Jusletter IT

Zur 2.0 (zweiten) Ordnung von E-Government

  • Authors: Reinhard Riedl / Peter Koval
  • Category: Short Articles
  • Region: Switzerland
  • Field of law: E-Government
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2010
  • Citation: Reinhard Riedl / Peter Koval, Zur 2.0 (zweiten) Ordnung von E-Government, in: Jusletter IT 1 September 2009
Viele E-Government-Projekte beschäftigen sich mit der Implementierung von Web2.0. Das 2.0-Paradigma bleibt dabei dem E-Government selbst meist äußerlich. Der vorliegende Beitrag fragt, ob es methodisch möglich ist, das 2.0-Denken auch zur Vorlage für E-Government selbst zu machen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Raumbewusstsein
  • 3. Weben
  • 4. Schwärmen
  • 5. Kein Fazit

«Keiner kennt das Ziel, es ist beweglich geworden, man muss
mehrmals die Richtung ändern, bevor man ans Ende kommt...»
Zygmunt Bauman

1.

Einleitung ^

[1]

Die Fragen des E-Governments haben Ordnungen zu folgen, insbesondere denen des Rechts, der Technik, politischen Institutionen oder Verwaltungskulturen. Dieses zeitlich-logisches Nacheinander (d.h., dass die Fragen den Ordnungen zu folgen haben) spricht dem E-Government eine Vermittlerrolle zu: Kommt jede dieser Ordnungen mit einem Eigensinn, mit einer unterschiedlichen «Struktur» einher, so gilt es zu untersuchen, wie die verschiedenen Entitäten mit den anderen zu «integrieren», wie sie «aufeinander abzustimmen» seien, um auf eine «neue» Ordnung – ein hauptsächlich ökonomisch «sinnvolles Ganzes» – hinzuwirken. Dieser Vorstellung von «Modernisierung» ist eine Annahme implizit, die eine einigermaßen solide Struktur, eine vorhandene Entität einerseits und einen ephemeren, manchmal auch katalytischen Charakter des E-Governments andererseits, bei der Transformation, bzw. Refiguration des Waltens und Verwaltens unterscheidet und gegenüberstellt.

[2]

Diese Unterscheidung und Gegenüberstellung von soliden Ordnungen (man kann sie auch als soziale Systeme verstehen, oder als Strukturen mit einer gewissen determinierenden Wirkung) und ephemeren, oder «flüssigen», auf Kontingenz ausgerichteten Strategien und damit auch das zeitlich-logische Nacheinander machen einen Großteil der (diskursiven) Produktivität von E-Government möglich. Aber ist diese Unterscheidung auch notwendig? Das bloße Aussprechen dieser Frage ist bereits unsere These: Betrachten wir E-Government als eine nicht-teleologische mediale Strategie, welcher ästhetisch-epistemologischen Vorwegnahme könnte sie zugrunde liegen? An zwei sinnfälligen Skizzen (Pattern Language und Swarming Intelligence) wollen wir nun diese Frage illustrieren.

2.

Raumbewusstsein ^

[3]

Aus der Praxis des E-Goverments stellt sich also die Frage nach der Ordnung im virtuellen Raum, die nicht immer analog zur realen Welt, aber immer im Bezug auf diese zu beantworten ist. Daher ist die Frage nach der Ordnung und dem Ordnen im virtuellen Raum auch eine Frage nach der Beziehung zwischen diesen Welten. So z.B. ist die Nutzung von elektronischen Daten nicht an historisch gewachsene oder topographisch bedingte Staatsgrenzen gebunden, was die Art der Nutzung, sowie Anforderungen beispielsweise an Copyright radikal ändert. Wonach man also fragen muss, ist die Beziehung zwischen der Ordnung und den Dingen, die der Ordnung entspringen. Man könnte auch von der Meta- und Alltagsebene, oder abstrakter und konkreter Ebene sprechen.

