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Von der Regel zur Rolle – Die Unterstützung der juristischen Abfrage durch situative Ontologien

  • Authors: Harald Hoffmann / Friedrich Lachmayer / Georg Schwarz
  • Region: Austria
  • Field of law: Applications
  • Collection: Festschrift Erich Schweighofer
  • Citation: Harald Hoffmann / Friedrich Lachmayer / Georg Schwarz, Von der Regel zur Rolle – Die Unterstützung der juristischen Abfrage durch situative Ontologien, in: Jusletter IT 22 February 2011
Wie bei JURIX 2010 in Liverpool wiederum deutlich geworden ist, unterliegen die Themen der Rechtsinformatik einer ständigen Veränderung. Aktuell ist unter anderem die thematische Drift von generellen Normen (RULES) hin zu konkreten Sachverhalten (CASES, ROLES). Diese Drift verstärkt den situativen Aspekt im Recht. Sie lässt sich im vorliegenden Papier am praktischen Beispiel einer E-Learning-Anwendung für betriebsinterne Kündigungen verdeutlichen. Freilich gibt es auch immer wieder Themenstellungen, die perspektivisch über das bisherige hinausweisen. So kann das Multisensorische Recht einen Paradigmenwechsel mit sich bringen, der eine neue Herausforderung an die Rechtstheorie darstellt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. JURIX 2010 – State of the Art und Trends
  • 2. Von den RULES zu den ROLES
  • 3. Situativer Geltungsbereich und normativer Wirkungsbereich
  • 4. Situative Abfrage
  • 5. Beispiel einer Anwendung: E-Learning Plattform für Betriebsräte
  • 6. Paradigmenwechsel zum Multisensorischen Recht

1.

JURIX 2010 – State of the Art und Trends ^

[1]
In seiner Einleitungsrede zu JURIX 2010 hat Radboud Winkels am 16. Dezember 2010 in Liverpool anhand des JURIX-Themenvergleiches der Jahre 1991 und 2010 verschiedene Trends der Rechtsinformatik deutlich gemacht, so etwa jene von den Regeln zu den Fällen, vom Wissen zur Information und von den Normen zur Argumentation. Auf den von Radboud Winkels herausgegebenen Tagungsband zu JURIX 2010 – The Twenty-Third Annual Conference, Legal Knowledge and Information Systems, IOS Press, 2010, sei ausdrücklich hingewiesen.

2.

Von den RULES zu den ROLES ^

[2]
Aus unserer Erfahrung ist es vor allem der Übergang von den RULES zu den ROLES, der sowohl in rechtstheoretischer Sicht als auch aus der Sicht der Rechtsinformatik interessant ist. Er wird in Zukunft noch an Bedeutung zunehmen.
[3]
Die bereits als traditionell anzusprechende Rechtsinformatik hat sich vor allem der textuellen Rechtsdokumentation zugewandt. Das gilt für das Rechtsinformationssystem (RIS) ebenso wie für die Rechtsdatenbank (RDB), für den Referenz-Hintergrund der Judikatur des RIS ebenso wie die wissenschaftlichen Aufsätze der RDB, die gleichsam als Rohmaterial in der Bundesnormendokumentation des RIS zugänglich gemacht werden.
[4]
Es gibt vor allem zwei Arten einer Durchdringung des Rechts durch die Rechtsinformatik:
[5]
Die eine geht von der Textualität des Rechtes aus und führt hin zu den Metaebenen der Sprachsysteme und Begriffe, über die Multilingualität der EU-Thesauren bis hin zu den Taxonomien und Ontologien. Es ist dies ein Weg, den unter anderem Erich Schweighofer eindrucksvoll aufgezeigt hat. Es ist dies gleichsam der Weg nach oben in die Bereiche des Abstrakten.
[6]
Die andere Art der Durchdringung führt, um bei der Raummetapher der Spatialisierung zu bleiben, nach unten, also hin zu den Lebenssituationen derer, die von manchen Juristen unbewusst geringschätzig als «Rechtsunterworfene» angesprochen werden. Diese sind die Bürgerinnen und Bürger, von denen im Sinne des demokratischen Prinzips das Rechts ausgeht. Fritz Schönherr, Professor und Rechtsanwalt zugleich und sehr um das juristische Sprachbewusstsein bemüht, hat einmal ironisch-kritisch davon gesprochen, dass das Recht weniger «von» den Bürgerinnen und Bürgern ausgeht, als vielmehr «an» ihnen ausgeht, was sie wiederum auf die Stufe der Rechtsunterworfenen stellt.
[7]
Die Rechtsinformatik hat sich bisher mit den RULES beschäftigt, doch könnte eine verstärkte Zuwendung zu den situativen ROLES eine interessante Ergänzung bieten. Gemeint sind damit die rechtlichen Rollen der Lebenssituationen der Bürgerinnen und Bürger.
[8]
In einigen Rechtsinformatik-Applikationen ist dieser Paradigmenwechsel bereits Wirklichkeit geworden. Ausdrücklich sei auf das Bürgerserviceportal help.gv.at hingewiesen, das auf Lebenssituationen aufgebaut ist. Seine Bedeutung liegt nicht nur im situativen Ansatz der Lebenssituationen, sondern auch darin, dass es semantisch strukturiertes Recht verwendet. Somit ist help.gv.at eine praxismächtige Rechtsinformatik-Applikation, welche – ohne viel theoretischen Anspruch – das Thema dieses Sammelbandes, nämlich die Strukturierung der juristischen Semantik, bereits seit Jahren erfolgreich verwirklicht.
[9]
Die Bürgerinnen und Bürger denken in Rollen, und zwar solchen, die auf ihre Lebenssituationen bezogen sind. Die professionellen Juristinnen und Juristen denken in Regeln und diese sind auf die Textstellen bezogen. Die Situativität bestimmt somit den rechtlichen Alltag der Laien (Laymen in der Terminologie von JURIX), die Textualität die Argumentationsweise der professionellen Juristinnen und Juristen.

