die Reine Rechtslehre (erste Auflage) versteht sodann die Rechtsnorm nicht als Imperativ, sondern als hypothetisches Urteil; „die Rechtsnorm wird zum Rechtssatz“ [Kelsen, 2008, 33 f.]. Dies führt Kelsen schließlich zur Ansicht, dass die Logik indirekt auf Rechtsnormen angewendet werden kann, indem sie auf die Rechtssätze, also auf die das Recht beschreibenden hypothetischen Urteile gewiss angewendet werden kann (vgl. [Kelsen/Klug 1981, 29]; [Kelsen 2017, 147].

[20]

Die Lektüre von Klugs Juristische Logik [Klug 1951] und der darauffolgenden Briefwechsel haben Kelsen dazu bewegt, sich die Frage nach der Beziehung zwischen Logik und Recht genauer anzuschauen. Gegenstand der Diskussion war am Anfang bloß, ob die Logik im Sinne Klugs direkt oder im Sinne Kelsens nur indirekt auf das Recht anwendbar sei. Durch die Auseinandersetzung mit Klugs Argumenten bemerkte Kelsen allmählich, dass Klugs Ansichten auf einer eigentlich ungerechtfertigten Gleichsetzung von Rechtsnorm und Rechtssatz fußten, die er, wie soeben dargelegt, zwar spätestens seit der ersten Auflage der Reinen Rechtslehre selbst vertreten hat, nun aber in Frage stellen wollte. In einem Brief vom 28.07.1959 an Klug zog Kelsen das Fazit:

Aus all dem scheint mir zu folgen, daß die Prinzipien der Logik auf Normen nicht direk t anwendbar sind und daß es legitim ist, zu fragen, wie es möglich ist, daß logische Prinzipien dennoch auf Normen angewendet werden und seit jeher angewendet wurden. Nur wenn man den Unterschied ignoriert, der zwischen Normen und Aussagen über Normen besteht, kommt einem diese Frage und die Notwendigkeit ihrer Beantwortung nicht zu Bewußtsein [Kelsen/Klug 1981, 37].
[21]

Im darauffolgenden Brief Kelsens (ab welchem der Briefwechsel konkret bis 1965, also bis zur Übersendung von Kelsens Manuskript Recht und Logik [Kelsen 1965] pausiert wird) werden die Kernaspekte der ontologischen Auffassung, wie sie in seinen späteren Werken formuliert werden, bereits ausdrücklich vertreten: „Der Geltungswert entspricht nicht dem Wahrheitswert“; er bedeute vielmehr die „spezifische Existenz“ der Norm; die Prinzipien der Logik seien auf das Verhältnis zwischen Rechtsnormen nicht anwendbar usw. [Kelsen/Klug 1981, 42 ff.].

[22]

Das Problem mit dieser Beschreibung ist, dass er den Eindruck erweckt, Kelsen hätte aufgrund seiner Theorie des Rechtssatzes die ontologische Auffassung bis zu dieser späteren Phase ganz aufgegeben. In Wahrheit ist sie konsequent in der Gesamtheit seines ouvré zu finden. In Der soziologische und der juristische Staatsbegriff behauptet Kelsen bspw.: „Man kann [...] von einem Sein des Sollens sprechen. Nur ist es eben ein andersartiges Sein als das der Natur. Dann kann man auch eine „Realität“ des Staates oder des Rechts behaupten, nur daß dabei nicht eine Verwechslung mit der spezifischen Realität der Natur unterlaufen darf“ [Kelsen 1928, 76]. Bereits in den ersten Seiten der ersten Auflagen der Reinen Rechtslehre wird die ontologische Auffassung deutlich vertreten:

Recht ist ein gesellschaftliches Phänomen [...]. Analysiert man nämlich irgeneinen der als Recht angesprochenen Sachverhalte, wie etwa einen Parlamentbeschluß, einen Verwaltungsakt, ein richterliches Urteil, ein Rechtsgeschäft, ein Delikt, so kann man zwei Elemente unterscheiden: das eine ist ein in Zeit und Raum vor sich gehender, sinnlich wahrnehmbarer Akt, ein äußerer Vorgang, zumeist menschlichen Verhaltens; das andere ein diesem Akt oder Vorgang gleichsam innewohnender oder anhaftender Sinn, eine spezifische Bedeutung. In einem Saal kommen Menschen zusammen, halten Reden, die einen erheben sich von ihren Plätzen, die anderen bleiben sitzen; das ist der äußere Vorgang. Sein Sinn: daß ein Gesetz beschlossen wird. [Kelsen, 2008, 16 f.]
[23]

