Jusletter IT

Metareflexion als Bühne der Wissenschaft

  • Authors: Michaela Strasser / Günther Kreuzbauer
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2010
  • Citation: Michaela Strasser / Günther Kreuzbauer, Metareflexion als Bühne der Wissenschaft, in: Jusletter IT 1 September 2010
Die Erzählung «Solaris» des polnischen Science-Fiction-Autors Stanisław Lem ist der Raster für die Darstellung der Metareflexion als Bühne der Wissenschaft. «Solaristik» wird die Erforschung von Solaris genannt. Hierbei werden einige philosophische Probleme der «Metareflexion der Wissenschaft» angesprochen. In diesem Beitrag wird gewissermaßen als etwas Solaristik betrieben.
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Mit «Solaris» hat der polnische Science-Fiction-Autor Stanisław Lem im Jahre 1961 eine seiner bemerkenswertesten Erzählungen vorgelegt, welche 1972 vom russischen Regisseur Andrej A. Tarkovskij und 2002 vom amerikanischen Regisseur Steven Soderbergh verfilmt wurde. Obwohl Tarkovskijs Verfilmung sowohl von Lem als auch vom Regisseur selbst teilweise kritisch kommentiert wurde, gehört sie zu den interessantesten Kunstwerken der Filmgeschichte und zu den wichtigsten nicht-trivialen filmischen Aufarbeitungen philosophischer Themen im Kontext moderner Wissenschaft. Da im Rahmen von IRIS schon vor längerem die Brücke zwischen Wissenschaft und künstlerischer Kreativität – und zwar insbesondere zur Science-Fiction – geschlagen wurde, sei es erlaubt diesen für unser Thema so einschlägigen Film als Raster für die Darstellung eines schwierigen Themas zu verwenden, nämlich die Metareflexion als Bühne der Wissenschaft.

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Solaris ist ein Planet, der praktisch aus einer einzigen Gehirnmasse besteht. Der Planet ist dabei in der Lage, die Gehirnwellen von Menschen zu interpretieren und deren neurophysiologisch kodierte Erinnerungen zu materialisieren. Die Handlung des Films spielt größtenteils auf einer Raumstation, die Solaris zu Forschungszwecken umkreist und die gewissermaßen die Bühne für einige seltsame Vorkommnisse darstellt, denn durch die Kraft von Solaris tauchen beispielsweise plötzlich längst verstorbene Menschen in der Raumstation auf. Der Film ist aus filmästhetischen Gründen mehrfach bemerkenswert: Am augenfälligsten ist der, vermutlich durch die durch bewussten Einsatz des alten sowjetischen Filmmaterials verringerte Farbsättigung erreichte unwirklich entweltlichte visuelle Eindruck, was auch durch den Einsatz vieler anderer filmästhetischer und dramaturgischer Stilmitteln widergespiegelt wird. Außerdem scheint der Film – wie auch in Tarkovskijs Andrej Rubljow (1964–1966) oder Stalker (1979) zu beobachten – keine Geschwindigkeit zu kennen.

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Die Erforschung von Solaris wird in der Erzählung ‚Solaristik’ genannt. Dabei werden einige philosophische Probleme der modernen Wissenschaft behandelt, die sich in ihrer Essenz um das Thema der «Metareflexion der Wissenschaft» drehen. In diesem Vortrag soll nun sozusagen etwas Solaristik betrieben werden.

