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Auf die Entsprechung kommt es an!

Die Logik der je/desto-Sätze im Recht

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Auf die Entsprechung kommt es an!, in: Jusletter IT 5 October 2011
«Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.» So das Bundesverfassungsgericht in seiner Esra-Entscheidung. Je/desto-Sätze spielen eine immer größere Rolle im modernen Recht. Mit Hilfe der Datenbank JURIS lässt sich ermitteln, in welchen Rechtsgebieten sie vorzugsweise vorkommen und in welchen weniger. Der Aufsatz gibt auch an, wie man mit je/desto-Sätzen,die ziemlich komplex sein können, dank Fuzzylogik umgehen sollte.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Entsprechung zwischen je und desto
  • 2. Ein Skalierungsvorschlag
  • 3. Komplexe je/desto-Sätze
  • 4. Zahlen und Maße
  • 5. Blick auf die Statistik
[1]

1.

Die Entsprechung zwischen je und desto ^

[2]
«Das Geld gleicht dem Seewasser. Je mehr davon getrunken wird, desto durstiger wird man.» (Schopenhauer) Sätze dieser Form kommen auch im Recht vor; in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Gerhard Otte darauf aufmerksam gemacht.1Solche Sätze sind nach Otte so aufzufassen: Wenn die «Intensität» des Begriffs in der je-Komponente gesteigert werde, werde auch die Intensität des Begriffs in der desto-Komponente erhöht. Dabei werde allerdings nur die «Tendenz» der Steigerung angegeben, nicht auch ihr «Ausmaß». Schopenhauers Satz wäre demnach in diesem Sinne zu verstehen: «Wer in diesem Jahr viel verdient hat, möchte im nächsten Jahr noch mehr verdienen» – schon ein bisschen mehr würde genügen.
[3]
Das ist nicht ganz richtig. Je/desto-Sätze drücken nicht nur eine Tendenz aus, sondern auch ein Maß, in Form einer Entsprechung zwischen dem je und dem desto. Aus Schopenhauers Satz (etwas Alltagswissen hinzugefügt) könnte man deshalb folgern: Wer in diesem Jahr Zuwendungen (inklusive Boni) von fünf Millionen Euro bekommt, dessen Durst wird im nächsten Jahr nicht mit einer Steigerung um zehntausend Euro zu stillen sein. Denn bei fünf Millionen einerseits und zehntausend andererseits fehlt es an der Entsprechung.
[4]
Je/desto-Sätze sind so verstehen, wie es in Adelungs Wörterbuch2angegeben ist: «Je» steht «vor zwey aufeinander folgenden Comparativen, wo es eine Vertheilung eines gleichen Maßes oder Verhältnisses über beyde bezeichnet … Es wird je länger je schlimmer, d.i. nach dem Maße, wie die Zeit wächset, nach eben demselben Maße nimmt auch der schlimme Zustand an innerer Stärke zu.» Adelung bezieht sich auf die Wendung je/je, die aber das gleiche bedeutet wie je/desto.
[5]
Das Bundesverfassungsgericht hat einen je/desto-Satz ausdrücklich als Maßbeziehung interpretiert, in seiner Esra-Entscheidung.3Esra ist die Titelheldin eines Romans, den der Schriftsteller Maxim Biller geschrieben hat. Die Frau, die dazu das Urbild war, hat durch alle Instanzen hindurch und bis zum Verfassungsgericht auf ein Verbot des Romans geklagt, weil sie sich in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt sah. Ein Leitsatz des Urteils lautet:
[6]
«Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.» Das Gericht fand, dass im Falle Esra «besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts» berührt seien und dass dem keine entsprechende Fiktionalisierung gegenüberstand; es bestätigte das Verbot des Romans.
[7]
Allerdings können Sätze, wie sie Otte vorschweben, also mit Steigerungen, die nicht mit einer Entsprechung verbunden sind, durchaus sinnvoll sein, wenn auch wohl nur in einem theoretischen Kontext. «Wenn der Mensch älter wird, wird er klüger.» Das schließt nicht aus, dass jemand steinalt wird und dabei nur ein kleines bisschen klüger. Aber sobald ich den Satz einem praktischen Kontext annähere, muss ich eine Entsprechung zwischen den Prädikaten und ihrer Steigerung, zwischen Alter und Klugheit einführen: «Je älter ein Arbeitsloser ist, desto klüger muss er sein, um noch eine Stellung zu finden.» Nur ein bisschen klüger sein genügt im höheren Alter nicht mehr.
[8]
Bei einem juristischen je/desto wird die Notwendigkeit einer Entsprechung besonders deutlich, weil hier neben dem Sprachgefühl auch das Rechtsgefühl mitspricht. Im Strafrechtslehrbuch von Fritjof Haft findet sich ein gutes Beispiel für einen solchen Satz (zur Wartepflicht nach einem Verkehrsunfall, § 142 StGB): «Je schwerer der Unfall, desto länger die Dauer der Wartepflicht.» «Mehr lässt sich nicht sagen», fügt Haft hinzu.4Man kann dazu in der Tat nicht viel sagen, aber etwas doch. Es würde als ungerecht empfunden werden, wenn ein Beteiligter nach einem leichten Unfall lange Zeit warten müsste oder nach einem schweren Unfall nur kurze Zeit. Dann würde es an der Entsprechung fehlen.