[4]

Eine mögliche Beschreibung dieser Beziehung lieferte in den 1950-er Jahren der (nicht unumstrittene) Vökerrechtler Carl Schmitt in seinem Buch Der Nomos der Erde , in dem er darzulegen versuchte, dass jeder Ordnung historisch eine Ortung zugrunde liegt1 – eine sinnfällige, eine ästhetische Tatsache der Landnahme, bzw. Landeinteilung. Vereinfacht könnte man sagen, jede Ordnung habe ihren Topos. Die Ordnung und Ortung sollten demnach zusammen, oder wieder zusammen (wie es im alten Griechenland gewesen sein soll – daher der Begriff Nomos), gedacht werden. Der Topos reflektiert dabei kulturgeschichtlich das, was Schmitt Raumbewusstsein nennt, d.h. die Art und Weise, wie wir über Raum verfügen und denken. Ändere sich dieses Raumbewusstsein, z.B. durch neue technische Möglichkeit, über den Raum zu verfügen, so sei die Einheit, oder das Zusammendenken von Ortung und Ordnung wiederherzustellen. Dies bedeutet nicht nur eine Anpassung der vorhandenen Ordnung, sondern auch des Ordnens. Mit einem Plädoyer für das wiedereingeführte Zusammendenken von Ordnung und Ortung schließt Schmitt sein Buch ab. Die Frage aber, wie dies geschehen soll – ob dies nicht etwa (radikal) anders geschehen muss –, lässt er dabei unberührt.

[5]

Wir wollen an dieser Stelle eine Fußnote zu Schmitt wagen und auf zwei Ansätze hinweisen, die aus unserem Raumbewusstsein heraus eine theoretische Möglichkeit darstellen, die Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen, zwischen der Ordnung und den Dingen zu beschreiben. Der eine ist inspiriert durch eine Architekturtheorie, setzt auf Partizipation, während er versucht, mit der Komplexität umzugehen. Der andere kommt aus der KI-Forschung, setzt auf Adaptation und versucht, statt direkt Probleme der Komplexität anzugehen, die Einfachheit der gegenseitigen Beziehungen zu gestalten. Sicherlich könnte man darüber streiten, wenn man Schmitt folgt, was denn unser Raumbewusstsein heute ausmacht. Wir möchten an dieser Stelle auf zwei zu beobachtende Phänomene hinweisen, die sich paradoxerweise zugleich ausschließen und bedingen: das Knüpfen oder Weben von Netzwerken einerseits und das Auflösen der Strukturen andererseits.

3.

Weben ^

[6]

Eine ästhetisch motivierte Strategie, das Ordnen in Netzwerken zu beschreiben, wäre in Pattern Language vorzufinden: Ende der 1970er Jahre hat Christopher Alexander zusammen mit seinen KollegInnen eine Architekturtheorie vorgelegt.2 Diese glaubte den Entwurf und die Gestaltung von urbanen Räumen zu revolutionieren. Eine Architektur, die nicht auf einem zentralen Planungstisch gezeichnet wird, sondern partizipativ, verteilt und lokal (stark phänomenologisch) «erarbeitet» wird. Dabei ist es nicht bei einem theoretischen Experiment geblieben, sondern es wurde auch tatsächlich danach gebaut.3 Alexander behauptet, beinahe in einem religiösen Duktus, dass das ordnende Prinzip jeglicher (guten, oder gut funktionierenden) Architektur nicht explizit genannt werden kann. Daher sind auch alle Anforderungen, die wir an eine Architektur stellen nur indirekt, oder besser nur verteilt zu fassen. So entwickelte Alexander eine Methode, die er Pattern Language nennt.

[7]

Pattern Language ist zuerst eine Sammlung von Begriffen. Diese benennen sehr lokal und partizipativ ein Problem eines konkreten Raumes, welches wiederholt auftaucht. Dazu wird eine Musterlösung entwickelt, die aber in der konkreten Umsetzung variieren kann (evtl. auch variieren soll). Jedes Muster besteht also aus einer Problem- und Lösungsbeschreibung, einem schematischen Diagramm, einer zusammenfassenden Bildmetapher und der Kontextualisierung innerhalb eines Muster/Pattern-Gefüge. Am Ende steht also eine Sammlung, ein Buch mit Mustern4 , die je nach Bedarf kombiniert und integriert werden können, so dass man danach Städte und Häuser bauen kann. So können in Netzwerken Strukturen entstehen, wobei dieses Entstehen auch dynamisch aufgefasst ist.

4.