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Solaristik I: Standardwissenschaft im Kontext solaristischer Reflexion: Obwohl Solaris weniger «Science-Fiction» als eher «Philosophy-Fiction» ist und deutlich erkennbar einem anderen Handlungsrhythmus folgt als andere Werke des Genres, kann man einige der klassischen Ingredienzien des Science-Fiction-Genres erkennen, nämlich einen zukünftigen Handlungszeitpunkt, einen technisierten Handlungsort und den Konflikt der Protagonist(inn)en im Spannungsfeld zwischen modernistischer Rationalität und eindringender bedrohlicher Irrationalität. Im Handlungshintergrund steht also der utopisch überhöhte, technisierte Rationalismus der Protagonisten, der durch die gezeigten Wissenschaftler/-innen bzw. die thematisierten Strukturen der Wissenschaftsorganisation ausgeführt wird. Gleich in den ersten Sequenzen geht es um wissenschaftliche Reflexion im Sinne der Anwendung kulturell geprägter kognitiver Techniken. Kognitive Operationen führen zwar alle Menschen aus und der von allen introspektiv erlebte Strom des Bewusstseins gehört auch zur Kognition. Reflexives Denken hingegen existiert nur in bestimmten Kulturbereichen, etwa auch der Wissenschaft. Es ist eine kulturelle Technologie, die wie Kopfrechnen entwickelt, tradiert und distribuiert werden muss. Jede/-r, der/die daran teilhaben will, muss es für sich lernen. Reflexives Denken ist schwierig und muss mühevoll erworben werden. Dementsprechende Probleme zeigen sich auch in der Solaristik, wie im ersten Teil des Films thematisiert wird. Hier geht es um den innerwissenschaftlichen Konflikt, der dadurch ausgelöst wurde, dass die herrschende Lehre innerhalb der Solaristik die Natur des Planeten als einem biologischen Wesen leugnet und Vertreter/-innen alternativer Erklärungsansätze sozial – und nicht kognitiv – bekämpft. Soziale Herrschaft schlägt Reflexion, ein Mechanismus, der sich auch in der wirklichen Welt beliebig oft finden lässt. Damit verbundene irrationale Clusterbildung findet man hier ebenso, wie etwa dann, wenn Biolog(inn)en Gesellschaft und Kultur des Menschen aus der Evolution – und nur aus der Evolution – erklären, oder im Gegenzug, wenn feministisch geprägte Kulturwissenschaftler/-innen Biologie – die es eben auch im Kontext von Geschlechtlichkeit gibt – völlig ignorieren. Hört man Wirtschaftswissenschaftler(inne)n zu, bekommt man den Eindruck eines Ethikverständnisses ohne Detailtextur, hört man den Vertreter(inn)en der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik zu, fragt man sich mit welcher Legitimation diese aus einer durchaxiomatisierten Wissenschaft heraus auf so weit reichende philosophische Behauptungen schließen.

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Solaristik II: Wissenschaft und das metaphysisch Andere: Metareflexion in der soeben geschilderten Interpretation ist aber nur das einleitende Thema von Tarkovskijs Film. Das Hauptthema ist die unmittelbar ins Auge springende Fassungslosigkeit, mit der die Protagonisten der metaphysischen Andersartigkeit des lebenden Planeten gegenüber stehen. Die moderne Wissenschaft – man kann es nicht oft genug betonen – entstand aus der Metaphysik, metaphorisch gesagt aus dem – zuerst religiös, dann philosophisch – motivierten Blick auf die Sterne und nicht auf die Erde oder den Menschen. Sie entstand als Antwort auf die Frage nach dem Anderen, dem Nicht-Alltäglichen, dem Mystischen. Es wäre ebenso möglich gewesen, dass sie sich aus dem Handwerk, dem Handeln, dem Militärwesen usw. entwickelt, aber – vielleicht nur aus historischer Zufälligkeit – ist das nicht geschehen. Selbst heute ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Mystik nicht restlos geklärt, was ein Blick auf die Quantenmechanik oder auf die Ergebnisse der Neurowissenschaften sofort belegt. Seit Platon ist die Frage nach der Existenz von Idealentitäten ein Thema, auf das wir im Alltag ohne es zu merken ununterbrochen stoßen, nämlich immer dann wenn wir ein Eigenschaftswort verwenden – Eigenschaften werden nämlich im Gegensatz zu Gegenständen universell gedacht. Seit der Aufklärung versucht man dies alles durch ein naturalistisches Weltbild einzudämmen. Dies basiert unter anderen auf der Idee der Stetigkeit der Metareflexion der Wissenschaft. Was soll das heißen? Die Wissenschaft kalkuliert natürlich die Möglichkeit des Irrtums ein und reflektiert sich mittels Feedbackschleifen. Es gilt aber das unausgesprochene Gesetz, welches erst durch die Chaostheorie gegen Ende des letzten Jahrhunderts thematisiert wurde, dass ein kleiner Irrtum kleine Reflexion bzw. ein großer Irrtum große Reflexion bedeutet und dass man eher kleine als große Irrtümer erwarten soll. D.h. dass man davon ausgehen soll, schon viel über den zu erforschenden Gegenstand zu wissen. Ein real gedachtes Wesen, das gleichzeitig Planet und Gehirn ist, sprengt deshalb das Reflexionsschema der Wissenschaft. Was folgt daraus, wenn so etwas wirklich existiert? Was folgt daraus für das Wissen über Planeten und Lebewesen? Was folgt über unseren Begriff von Leben überhaupt? Das Unbehagen, dass einen hier ergreift, liegt darin begründet, dass daraus konsequenter Weise folgen würde, dass die Wissenschaft damit zurück an den Start muss, denn fundamentalste Kategorisierungen müsste damit neu gedacht werden.