2.

Ein Skalierungsvorschlag ^

[9]
Was ein schwerer oder ein leichter Unfall ist, was eine lange oder kurze Wartezeit bedeutet, ist zunächst eine Frage des vorjuristischen Weltverständnisses und dann der Gerichtspraxis, in der sich eine Kontinuität herausbilden kann. Nützlich wäre darüber hinaus, wenn man für die Intensitäten der Begriffe eine Skala aufstellte, um sich der Kontinuität bewusst zu werden. Empfehlenswert ist eine verbale Dreiteilung in niedrigmittelhoch (bzw. kurz – mittel – lang ), welche man dann in weitere numerische Dreiteilungen auffächert. So teile man niedrig in 0,1 – 0, 2 – 0,3 auf, mittel in 0,4 – 0, 5 – 0,6 und hoch in 0,7 – 0, 8 – 0,9. Innerhalb dieser Dreiergruppen reserviere man den mittleren Wert für den eindeutigen Fall und die beiden flankierenden Werte zur Rechten und zur Linken für die Übergangsfälle zu der angrenzenden verbalen Stufe. Der Grenzwert 0 bedeutet, dass der Begriff leer ist und überhaupt kein Schaden vorliegt bzw. keine Wartezeit erforderlich ist, und der Grenzwert 1 , dass der größte anzunehmende Schaden (nach den Maßstäben des Straßenverkehrs) eingetreten ist bzw. dass die längste Wartezeit verlangt wird.5Ein numerisches Dreierschema, zur Verfeinerung einer verbalen Aufteilung von «ungenügend» bis «sehr gut», wird in Deutschland bei der Bewertung von juristischen Übungs- und Examensarbeiten angewandt; Juristen können damit umgehen.6
[10]
Die Skala ermöglicht logische Operationen, von denen fortan die Rede sein wird. Soll damit der Anspruch erhoben werden, juristische Urteile mit logischer Präzision zu fällen? Soll die Intuition des Richters, die den Rechtsfall als etwas Ganzes und Individuelles erfasst, beiseite geschoben werden? Keineswegs. In die Intuition des Richters sollte man jedoch Strukturen einfügen. Zum Vergleich: Die Gestalt eines Menschen und sein Gesicht sind von hoher Individualität, aber noch keinem Portraitmaler haben Kenntnisse der Anatomie geschadet.
[11]
Die Sätze, die hier in Frage stehen, sind Bedingungssätze. Das bedeutet im Beispiel der Verkehrsunfallflucht: Damit ein Unfallbeteiligter sich richtig verhält, muss er die Bedingung erfüllen, so lange zu warten, wie es der Schwere des Unfalls entspricht. Wer einen kleinen Schaden (Stufe 0,2) verursacht hat, braucht dementsprechend nur eine kurze Zeit zu warten. Wenn der verursachte Schaden etwas größer ist (Stufe 0,3) und sich einem mittelgroßen Schaden annähert, so muss man etwas länger warten. Sofern man länger wartet, als der Schaden schwer ist, schadet das natürlich nicht; man ist jedenfalls auf der sicheren Seite.
[12]
Wer nicht so lange wartet, wie es dem Schaden entspricht, verhält sich grundsätzlich rechtswidrig. Dabei kann es aber von Bedeutung sein, in welchem Maße er sich rechtswidrig verhält. Das gilt vor allem für das Strafmaß. (In einem zivilrechtlichen Kontext kann der Grad des Unrechts für die Möglichkeit einer fristlosen Kündigung von Bedeutung sein.) Das Maß der Rechtswidrigkeit ergibt sich aus der Differenz zwischen der Höhe des Schadens und der dahinter zurückgebliebenen Länge der Wartezeit. Wer bei einem Schaden in Höhe von 0,3 eine Wartezeit in der Länge von 0,2 an der Unfallstelle bleibt, verhält sich nur um eine Stufe rechtswidrig. Bei einem Schaden von 0,9 und einer Wartezeit von 0,2 beträgt die Differenz 7 Stufen.7

3.

