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Normative Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze (einige Diskussionsthesen)

  • Author: Marijan Pavčnik
  • Category of articles: Legal Theory
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2024
  • DOI: 10.38023/4eaae9f1-8c7c-4d57-af3d-3979480cf435
  • Citation: Marijan Pavčnik, Normative Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze (einige Diskussionsthesen), in: Jusletter IT 28 March 2024
It is well known that there exists a greater or smaller similarity (analogy) between the abstract regulative and the concrete applicative levels of law. It is also known that the constitution and the statutes can not be automatically normatively concretised and mechanically applied at the lower levels of law and in concrete social relationships. The mentioned path is made essentially easier if one regularly supports oneself on adequate guidelines that fill the analogy (similarity) and at the same time make it possible to seek and find the measure of law. − The basic guidelines for concretising the single stages of legal order as to their content are the constitutional and statutory legal principles. It lies in the nature of principles that they are value measures guiding the definition of legal norms as to their content, their understanding and the manner of their fulfilment. Among the constitutional principles, special weight belongs to human dignity and to the rule of law. Concerning the fulfilment of rights and the prohibition of abuse of rights (in the law of obligations), the principle of good faith and confidence is of special importance.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Umriss und Begrenzung des Problemfeldes
  • 2. (Einige) Richtlinien der normativen Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze
  • 3. Normative Konkretisierung subjektiver Rechte und Verbot deren Missbrauchs
  • 4. Hominum causa omne ius constitutum

1.

Umriss und Begrenzung des Problemfeldes ^

[1]

Es ist bekannt, dass zwischen der abstrakten regulierenden und der konkreten anwendenden Ebene des Rechts mal eine größere, mal eine kleinere Ähnlichkeit (Analogie) besteht. Die Verfassung und die Gesetze kann man nicht automatisch normativ konkretisieren und sie mechanisch auf den niedrigeren Ebenen des Rechts und in den konkreten Gesellschaftsverhältnissen anwenden. Der Weg, den ich beschreibe, wird wesentlich dadurch erleichtert, dass man sich regelmäßig auf entsprechende Maßstäbe stützt, die die Ähnlichkeit füllen und es zugleich ermöglichen, das Maß des Rechts zu suchen und zu finden.

[2]

Die Arten der Ausübung von Rechten und Pflichten beziehen sich auf den Aufbau der allgemeinen und abstrakten Rechtsnormen, die in der Verfassung und den Gesetzen enthalten sind. Der Ausgangspunkt sind die primäre und die sekundäre Art des Tuns und Verhaltens. Die primäre Art bedeutet, dass man die Erlaubnisse, Gebote und Verbote ausübt, wenn man sich in konkreten Sachverhalten vorfindet, welche die Beispiele der abstrakten Tatbestände auf einer konkreten Ebene darstellen. Wenn es zu rechtlichen Verletzungen der primären Arten des Tuns und Verhaltens sowie zu Konflikten in diesem Zusammenhang kommt, muss man die sekundären Möglichkeiten des Tuns und Verhaltens aktivieren. Diese beziehen sich auf eine freiwillige und schließlich auch auf eine zwangsmäßige Verwirklichung der Sanktionsmechanismen.

[3]

Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, sich mit einzelnen Formen der primären und sekundären Art des Tuns und Verhaltens auseinanderzusetzen. Ebenso wenig ist es dessen Absicht, über die normative Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze durch allgemeine Rechtsakte zu sprechen. Sein zentrales Anliegen ist es, wenigstens beispielsweise die Richtlinien aufzudecken, welche die normative Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze lenken.

2.