Und in der zweiten Auflage heißt es:

Mit dem Worte „Geltung“ bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm [...]. Wird die spezifische Existenz der Norm als ihre „Geltung“ bezeichnet, so kommt damit die besondere Art zum Ausdruck, in der sie – zum Unterschied vom dem Sein natürlicher Tatsachen – gegeben ist. Die „Existenz“ einer positiven Norm, ihre Geltung, ist von der Existenz des Willensaktes, dessen objektiver Sinn sie ist, verschieden. Die Norm kann gelten, wenn der Willensakt, dessen Sinn sie ist, nicht mehr existiert. [Kelsen 2017, 35 f.]
[24]

Aus diesen Erwägungen ist zu folgern, dass Kelsens spätere Ansichten anders als häufig angenommen in Wahrheit keinen echten Bruch mit seinen früheren Thesen darstellen. Insbesondere hat der Autor der Reinen Rechtslehre in seinen letzten Werken seine Auffassung hinsichtlich des Normbegriffs nicht wirklich geändert, sondern vielmehr verfeinert.7 Die damit einhergehende skeptische Position zur Anwendbarkeit der Logik auf das Recht war aus dieser Perspektive eine natürliche und konsequente Folge von Kelsens Rechtspositivismus bzw. ein natürliches Ergebnis der Reinen Rechtslehre.

4.

Schlussbemerkungen ^

4.1.

Folgen für den Aufbau der Normenlogik ^

[25]

Bei den meisten Systemen der Normenlogik, dabei insbesondere bei denjenigen, die auf – monotonischen oder nichtmonotonischen – modallogischen Strukturen basieren (deontische Logik in einem engeren Sinne) und in denen das Normative anhand entsprechender (Modal-)Operatoren abgebildet werden, wird offenbar die semiotische Auffassung zum Normbegriff bzw. die hyletische Normkonzeption (wenn auch häufig nur implizit) angenommen. Die semiotische Auffassung ist also in ihrem hyletischen Teil kompatibel mit der Vorstellung einer eigentümlichen Logik des Normativen im üblichen Sinne. Bei einer direkten Anwendung der klassischen Logik auf Rechtsnormen (etwa wie von Klug oder Tammelo vertreten) wird die hyletische Konzeption ebenso angenommen.

[26]

Wie Alchourrón und Bulygin betonen, führt die expressive Normkonzeption zur Unmöglichkeit einer eigentlichen Normenlogik; denn zwischen Normen bestünden keinerlei logische Beziehungen: „For the expressive conception there can be no logic of norms, because there are no logical relations among norms“ [Alchourrón/Bulygin 1981, 98 f.]. Nichtsdestotrotz ist die expressive Normkonzeption kompatibel mit dem Aufbau einer uneigentlichen Normenlogik, wobei hier zwei Möglichkeiten zur Auswahl stehen: Die erste ist die indirekte Anwendung der klassischen, deskriptiven Logik auf Rechtsnormen – im Sinne Dubislavs durch die Anwendung der Logik auf Aussagen über die Erfüllung oder Verletzung von Rechtsnormen (vgl. [Dubislav 1937] dieselbe Idee auch bereits in [Radbruch 1967, 14] – Erstveröffentlichung 1903); im Sinne Kelsens durch die Anwendung der Logik auf das Recht beschreibende Aussagen der Rechtswissenschaft (sog. Rechtssätze, vgl. [Kelsen 2017, 115 f.], [Kelsen 1979, 18]). Die zweite ist der Aufbau eines Metaformalismus, in dem logische Schlussfolgerungen unter Normen auf der Basis der Menge der logischen Folgen der jeweils für geltend anerkannten Normen (genauer der logischen Folgen ihrer Inhalte] definiert werden. Beispiele für diesen Ansatz sind die normativen Systeme (normative systems) von Alchourrón und Bulygin [Alchourrón/Bulygin 1971], Jörg Hansens imperativische Semantik [Hansen 2008], sog. Rulebooks [Censi et al. 2019] und nicht zuletzt die sog. Input/Output-Logik und ihre vielen Varianten (vgl. hierfür etwa [Parent/Torre 2018]).8

[27]