Schwärmen ^

[8]

Im Jahre 2000 publizierte der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman ein Buch mit dem Titel Liquid Modernity , in dem er die «Verflüssigung» der gewissermassen festen (sozialen) Strukturen und Ordnungen diagnostiziert: «Muster und Konfigurationen sind heute nicht mehr vorgegeben, geschweige denn selbstverständlich. Es gibt zu viele davon, die sich widersprechen, in Konflikt geraten, mit der Folge, dass jedes einzelne Orientierungsmuster deutlich an Verbindlichkeit und Kraft [...] verliert. Auch sehen diese Muster heute anders aus, sie müssen neu geordnet werden: [...] Sie sind nicht mehr das Gerüst, in dem sich ein [Plan] entfaltet, sie werden in diesem [Plan] geformt, sie erwachen aus ihm und werden wieder und immer wieder umgebaut56 Während Bauman seine Thesen mit Blick auf das Individuum und sein Leben in der Gesellschaft weiterentwickelt, könnte man sich fragen, wie so ein Plan aussehen mag? Eine Antwort könnte die KI-Forschung liefern, während sie das beobachtet, was man gewohnt ist, Natur zu nennen: Fische, Vögel oder Ameisen.

[9]

Swarming Intelligence (SI) entstand als applizierte Biomimikry in der Robotik. Sie untersucht kollektives Verhalten in selbstorganisierenden und dezentralen Systemen mit dem Ziel, robuste, flexible und skalierbare Systeme zu entwickeln.7 Charakteristisch für SI ist, dass kein intelligentes Kontrollzentrum das globale Verhalten des Systems organisiert: Es basiert auf einer Menge von recht einfachen Individuen, die durch ihre Zusammenarbeit auch sehr komplexe Aufgaben erfüllen können. Das koordinierte Verhalten emergiert dabei aus relativ einfachen Aktionen und Interaktionen zwischen den einzelnen Individuen. So können z.B. Ameisen ein architektonisch intelligentes Nest bauen, ohne dass irgendeiner Ameise ein Bauplan hinterlegt worden wäre. Die zentrale Frage, die man durchaus als eine Antwort auf Baumans «Plan» lesen kann, lautet dementsprechend: Wie kann man Einheiten mit einem extrem einfachen Set von Instruktionen organisieren? In der Tat resultiert das globale Verhalten aus den lokalen Interaktionen zwischen den Individuen, ohne dass es in den individuellen Regeln explizit kodiert würde.

[10]

Ein ähnliches Konzept des Schwärmens kann man übrigens auch in der Geschichte insbesondere militärischer Organisationen finden. Arquilla und Ronfeldt haben beispielsweise in ihrem doktrinären Vorschlag Swarming and the future of conflict die Anforderungen für schwärmende politisch-militärische Organisationen klar formuliert.8

5.

Kein Fazit ^

[11]

Wie die geschilderten (sinnfälligen) Beispiele zeigen, ist die Unterscheidung zwischen soliden Ordnungen und «flüssigen» Strategien – und damit auch das zeitlich-logische Nacheinander im E-Government – nicht notwendig. Die Implikationen, sowohl für die Beschreibung von Ordnung, als auch für das Ordnen in der e-Dimension des Waltens und Verwaltens, dürften dabei evident sein: Eine methodisch-verdinglichte Vorstellung von E-Government muss einem Neuordnen 2.0 (zweiter) Ordnung – durch die Abstraktionsebenen hinweg – nicht im Wege stehen.



Peter Koval, Reinhard Riedl, Kompetenzzentrum Public Management und E-Government, Berner Fachhochschule, Bern, CH
peter.koval@bfh.ch, reinhard.riedl@bfh.ch

  1. 1 Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin 1997.
  2. 2 Vgl. Christopher Alexander: The Timeless Way of Building, New York 1979.
  3. 3 Vgl. Christopher Alexander: The Oregon Experiment, New York 1975.
  4. 4 Vgl. Christopher Alexander et al.: A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction. New York 1977.
  5. 5 Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003. S. 14. Bauman macht hier einen Vorschlag, „Flüssigkeit“ als Schlüsselmetapher der Moderne zu denken.
  6. 6 Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main 2003. S. 14. Bauman macht hier einen Vorschlag, «Flüssigkeit» als Schlüsselmetapher der Moderne zu denken.
  7. 7 Vgl. z.B. Ch. Blum und D. Merkle (Hrsg.): Swarm Intelligence. Introduction and Applications. Berlin Heidelberg 2008. S VII.
  8. 8 Vgl. J. Arquilla und D. Ronfeldt: Swarming and the Future of Conflict. Santa Monica 2000.