(Einige) Richtlinien der normativen Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze ^

[4]

4. Die normative Konkretisierung der Verfassung, der Gesetze und anderer normativer – sowohl allgemeiner als auch individueller – Rechtsakte wird durch den Stufenbau der Rechtsordnung eingerahmt. Das Grundmerkmal der Stufenfolge ist es, dass die höhere Stufe den normativen Rahmen bildet, innerhalb dessen sich die niedrigere Stufe bewegen muss. Die höchste Stufe (in einem Staat ist das die Verfassungsebene) ist voll schöpferisch, die niedrigeren Stufen wenden den normativen Rahmen der höheren Stufen an und sind zugleich schöpferisch innerhalb der von diesem Rahmen erlaubten Grenzen. In der Sprache der Merkl-Kelsenschen Theorie über den Stufenbau des Rechts sind die Akte der niedrigeren Ebenen Akte der Anwendung und der Schöpfung des Rechts.1

[5]

Die höhere Stufe determiniert die niedrigere Stufe durch Rechtsprinzipien, die sie normativ konkretisieren soll. Außerdem determiniert sie sie auch durch Normen, die erlauben, was rechtlich reguliert werden sollte, durch Normen, die gebieten, was der Gegenstand der rechtlichen Regulierung sein soll, und durch Normen, die verbieten, dass etwas auf einer niedrigeren Ebene reguliert wird.

[6]

Grundsätzlich kann man sagen, dass der normative Rahmen abstrakter und weniger detailliert ist, wenn es sich um die höchste Stufe handelt. Die Detailliertheit und Richtungsweisung des normativen Rahmens ist umgekehrt proportional zur Stufenhöhe der Rechtsordnung. Der Spielraum der niedrigeren Stufe ist umso enger, je niedriger man sich auf der Stufenleiter befindet.

[7]

Wenn ich etwas mehr ins Detail gehe, ist die höhere Stufe diejenige, die die Subjekte und das Verfahren definiert, innerhalb dessen das zuständige Organ die niedrigere Stufe gestalten soll, und in einem bald größeren bald kleineren Maße auch den Inhalt bezeichnet, an den die niedrigere Stufe gebunden sein soll. Der höhere Akt (etwa ein Gesetz) kann nie dermaßen bestimmt den Inhalt eines individuellen Rechtsaktes (etwa eines Urteils oder eines Vertrags) vorhersehen, dass dieser nicht Recht gestalten würde (man muss wenigstens den Fall, an den die Rechtsfolge gebunden ist, individualisieren), während andererseits die Bestimmung eines individuellen Rechtsaktes nicht so unvollkommen sein kann, dass der individuelle Akt (etwa ein Urteil) das Recht gar nicht anwenden würde (man muss wenigstens das Organ, das es gestalten sollte, bestimmen).

[8]

Für die Rechtsanwendung in konkreten Fällen ist es wesentlich, dass sich der Schöpfer des Rechtsaktes (etwa eines Urteils) immer innerhalb eines normativen Rahmens bewegt, der nicht ganz bestimmt oder unbestimmt sein kann. Die relative Bestimmtheit (Unbestimmtheit) dieses Rahmens macht es möglich, dass der Gestalter des niedrigeren (engeren) Aktes schöpferisch oder mitschöpferisch agiert. Der Rahmen kann planmäßig oder unabsichtlich (un)bestimmt sein: es kann dazu kommen, wenn die Wörter mehrdeutig sind oder wenn es keine Übereinstimmung zwischen dem Willen und seinem äußerlichen Ausdruck gibt oder wegen eines Konflikts von zwei oder mehreren Rechtsnormen. In unserem Fall ist es wichtig, dass die Bedeutung der Rechtsnorm nicht eindeutig ist: der Gebraucher des allgemeinen Rechtsaktes bewegt sich innerhalb eines sprachlichlichen Raums, der mehrere Möglichkeiten der Anwendung der Norm zulässt.2

[9]

Kelsens Reine Rechtslehre befasst sich nicht mit dem Inhalt, der die niedrigere Stufe auffüllen sollte, weil das ihre Tragweite und theoretischen Bestrebungen übersteigen würde. Wenn man diesen Aspekt wegdenkt, steht jedoch allenfalls eine Konstruktion vor uns, die man schöpferisch anwenden kann.