Die ontologische Auffassung zum Normbegriff scheint wiederum zur Ablehnung jeglicher Möglichkeit einer (eigentlichen oder uneigentlichen) Logik des Normativen zu führen; denn logische Ableitungen können keine Wirklichkeit erschaffen – auch nicht diejenige Form der normativen Wirklichkeit, die man Geltung nennt. Aus der Perspektive der ontologischen Auffassung zum Normbegriff gleicht die logische Ableitung einer Norm (bzw. ihrer Geltung) einem ontologischen Argument – z.B. einem Gottesbeweis – bei dem die Existenz eines Wesens durch reine Schlussfolgerungen vermeintlich bewiesen wird. Um zu existieren, also um zu gelten, muss die Norm erschaffen werden, was nur durch einen Befehlsakt, nicht durch reine Logik passieren kann. Dementsprechend sind Weinbergers Prognosen zu den Folgen von Kelsens späteren Auffassungen in der Allgemeine[n] Theorie der Normen für den Aufbau der Normenlogik bzw. für die analytische Rechtsphilosophie ausgesprochen pessimistisch:

Wenn die strukturtheoretisch orientierte Rechtsphilosophie weiterleben soll, müssen Kelsens neue Konzeptionen ins richtige Licht gestellt werden. Ich möchte sogar noch eine stärkere These wagen, die durch meine Untersuchungen belegt werden soll: Kelsens neue Konzeption entzieht durch ihre irrationalistische Einstellung gegenüber der Normenlogik der analytischen Rechtsphilosophie vollends den Boden. [Weinberger 1981, 7]

Abbildung 1: Auffassungen zum Normbegriff und ihr Bezug zum Aufbau der Normenlogik

[28]

Dabei scheint Weinberger zu übersehen, dass die ontologische Auffassung zum Normbegriff doch eine letzte Tür für eine formale, nach strengen Methoden betriebene Rechtswissenschaft offenlässt. Auch wenn Normen als abstrakte Gegenstände nicht den Gesetzen der reinen Logik unterworfen sind, so kann man dennoch eine formale Normtheorie aufbauen, die auf Grundprinzipien der allgemeinen Norm- sowie der Rechtstheorie basiert und anhand empirischer Daten verfeinert wird. Eine solche formale Normtheorie (im Bereich des Rechts eine Metajurisprudenz) hätte also mehr mit Physik oder mit formaler Zahlentheorie als mit reiner Logik zu tun.9 Ihr Ziel wäre es, in Anbetracht der juristischen Methodenlehre, der Rechtstheorie und der Rechtspraxis nach strengen quantitativen Methoden richtige Vorhersagen über die Entscheidung von Rechtsfällen zu treffen.10 Auf dieser Basis könnte man versuchen, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen ein Urteil (also eine spezifische Norm für einen konkreten Fall) aus allgemeinen Rechtsnormen gefolgert werden kann, womit man im Idealfall approximativ eine Normenlogik gewinnen könnte.

[29]

Die oben diskutierten Beziehungen zwischen der Annahme einer spezifischen Auffassung zum Normbegriff und dem Aufbau der Normenlogik werden auf Abbildung 1 schematisch dargestellt.

4.2.

Rechtspositivismus und Normontologie ^

[30]

Die Annahme einer ontologischen Auffassung zum Normbegriff und die damit einhergehenden Einschränkungen hinsichtlich des Aufbaus einer Logik des Normativen ergeben sich konsequent aus Kernaspekten des Rechtspositivismus, wie er von Kelsen vertreten wurde. Darunter zu betonen ist insbesondere die (ideelle [Kelsen 1979, 22 f.]) Existenz des Rechts, d.h. ihre Positivität [Kelsen 1979, 189] die sich allen voran durch die das Recht erzeugenden Setzungsakte sowie durch den Aspekt der Wirksamkeit von Rechtsnormen zeigt. Zur Unterscheidung zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtslehre schreibt Kelsen:

In bewußter Opposition zu metaphysischer Spekulation beschränkt der Positivismus den Gegenstand der Erkenntnis auf das durch äußere und innere Erfahrung Gegebene und in diesem Sinn real oder ideell Vorhandene als das allein Erkennbare. Die Naturrechtslehre ist eine Metaphysik des Rechts, während der Rechtspositivismus nur ein Wissen vom Recht gelten läßt, dessen Gegenstand das positive, das heißt durch menschliche Willensakte: durch Gesetzgebung und Gewohnheit, erzeugte Recht. [Kelsen 1962, 316]
[31]