3.

Situativer Geltungsbereich und normativer Wirkungsbereich ^

[10]
Rechtsnormen betreffen Situationen. Sie entfalten ihre normative Wirkung im Kontext dieser Situationen. Abbildung 1 zeigt diesen Zusammenhang: Der Rechtsnorm – traditionell repräsentiert durch den Normtext – ist sowohl ein situativer Geltungsbereich als auch eine Sollens-Anordnung zugeordnet. In beiden Situationsbereichen spielen betroffene Bürger und Bürgerinnen eine (normativ) bestimmte Rolle. Findet sich ein Metamodell, um diese Situationsbereiche formal zu beschreiben, können Rechtsnormen hinsichtlich Ihrer situativen Einbettung formal beschrieben («annotiert») werden.
Abbildung 1: Der situative Geltungsbereich sowie der normative Wirkungsbereich
(Sollens-Anordnung) auf einer Situationsebene
[11]
Die modernen Beschreibungssprachen auf Basis der Beschreibungslogik (bekannte Vertreter sind die Web Ontology Language sowie F-Logic) bieten für diese Annotation ein interessantes Sprachmittel. Diese Sprachen basieren auf einer formalen Ontologie und besitzen – soweit sie den Bereich der Beschreibungslogik umfassen – eine formal theoretische Semantik.1

4.

Situative Abfrage ^

[12]
In gleicher Weise sind Situationen beschreibbar, die den Gegenstand der juristischen Abfrage bilden. Einer solchen Abfrage-Situation stehen damit die Situationsmodelle (situative Geltungsbereiche und normativer Wirkungsbereich) der im System annotierten Rechtsnormen gegenüber.
[13]
Mittels des logischen Kalküls der vorgenannten Beschreibungssprachen sind diese Modelle maschinell berechenbar. Ausgehend von der Abfrage-Situation ermittelt das System über den situativen Geltungsbereich jene Rechtsnormen, die (möglicherweise) auf die Abfrage-Situation anwendbar sind. Ob die Anwendbarkeit tatsächlich gegeben ist, kann erst dann geklärt werden, wenn alle Daten, welche die situativen Geltungsbereiche und damit den Bedingungsteil der einzelnen Rechtnormen bestimmen, vorhanden sind. Diese fehlenden Daten sind durch entsprechende Abfragen im logischen Framework identifizierbar und in der Folge über eine geeignete Benutzeroberfläche erfragbar.

5.