[10]

Der normative Rahmen der einzelnen Stufen des Rechts führt uns – nolens volens – zu den Rechtsprinzipien und Auslegungsargumenten, die inhaltliche Antworten verlangen. Wenn man zunächst bei den Rechtsprinzipien verweilt, soll man sagen, dass sie Wertmaßstäbe sind, die die inhaltlichen Definitionen der Rechtsnormen, deren Verständnis und die Art deren Durchführung lenken.3 Die Wertmaßstäbe sind entweder als Richtlinien bereits in den allgemeinen Rechtsakten selbst enthalten oder es handelt sich um Prinzipien (d.h. Wertmaßstäbe), die sich in der Rechtspraxis durchgesetzt haben, bzw. um Prinzipien, die ein Ergebnis der wissenschaftlichen Systematisierung und Erforschung der Rechtsmaterie sind. In erster Linie kommen de iure verpflichtende Rechtsprinzipien in Frage, die als Wertmaßstäbe bereits vom Gesetzgeber definiert wurden (obligatorische Rechtsprinzipien).

[11]

Die Wertmaßstäbe, die in den Rechtsprinzipien ausgedrückt werden, können prozessionaler Natur sein (vgl. Art. 153 ff. der Verfassung der Republik Slowenien) oder haben auch mit manchem Grundrecht in Art. 14 ff. der Verfassung der Republik Slowenien zu tun, wenn der Schwerpunkt darin liegt, wie man gesetzgeberisch handeln soll, damit der Inhalt des Rechtsaktes möglichst durchdacht und qualitativ hochwertig wird. Die andere Seite der Rechtsprinzipien sind Wertmaßstäbe (etwa das Prinzip des Sozialstaates), die durch allgemeine und abstrakte Rechtsnormen operationalisiert und inhaltlich angenähert werden. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass Robert Alexy die Prinzipien als Optimierungsgebote definiert, die durch Normen möglichst weitgehend verwirklicht werden.4

[12]

In einem anderen Zusammenhang habe ich bereits gesagt, das das Recht nicht nur ein System von Rechtsnormen ist, sondern »dass das Recht ein System von ganzheitlich wirksamen Rechtsnormen und -prinzipien ist, die das äußere Tun und Verhalten von einzelnen Menschen und deren Vereinigungen in lebenswichtigen Gesellschaftsverhältnissen regeln.«5 Die Reihenfolge, die an erster Stelle Rechtsprinzipien anführt, ist nicht zufällig und hat ein entscheidendes Gewicht auf dem Gebiet der Auslegung von Rechtsakten. Die Auslegungspriorität liegt bei den Rechtsprinzipien, denen die Rechtsnormen folgen und sie möglichst normativ konkretisieren sollten.

[13]

Ein besonderer Aspekt des Gewichts der Rechtsprinzipien und deren Auslegungspriorität ist auch das Verhältnis zu subjektiven Rechten und Rechtspflichten. Die Rechtsstaatlichkeit verlangt, dass alle subjektiven Rechte und Rechtspflichten bereits in der Verfassung geregelt werden. Dieser Gesichtspunkt wird deutlich im deutschen Grundgesetz hervorgehoben, das mit dem Kapitel über die Grundrechte beginnt. Wenn die Rechte und Rechtspflichten nicht grundlegend sind, müssen sie durch Gesetze geregelt werden. Die slowenische Verfassung ist sich dessen bewusst und schreibt in Art. 87 wohlbegründet, dass die Staatsversammlung die Rechte und Pflichten von Staatsbürgern und anderen Personen nur durch Gesetz bestimmen kann.6 Unterhalb des Gesetzes stehende Rechtsakte (z. B. Verordnungen) dürfen in dieses Gebiet nicht eingreifen. In diesem Sinne ist das deutsche Grundgesetz sehr lehrreich, das dem Gesetzgeber auferlegt, den »Inhalt, Zweck und Ausmaß«7 der rechtlichen Regulierung, zu der er den Verordnungsgeber ermächtigt, im Gesetz zu bestimmen (Art. 80/1).