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Solaristik III: Evaluative Reflexion: Stellen sich also im Mittelteil des Films metaphysische Fragen nach der Realität und dem erkenntnistheoretischen Umgang mit ihr, so leitet dies später zu ethischen Fragen über: Wie ist mit den materialisierten «Menschen» umzugehen. Sind sie überhaupt Menschen? Was sind sie sonst? Sind sie als Menschen zu behandeln? Wie lässt sich erkennen was sie sind? Oder gemäß eines anderen Beispiels aus der Science-Fiction formuliert: Darf man einen HAL 9000 Computer ausschalten? Bzw. als Gedankenexperiment formuliert: Wenn man alle Neuronen eines Menschen eines nach dem anderen durch künstliche Schalter ersetzen würde (das menschliche Gehirn verfügt zwar über ziemlich viele Neuronen, aber denkunmöglich ist das grundsätzlich nicht), ist dieses Gebilde, welches noch ein menschliches mentales Erleben hätte, dann ein Mensch oder nicht? Darf ich es also töten/zerstören oder nicht?

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Solaristisches Fazit: Der Vortrag nähert sich dem Landemanöver, denn diese fundamentalen evaluativen Fragen könnten tatsächlich solche sein, die sich unserer Gesellschaft so oder so ähnlich in 20 oder 50 Jahren wirklich stellen. Der Ethik wurde dazu eine jüngere Schwester zur Seite gestellt, nämlich das Recht. Dies verändert nun die Bühne, denn die Bühne auf der sich die Reflexionsfrage heute stellen muss ist der Gerichtssaal – welcher aber einer Theaterbühne nicht ganz unähnlich ist. Science-Fiction ist ohne Computer nicht vorstellbar und so landet man fast zwangsläufig beim Thema der Rechtsinformatik. Dabei kann Science-Fiction die Möglichkeit von Fragen aufzeigen, denn sie ist ein Kreativitätswerkzeug, das man nutzen kann um zukünftige Probleme zu erkennen. In diesem Zusammenhang stellen sich viele Fragen, die auch zuerst in der Science-Fiction aufgetreten sind: Fragen der elektronischen Person etwa, Fragen der Datenspuren, Fragen, was Daten bzw. was Informationen überhaupt sind. Dies ist wissenschaftliche Metareflexion im Hier und Jetzt. Unter der Fülle der Fragen, die sich dabei stellen, soll hier zum Abschluss jedoch nur die offensichtlichste gestellt werden, nämlich: Wie wirkt sich die wissenschaftliche Reflexion eigentlich auf unserer eigenen Bühne aus? Sozusagen: Was ist eigentlich wissenschaftliche Metareflexion auf der Bühne der Rechtsinformatik?

 



DDr. Michaela Strasser, Außerordentliche Universitätsprofessorin, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Universität Salzburg
Churfürststraße 1, 5020 Salzburg AT
michaela.strasser@sbg.ac.at; http://www.uni-salzburg.at
Dr. MMag. Günther Kreuzbauer1, Assistenzprofessor, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Universität Salzburg
Churfürststraße 1, 5020 Salzburg AT
guenther.kreuzbauer@sbg.ac.at; http://www.uni-salzburg.at

 

  1. 1 Thema und Idee von Michaela Strasser; Text von Günther Kreuzbauer in Vertretung von Michaela Strasser beim Eröffnungsvortrag von IRIS 2010.