Beispiel einer Anwendung: E-Learning Plattform für Betriebsräte ^

[14]
Die arbeitsrechtlichen Regelungen bei einer Kündigung eines Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber sind unter anderem wegen der komplexen Abläufe schwer erfass- und damit auch erlernbar. Die vorerwähnte Methode der situativen Annotation der einschlägigen Rechtsnormen ermöglicht die Simulation dieser betriebsinternen Kündigungsvorgänge.
[15]
Abbildung 2 zeigt diese Simulation an zwei Stellen. Auf Basis einer Einstiegshandlung, im Beispiel der Erklärung der Kündigungsabsicht durch den Arbeitgeber an den Betriebsrat, z.B. durch Überreichung einer Kündigungsliste, ermittelt das System die anwendbaren Rechtsnormen. Aus diesen wird auf mögliche Handlungsalternativen (grünes ‹>› Zeichen) sowie verpflichtende Handlungen (rotes ‹§›) geschlossen und dem jeweiligen Akteur der Handlung zugeordnet. Soweit Daten fehlen, um Folgehandlung ableiten zu können, werden die fehlenden Daten aktiv durch das System erfragt. An den entsprechenden Stellen erscheinen gelbe ‹?›-Zeichen.
Abbildung 2: Mockups einer E-Learning Anwendung für betriebsinterne Kündigungsvorgänge
[16]
Durch vermehrte Eingabe konkretisiert sich der Sachverhalt der Kündigungssituation; Folgehandlungen werden gesetzt und der Kündigungsvorgang wird simuliert. Da die Konkretisierungsmöglichkeiten durch die anwendbaren Rechtsnormen bedingt sind, können jene Rechtsnormen gefunden werden, die für die gestellte Konkretisierung relevant sind (Abbildung 2, linker Mockup). Das System ermittelt über die situativen Modelle die Normtexte aller anwendbaren und möglicherweise anwendbaren Rechtsnormen. Verweise auf weitere Fundstellen durch die üblichen Redaktionssysteme sind möglich.

6.

Paradigmenwechsel zum Multisensorischen Recht ^

[17]
Die Entwicklung der Wissenschaften bleibt nicht stehen. Es kommt immer wieder zu neuen Sichtweisen, welche den Gegenstand neu und in einem bisher unbekannten Licht erscheinen lassen. Die historische Rechtschule hat das rationalistische Naturrecht abgelöst und die Interessensjurisprudenz wiederum die Begriffsjurisprudenz, welche dem historischen Denken folgte. Die moderne Welle des Naturrechts im 20. Jahrhundert wird seit dem Siegeszug der Reinen Rechtslehre keineswegs mehr als modern angesehen und auch die Reine Rechtslehre selbst ist zumindest hinsichtlich der Präzision der Denkformen und der Ausdrucksweise durch die Rechtslogik, was immer man darunter verstehen mag, überholt worden.
[18]
Colette R. Brunschwig hat die Multisensorische Struktur des Rechts thematisiert und damit aus der Sicht der Rechtstheorie einen neuen Ansatz zur Diskussion gestellt. Das Multisensorische Recht ist aber nicht nur ein Thema der Rezeption des Rechts sondern vor allem auch der Produktion des Rechts, nicht nur den Inhalt sondern auch die Form und das Verfahren betreffend.
[19]
Es sei daran erinnert, dass die Gesetzwerdung im österreichischen Nationalrat nicht textuell erfolgt, obwohl die Gesetze textuell sind, sondern körpersprachlich, durch Aufstehen der Zustimmenden, ebenso wie in den parlamentarischen Ausschüssen die Zustimmung zum Beschluss auch nicht sprachlich sondern durch ein Zeichen mit der Hand erfolgt.
[20]
Es kann durchaus sein, dass bei der Konzeption rechtlicher Maschinen, einem Thema, mit dem sich insbesondere Vytautas Cyras von der Universität in Vilnius beschäftigt, der Paradigmenwechsel zum Multisensorischen Recht zu beachten sein wird.



Harald Hoffmann, METADAT GmbH, Simmeringer Hauptstraße 24, 1110 Wien, AT,harald.hoffmann@metadat.com

Friedrich Lachmayer, Universität Innsbruck, Tigergasse 12, 1080 Wien, AT,friedrich.lachmayer@uibk.ac.at

Georg Schwarz, Faktor Logik GmbH, Neumarkter Straße 71, 81673 München, DE,georg.schwarz@faktorlogik.de


  1. 1 Einen umfassenden Einblick in die Web Ontology Language gibt die Webseite des W3C, etwa unterwww.w3.org/TR/owl-features .