[14]

In Slowenien wird eine ähnliche Einschränkung im Gesetz über die Regierung der Republik Slowenien eingeführt.8 Eine Verordnung ist ein allgemeiner Rechtsakt, mit dem die Regierung »die im Gesetz oder einem anderen Akt der Staatsversammlung bestimmten Verhältnisse entsprechend der Absicht und den Kriterien aus dem Gesetz bzw. einer anderen Vorschrift eingehender regelt und aufgliedert« (Art. 21/1). Das Gesetz hebt besonders hervor (d.h. akzeptiert die Einschränkung), dass eine Verordnung »zur Verwirklichung der Rechte und Pflichten von Staatsbürgern und anderen Personen nur auf der Grundlage einer ausdrücklichen Vollmacht im Gesetz erlassen werden kann«9 (Art. 21/2). Ermutigend ist auch die Tatsache, dass auch in unserer ehemaligen verfassungsgerichtlichen Praxis der Standpunkt angenommen wurde, dass der Eingriff in ein subjektives Recht die Grenze ist, die ein unter dem Gesetz stehender Rechtsakt nicht überschreiten darf.10

[15]

In engem Zusammenhang mit der Bedeutung der Rechtsprinzipien bestehen einzelne Auslegungsargumente, die ebenfalls zu einer normativen Konkretisierung der Verfassung und der Gesetze qualitativ beitragen können. Die moderne Auslegungstheorie hat als Ausgangspunkt von Savignys Auslegungsmethoden11, d.h. die sprachliche, logische, historische systematische und teleologische Auslegung. Für von Savigny ist es charakteristisch, dass er über Auslegungselemente sprach, wobei er anfangs das teleologische Element nicht anführte. Eine eingehendere Aufgliederung zeigt, dass er das teleologische Element bei der Auslegung eines unbestimmten und ungenauen Ausdrucks benutzte. Gemäß von Savigny konnte man unter einzelnen Auslegungselementen nicht beliebig auswählen: »man hat es vielmehr mit verschiedenen Tätigkeiten zu tun, die vereinigt12 wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll«.13

[16]

Die Situation, dass die Auslegungsargumente vereinigt wirken, ist ein idealer Zustand, den man in der Praxis oft nicht erreichen kann. In der Theorie gab es zahlreiche Versuche, wie man unter der Argumenten eine hierarchische Stufenleiter herstellen könnte. Es gibt nahezu so viele Antworten, wie es Autoren gibt, die sich mit dem Problem befassen. Ein einigermaßen verlässlicher gemeinsamer Nenner ist, dass das Ergebnis der Auslegung, wenn möglich, von allen Auslegungselementen beleuchtet sein soll, dass es sich um eine sprachlich mögliche Bedeutung handeln soll und dass man sich schließlich für jenes Argument entscheiden soll, das auch von der teleologischen Auslegung unterstützt wird.

[17]

Von einem qualitätvollen Gesetzgeber erwartet man, dass er erwägt, was und wie rechtlich (z.B. gesetzlich) geregelt werden soll und dass er auch den Auslegungstest der Voraussehbarkeit macht. Durch den Test soll überprüft werden, ob die Elemente, auf denen die einzelnen Auslegungselemente aufbauen und von denen sie hervorgehen, entsprechend in die Verfassung und die Gesetze eingebaut sind. Sollte das nicht der Fall sein, muss man die allgemeinen Rechtsakte und deren Texte inhaltlich ausbauen und verfeinern. Von besonderer Bedeutung ist es, dass man überprüft, was und in welchem Maße der Rechtsauslegung überlassen werden soll. Grundsätzlich ist es klug, dass der allgemeine Rechtsakt (noch besonders das Gesetz) taxativ die typischen Fälle, auf die er sich bezieht, anführt.

[18]

Noch direkter. Wenn die Gesetzesauslegung zur Schöpfung des Gesetzestextes mutiert, wird der Grundsatz der rechtlichen Voraussehbarkeit verletzt. Wenn das der Fall ist, ist die Pflicht der Verfassungsgerichts, einen derartigen Gesetzestext aufzuheben, falls ein entsprechendes Verfahren erhoben wird. Ein Schulbeispiel sind die Definitionen von Straftaten, die im Gesetz derart unbestimmt sind, dass nicht im Voraus bestimmbar gesagt wird, was erlaubt und was strafbar ist.14

3.