Diese Ansicht führt auf natürliche Weise zum von Kelsen in Anlehnung an Dubislav [Dubislav 1937, 335] allmählich angenommenen Prinzip Kein Imperativ ohne Imperator [Kelsen 1979, 3 bzw. 22 f.]. Unter Annahme dieses Prinzips kann die Logik allein die Geltung von Rechtsnormen nicht ableiten bzw. begründen; denn das logische Ableiten ist kein Willensakt. Einer bloß logisch abgeleiteten Norm fehlt also gerade die Positivität: Sie ist keine positive, d.h. wirklich existierende bzw. gegebene Rechtsnorm, weil es keinen Willensakt gibt, dessen Sinn sie ist [Kelsen 1979, 186 ff.].11

[32]

Schließlich ist die ontologische Auffassung bzw. die skeptische Position zur Möglichkeit einer Logik des Normativen auch mit Kelsens relativistischen Ansichten zum Begriff der Gerechtigkeit vereinbar. Kelsen leitet den Schluss seines im Jahre 1953 erschienenen Versuchs Was ist Gerechtigkeit? mit den Worten:

Wenn die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns irgend etwas lehren kann, ist es die Vergeblichkeit des Versuches, auf rationalem Wege eine absolut gültige Norm gerechten Verhaltens zu finden, d.h. aber eine solche, die die Möglichkeit ausschließt, auch das gegenteilige Verhalten für gerecht zu halten. [Kelsen 2000, 49]
[33]

Mit einer vollständig aufgebauten Logik des Normativen sollte man indes imstande sein, auf rationalem Wege (also durch logische Deduktion) konkrete, individuelle Normen aus abstrakten, allgemeinen Normen zu gewinnen. Damit müsste es aber möglich sein, aus für gültig anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien – etwa den ulpianischen Grundsätzen des Corporis Iuris Civilis (honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere), der sog. goldenen Regel oder gar dem kantischen kategorischen Imperativ – das moralisch richtige Verhalten in konkreten Situationen logisch abzuleiten. Da Kelsen dies für unmöglich hält, bezeichnet er diese Prinzipien als inhaltsleere Formeln der Gerechtigkeit. In Ermangelung einer gesetzgebenden, praktischen Vernunft – und, wie sich herausstellt, a fortiori auch einer eigentlichen Normenlogik – führen Kelsens Ansichten zu einer relativistischen Wertlehre, die trotzdem auf einem moralischen Grundprinzip fußt: dem Prinzip der Toleranz, unter dem, wie Kelsen betont, Wissenschaft, Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können [Kelsen 2000, 52]. Kelsens Lehre ist somit zwar mit dem Aufbau einer eigentlichen Normenlogik inkompatibel, aber nicht, wie schon oben betont, mit der Vorstellung einer nach strengen Methoden geführten (Moral- bzw.) Rechtswissenschaft. Wahrscheinlich würde sich Kelsen dem Vater der (übrigens der deutschen Rechtsphilosophie des 20. Jhdt. sehr nahestehenden) Schule von Münster für mathematische Logik in seiner (von Fichte paraphrasierten) Toleranzmaxime anschließen: „Was für eine Logik man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist“ [Scholz/Hasenjaeger 1961, 12].