Normative Konkretisierung subjektiver Rechte und Verbot deren Missbrauchs ^

[19]

In der Fortsetzung nehme ich an, dass dem Leser die Natur des subjektiven Rechts und dessen Elemente bekannt sind und dass er ebenso den Verbot des Missbrauchs des subjektiven Rechts, dessen Elemente und die Sanktionen (Maßnahmen), die dem Missbrauch folgen sollen, kennt. Der Schwerpunkt liegt wieder bei den Maßstäben, die das subjektive Recht, dessen Ausübung und das Verbot dessen Missbrauchs konkretisieren sollen. Die Träger der normativen Konkretisierung sind der Grundsatz von Treu und Glauben und der Grundsatz des Verbots von Missbrauch des subjektiven Rechts.

[20]

Bereits Aristoteles war sich bewusst, dass eine Rechtsnorm »allgemein« ist und dass man deshalb durch sie nicht alle konkreten Fälle umfassen kann. Aristoteles sagt ausdrücklich, »der Fehler liege nicht im Gesetz und im Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache, denn so ist nun einmal die Fülle dessen, was das Leben bringt.« Derartige Mängel kann man vermeiden, wenn man als einen Maßstab des Entscheidens auch das Gütige in der Gerechtigkeit einführt. Das Gütige

»ist ein Gerechtes und ein höherer Wert als eine bestimmte
Form des Gerechten – worunter allerdings nicht das
schlechthin Gerechte zu verstehen ist, sondern das infolge
seiner allgemeinen Fassung Fehlern unterworfene Gerechte.
Und dies ist das Wesen der Güte in der Gerechtigkeit:
Berichtigung des Gesetzes da, wo es infolge seiner
allgemeinen Fassung lückenhaft ist.«15
[21]

Wenn man diesen Gedanken in die heutige Sprache übersetzt, sieht man, dass es sich bei dem Gütigen in der Gerechtigkeit um die Frage der Rechtsprinzipien (etwa um das Prinzip von Treu und Glauben im Zivilrecht) und um deren gleiche Anwendung in der Rechtspraxis handelt.

[22]

In zivilrechtlichen Verhältnissen sind die Parteien angepasst und die Rechtsnormen vorwiegend dispositiver Natur. Dispositives Recht ist nachgiebig und gilt, wenn die Parteien es nicht anders vereinbaren. Dispositives Recht setzt Tun und Verhalten, das richtig und typisch sein sollte, voraus.

[23]

In der Gerichtspraxis wurde gesagt, dass das Prinzip von Treu und Glauben »hauptsächlich als Prinzip bei der Anwendung und Auslegung von konkreten Normen dient und eine notwendige Ergänzung bei einer unvollkommenen Regulierung von Schuldverhältnissen und deren Auslegung16 und keinesfalls der Standard für eine selbstständige Bewertung eines bestimmten Verhaltens als verboten oder verwerflich ist.«17Derartige Begriffe sind elastisch und hängen inhaltlich auch mit den Umständen des Falles und den gebildeten Standards des Tuns und Verhaltens zusammen. Diese sind wiederum vielfältig und hängen inhaltlich von den sich ändernden tatsächlichen Umständen ab, weshalb man sie in einem Rechtsakt nicht relativ bestimmt definieren kann.18 Chaïm Perelman sagt, dass es sich um Begriffe mit einem sich ändernden Inhalt handelt.19

[24]

In der Gerichtspraxis gibt eine ganze Reihe von Entscheidungen, die auf diesen Gesichtspunkt des Prinzips von Treu und Glauben hinweisen. So wird gesagt, dass man den Begriff der unangemessenen Frist in jedem einzelnen Fall ausfüllen muss, wobei die Umstände des konkreten Falls und die Lage beider Parteien zu berücksichtigen sind.20 Oder: eine Partei muss die Möglichkeit haben, sich im Rahmen der zwischen den Parteien geschaffenen Praxis auf das Verhalten der Gegenpartei verlassen zu können, wenn dieses Verhalten die Grundlage für ihr eigenes Tun bedeutet.21 Oder: das Prinzip von Treu und Glauben kann auch ein Argument dafür sein, dass man eine Rechtsnorm und ihren Inhalt, die zu einem konkreten Fall passen, auswählt.22 Einen ähnlichen Standpunkt nahm auch das Oberste Gericht der Republik Slowenien ein, als es das Prinzip von Treu und Glauben als die Richtlinie hervorhob, »mit deren Hilfe man die Modalitäten eines ungenau bestimmten Erfüllungsverhaltens23 beurteilen kann.«24 Oder: eine weitere bedeutende Dimension des Prinzips von Treu und Glauben ist auch, dass man auch die Interessen der Gegenpartei berücksichtigen muss.25 Und auch: mehrere Entscheidungen berufen sich auf den typischen Sachverhalt von Treu und Glauben, dass eine Partei nicht von ihrem früheren Verhalten, das von der Gegenpartei erwartet wird, zurücktreten darf (Venire contra factum proprium.).26

[25]

Ich möchte noch etwas über das Verbot des Missbrauchs eines subjektiven Rechts sagen, das im slowenischen Gesetzbuch über Schuldverhältnisse folgenderweise formuliert wird:

»1. Subjektive Rechte aus Schuldverhältnissen sind durch die gleichen Rechte anderer beschränkt. Man soll sie gemäß der Grundprinzipien dieses Gesetzbuchs und deren Zweck ausüben.
2. Die Teilnehmer in einem Schuldverhältnis sollen bei der Ausübung ihrer Rechte auf ein Verhalten verzichten, durch welches die Erfüllung der Verpflichtungen von anderen Teilnehmern erschwert wäre.
3. Es handelt sich um eine scheinbare Ausübung eines Rechts, wenn sich sein Träger mit einer ausschließlichen oder offensichtlichen Absicht verhält, dem anderen zu schaden.«27
[26]

Diesen Grundsatz erörtere ich eingehender im Kommentar des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse.28 An dieser Stelle möchte ich den Kommentar nicht wiederholen, da ich vorwiegend daran interessiert bin, die einzelnen Gesichtspunkte herauszulösen, die die Ausübung der Rechte erleichtern und den Missbrauch der Rechte verhindern. Auf der Gesetzesebene kann man den Umfang der Rechte auf der konkreten Ebene keinesfalls im Voraus bestimmen. Die Grundberechtigungen, die die Zentralelemente der subjektiven Rechte sind, sind bald mehr bald weniger bedeutungsoffen. Die Grundverpflichtung der Parteien ist es, neben ihrem eigenen subjektiven Recht die Rechte des anderen zu berücksichtigen. Den Parteien ist es verboten, »die Erfüllung der Verpflichtungen von anderen Teilnehmern zu erschweren.«29 Die Absicht der subjektiven Rechte ist es nicht, die eigenen Berechtigungen zu überschreiten. Wenn man sich so verhält, geht es um Rechtsverletzungen, die verboten sind. Noch mehr: die Ausübung eines subjektiven Rechts ist mißbräuchlich, wenn »sich sein Träger mit einer ausschließlichen oder offensichtlichen Absicht verhält, dem anderen zu schaden.«30

[27]

Das Bedeutungsfeld, welches die Grundberechtigung umfasst und wo sie endet, ist ungenau. Das Feld der Ungenauigkeit muss man normativ konkretisieren, indem man der Absicht des subjektiven Rechts folgt, die immer auch mit einschließt, dass man die Rechte (Grundberechtigungen) des anderen berücksichtigt. Wenn ein Konflikt zwischen den Berechtigungen entsteht, müssen sich deren Träger zu jenem Punkt zurückziehen, dass auch andere in einem qualitativ gleichen Umfang ihre Berechtigungen ausüben können.