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  1. 1 Aus dem altgriechischen ὕλη („hüle“) – „Stoff“ oder „Materie“; der Begriff ist aristotelischer Prägung und geht auf seine Theorie, dass Substanz aus Materie und Form besteht (sog. Hylemorphismus). Vgl. etwa [Aristoteles, Met. 7. 1029a].
  2. 2 Ota Weinberger distanziert sich ausdrücklich von dieser Einstufung in [Weinberger 1985, S. 169]. Insbesondere kritisiert er die in der hyletischen Konzeption beinhaltete These, dass Normen als platonische Gegenstände unabhängig von jeglicher (Anwendung von) Sprache existieren könnten.
  3. 3 Eine ähnliche Idee wurde bereits in [Hare 1949] präsentiert. Hare unterscheidet zwischen Dictors und Descriptors. Diese beziehen sich auf den ausgedrückten Inhalt, jene auf den Modus (Indikativ, Imperativ) des Ausdrucks. Als Dictors führt Hare yes und please an. Dementsprechend ist (Φ, yes) eine Aussage, (Φ, please) eine Norm. Während Hare (anders als Alchourrón und Bulygin) die Anwendung logischer Operatoren auf Ausdrücke wie Φ, yes und Φ, please zulässt, betont er, dass die Dictors i.d.R. ignoriert werden können (sog. „principle of the dictive indifference of logic“): logische Ableitungen betreffen nur die Descriptors und sind daher von Wahrheitswerten (die ja auf den indikativen Dictor zurückzuführen sind) unabhängig [Hare 1949, 36 f.]. Diese Gedanken werden in [Hare 1952] weiterentwickelt. Dabei unterscheidet Hare zwischen „phrastic“ (Descriptors) und „neustic“ (Dictors) Bestandteile eines Ausdrucks.
  4. 4 Vgl. hierfür [Austin 1979, 112 ff.].
  5. 5 Der Mangel einer detaillierteren Analyse der perlokutionären Dimension von Befehlen, d.h. der Folgen entsprechender Sprechakte in [Alchourrón/Bulygin 1981] wird auch von [Weinberger 1985, 171] bemerkt.
  6. 6 Vgl. [Kelsen 1979, 48]: „Der Begriff des Sollens kann ebensowenig definiert werden wie der Begriff des Seins.“
  7. 7 Ähnlich vertritt [Trivisonno, 2021] die These, dass Kelsen – anders als häufig angenommen – seine Ansichten zur Definition der Grundnorm nicht am Anfang der 1960er Jahre geändert hat.
  8. 8 Die in [Ciabattoni/Parent/Sartor 2021] vorgeschlagene, aus der Perspektive von Kelsens späten Ansichten zur Beziehung zwischen Logik und Recht durchaus profan klingende Kelsenian Deontic Logic basiert ebenfalls auf einer Form von I/O-Logik. Insofern wäre sie im Rahmen einer Interpretation von Kelsens Theorie im Sinne der expressiven Normkonzeption nach Alchourrón und Bulygin zu rechtfertigen.
  9. 9 Die Möglichkeit eines solchen Ansatzes scheint bereits von Leo Reisinger erkannt worden zu sein. Für Reisinger können drei mögliche Ansätze zur Formalisierung des Rechts verfolgt werden: „1. Ein linguistischer Ansatz, welcher davon ausgeht, daß Rechtsnormen in Sätzen einer natürlichen Sprache formuliert sind. Aus diesem Grunde können [...] die Methoden der Strukturalen Linguistik zur Formalisierung verwendet werden. 2. Ein formallogischer Ansatz, welcher die Rechtsnormen in einem der üblichen Kalküle, nämlich dem Aussagen-, Klassen- oder Prädikatenkalkül oder einem eigens für Normen konstruierten deontischen Kalkül darzustellen versucht. 3. Ein mathematischer Ansatz, welcher mittels quantitativer Beziehungen eine Formalisierung anstrebt“ [Reisinger 1975, 37]. Der erste Ansatz entspräche heutzutage den Versuchen, die auf dem Einsatz statistischer Methoden auf großen Datenmengen im Sinne der Computerlinguistik basieren. Der zweite Ansatz ist die Normenlogik. Schließlich scheint der dritte Ansatz der hier vorgeschlagenen formalen Normtheorie zu entsprechen.
  10. 10 Etwa nach einem Vorschlag von Holmes, wonach der Gegenstand der Rechtswissenschaft (Jurisprudence) darin besteht, Vorhersagen (predictions) zu treffen, genauer: „[T]he prediction of the incidence of the public force through the instrumentality of the courts“ [Holmes 1897, 457].
  11. 11 Insbesondere betont Kelsen, dass der Willensakt, dessen Sinn die individuelle Norm ist, nicht in dem Willensakt impliziert ist, dessen Sinn die generelle Norm ist [Kelsen 1979, 188 f.]. In einem Brief an Klug vom 20.07.1965 betont Kelsen ferner: Ein Computer, der Normen logisch ableiten würde, „liefert nicht die individuelle, die Partei verbindliche Rechtsnorm, sondern sagt nur dem zur Setzung dieser Norm kompetenten Organ, welche individuelle Norm der anzuwendenden generellen Norm entspricht. Wenn dieses Organ die von dem Computer angezeigte ‚Norm‘ aus irgendeinem Grunde nicht durch seinen Willensakt setzt, dessen Sinn diese Norm ist, gilt sie nicht; und ihre der Partei verbindliche Geltung kann nicht im Wege einer logischen Denk-Operation oder gar einer Operation des Computers erzielt werden“ [Kelsen/Klug 1981, 90].