[28]

Wenn der Träger des subjektiven Rechts diesen Gesichtspunkt nicht berücksichtigt, ist die Verpflichtung des zuständigen Organs, auf Antrag der Betroffenen oder von Amts wegen das überschrittene Recht inhaltlich zu beschränken und eine Versetzung in den früheren Zustand fordern, wenn diese in Hinsicht auf die Natur des Eingriffs in das Recht des anderen möglich ist. Diese »Beschränkung« wird in einem Konflikt zwischen zwei gleichartigen Berechtigungen (etwa bei Eigentumsrecht) auch für den anderen Träger gelten, weil er sein Recht innnerhalb von Grenzen wird ausüben müssen, die nicht in das »eingeschränkte« Recht, also in das Recht, das früher die Ausübung der ihm gehörenden Berechtigung behinderte, eingreifen werden. Neben diesen zwei Zwangsmaßnahmen sind wirkungsvolle Mittel gegen Missbrauch noch die Rechtsverweigerung und auch die Nichtberücksichtigung des Verhaltens, das die Berechtigung übersteigt − entweder seitens des Staatsorgans (etwa beim Missbrauch von Prozessrechten) oder seitens des Adressaten, der sich mit dem Überschreiter in einem Rechtsverhältnis (etwa Schuldverhältnis) befindet. Wenn in letzterem Fall kein Einvernehmen erreicht wird, wird eine behördliche Intervention nötig sein, die mit einer Maßnahme der inhaltlichen Beschränkung enden wird.31

4.

Hominum causa omne ius constitutum ^

[29]

15. Zum Schluss möchte ich hervorheben32, dass hinter den Elementen des Rechts ein Mensch (etwa ein Richter) steht, der sich − falls er verantwortlich handelt − nicht hinter einem Paragraphen verstecken darf. Ein Richter urteilt nicht nur nach der Verfassung und dem Gesetz, sondern seine Entscheidung hängt auch von seinem Verständnis der Verfassung und des Gesetzes ab. Das Recht ist ein Auslegungsphänomen und deshalb erfordert es, in dieser Dimension durch Verständnisargumente begründet zu werden.33 Der Richter oder ein anderer Entscheidungsträger muss sich bewusst sein, wie Pitamic sagen würde, dass hominum causa omne ius constitutum (alles Recht ist um des Menschen willen gesetzt).34 Darüber findet man eine sehr ausdrucksreiche Ansicht auch in der Abhandlung, die seine Sicht auf die Natur des Rechts abschließt:

[30]

»In dieser Frage spielt der Stufenbau des Rechtes insofern keine Rolle, als alle Rechtserscheinungen, seien sie abstrakt oder konkret, Normen oder Normanwendung, in allen ihren Formen, von der höchsten bis zur niedersten und abgesehen von ihrer Übereinstimmung mit einer höheren »Stufe«, der Natur des Rechtes entsprechen müssen, um als Recht qualifiziert werden zu können.«35

[31]

Dadurch ist die Richtung angegeben, die wir einschlagen müssen. Wenn man von diesem Weg abkommt, wird man dem Recht und seiner Natur untreu. Wenn man auf diesem Weg bleibt, kann man bald mehr und bald weniger zum Rechtsstaat beitragen. Es wäre naiv zu denken, dass man das goldene Zeitalter, von dem Ovid spricht, erreichen wird, doch es ist realistisch zu erwarten, dass wir damit einigermaßen sicher leben werden.

  1. 1 Eines der Hauptwerke von Adolf Merkl ist: Prologomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues. In: Alfred Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Wien 1931, S. 252−308. Siehe auch Hans Kelsen: 1. Reine Rechtslehre, 2. Neudruck der 1. Auflage, Wien 1994, S. 62 ff., und 2. Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 2000, S. 228 ff.
  2. 2 Kelsen (Fn. 1, 2000), S. 348: »Der sprachliche Sinn der Norm ist nicht eindeutig; das Organ, das die Norm anzuwenden hat, steht vor mehreren möglichen Bedeutungen.«
  3. 3 Marijan Pavčnik, Teorija prava (Theorie des Rechts), 6. Aufl., Ljubljana 2020, S. 131.
  4. 4 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 1986), S. 75−76.
  5. 5 Pavčnik (Fn. 3, 2020), S. 27.
  6. 6 Ibidem, S. 260 ff.
  7. 7 Anm.: Hervorhebungen durch Autor.
  8. 8 Gesetzblatt der Republik Slowenien, Nr. l24/05, 109/08, 8/12, 21/13, 65/14 und 55/17.
  9. 9 Anm.: Hervorhebungen durch Autor.
  10. 10 Siehe die Beispiele, angeführt von Pavčnik (Fn. 3, 2020), S. 261−262.
  11. 11 Siehe Werke von Savigny, angeführt in Marijan Pavčnik, Juristisches Verstehen und Entscheiden, Wien, New York 1993, S. 22 ff.
  12. 12 Anm.: Hervorhebungen durch Autor.
  13. 13 Friedrich Karl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, I, Berlin 1840, S. 215.
  14. 14 Siehe Marijan Pavčnik, Argumentacija v pravu (Argumentation im Recht), 4. Aufl., Ljubljana 2022 , S. 173 ff.
  15. 15 Aristoteles: Nikomachische Ethik, Stuttgart 1985, V, 14, 1137b. Siehe auch die Stellungnahme, die folgt: »Dies ist der Tat der Grund, warum nicht alles durch das Gesetz festgelegt ist, weil nämlich in manchen Fällen der Erlass eines Gesetzes nicht möglich ist, so dass ein Sonderbeschluss gefasst werden muss. Denn was ohne feste Grenzen ist, verträgt auch keinen festen Maßstab: wie bei der lesbischen Bauweise die Richtschnur aus Blei, wo sich die Richtschnur der Gestalt des Steines anpasst und nicht starr bleibt. In diesem Sinn passt sich der Beschluss den Tatsachen an« (V, 14, 1137b).
  16. 16 Anm.: Hervorhebung durch Autor.
  17. 17 VS RS (= Oberstes Gericht der Republik Slowenien) Sklep (= Beschluss) II Ips 107/2015.
  18. 18 Pavčnik (Fn. 3, 2020), S. 108.
  19. 19 Chaïm Perelman, Le raisonnable et le déraisonnable en droit, Paris 1984, S. 132 ff.
  20. 20 VS RS Sodba (= Urteil) III Ips 35/2018-3.
  21. 21 VS RS Sodba III Ips 49/2015.
  22. 22 Siehe Verfassungsgericht der Republik Slowenien, Up-824/14.
  23. 23 Anm:: Hervorhebung durch Autor.
  24. 24 VS RS Sodba III Ips 70/2015.
  25. 25 VS RS Sklep II Ips 107/2015.
  26. 26 Siehe z. B. VS RS Sodba II Ips 126/2014 und sodba II Ips 85/2018.
  27. 27 Art. 7 des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse.
  28. 28 Siehe Miha Juhart, Nina Plavšak (Hrsg.), Kommentar des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse (allgemeiner Teil), Ljubljana 2003, S. 104–118.
  29. 29 Siehe Art. 7/ 2 des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse.
  30. 30 Siehe Art. 7/ 3 des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse.
  31. 31 Diesen Standpunkt führte ich in bereits erwähnten Kommentar des Gesetzbuches über Schuldverhältnisse (S. 115) an.
  32. 32 Diesen Standpunkt äußerte ich im Refererat zum 100-jährigen Jubiläum der Beginns der Vorlesungen an der Juristischen Fakultät der Universität Ljubljana. Siehe Marijan Pavčnik, Razumevanje prava (Verstehen des Rechts), Ljubljana 2021, S. 32−33.
  33. 33 Siehe Boris Furlan, Teorija pravnega sklepanja (Theorie der rechtlichen Folgerung). In: Zbornik znanstvenih razprav, 10 (1933−1934), S. 29−53, und Marijan Pavčnik, Juristisches Entscheiden als intelektuell verantwortliche Aktivität. In: Frank Saliger et alt. (Hrsg.): Rechtsstaatliches Strafrecht. Festschrift für Ulfrid Neumann zum 70. Geburtsstag, Heidelberg 2018, S. 295−308.
  34. 34 Eine ähnliche Rolle spielt die Menschenwürde als Rechts- und Unterstützungsargument. Siehe Marijan Pavčnik, Brüchigkeit der Menschenwürde. In: Ulfrid Neumann, Paul Tiedemann und Shing-I Liu (Hrsg.), Menschenwürde ohne Metaphysik, Stuttgart 2021, S. 197 ff.
  35. 35 Leonid Pitamic, Naturrecht und Natur des Rechts. In: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht. N. F. 7 (1956) 2, S. 206−207.