Komplexe je/desto-Sätze ^

[13]
«Besondere Beachtung verdienen Sätze, die mehrere Tendenzen zusammenfassen», schreibt Otte. Was hier zum Ausdruck komme, sei «die Abhängigkeit der Intensität ... eines Prädikates von der Intensität ... mehrerer Prädikate». Er führt ein Beispiel an; dass es kein juristisches Beispiel ist, spielt hier keine Rolle: «Je günstiger die Verkehrslage einer Gemeinde und je größer dort das Potential an Arbeitskräften und je niedriger die kommunalen Steuern, desto attraktiver ist die Gemeinde für Industrieansiedlungen.» Wenn Otte in diesem Satz die Zusammenfassung mehrerer Tendenzen und die «Konjunktion» mehrerer Teilsätze sieht, so hat er recht, denn dreierlei sollte möglichst zusammenkommen: Verkehrslage, Arbeitspotential und niedrige Steuern. Aber bestimmt die Konjunktion auch den folgenden je/desto-Satz, den Leitsatz zu einer BGH-Entscheidung? «Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint, je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zu Tage getreten sind, desto größer ist der Anlass für das Gericht, trotz der erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen.» (BGH 4 StR 499/02 – Beschluss vom 25. Februar 2003; Leitsatz des Bearbeiters.)8Hat der Bearbeiter, der diesen Leitsatz formuliert hat, damit wirklich ausdrücken wollen, dass nur wenn diese drei zusammenkämen: «wenig gesicherte Beweisergebnisse» und «gewichtige Unsicherheitsfaktoren» und schließlich «mehrere Widersprüche», das Gericht weitere «erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen» habe? Das ist kaum anzunehmen; eines von den dreien allein sollte schon ausreichen. Dann haben wir es aber nicht mit der Konjunktion zu tun, sondern mit der Disjunktion, die Teilsätze könnte man durch oder verknüpfen.
[14]
Doch dürfen wir nicht vorschnell urteilen. In dem Leitsatz sind die Teilsätze durch Kommata voneinander getrennt. Wollte ich jedes Komma durch ein verbindendes Wort ersetzen, so würde ich auch hier das Und wählen, vom Sprachgefühl her: «Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint und je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind und je mehr Widersprüche bei der Beweiserhebung zu Tage getreten sind, desto größer ist der Anlass …, weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu benutzen.» Aber eine Konjunktion wird trotzdem nicht daraus. Denn das Und dient hier, wie übrigens oft, nicht als Konjunktion, sondern als Ausdruck einer Aufzählung.9
[15]
Irgendwelche Konsequenzen aus seiner These, derart dass die Tendenz sich durch die Zusammenfassung verstärke oder aber abschwäche, zieht Otte nicht – wozu auch, wenn nach seiner Ansicht ohnehin kein Maß im Spiel ist. Wir hingegen, die wir an die Existenz von Maßverhältnissen glauben, müssen uns fragen: Wie wirkt es sich aus, wenn in den Bedingungen eines je/desto-Satzes gegensätzliche «Tendenzen» von unterschiedlicher Stärke herrschen? Zu Ottes Beispiel könnte sich die Situation ergeben, dass die Verkehrslage der Gemeinde miserabel ist, doch an Arbeitskräften ist kein Mangel und über die Steuern würde die Verwaltung ein wenig mit sich reden lassen. Sollten solche Unterschiede die Logik wirklich gleichgültig lassen? Keineswegs. Wir bewegen uns hier auf dem Gelände der Fuzzy Logic . Das ist eine sehr pragmatische Form der Logik: sie akzeptiert nicht nur die Werte «wahr» und «falsch» (als «völlig wahr» und «völlig falsch» interpretiert), sondern auch die Schattierungen des Alltags: dass etwas «halbwahr», «teilweise wahr», «überwiegend falsch» oder «nicht ganz falsch» ist – und dass man gelegentlich «jein» sagen kann. Fuzzy logic sucht auch nicht nach dem «wahren Und» und dem «wahren Oder», sondern entscheidet pragmatisch über mehrere Formen des Oder und mehrere Formen des Und.10
[16]
Werfen wir zunächst einen Blick auf die klassische Wahrheitswertetabelle der klassischen Logik für die Und- und die Oder-Verknüpfung, um dann zur Fuzzy Logic überzugehen:

x y
x und y
x oder y
1 1
1
1
1 0
0
1
0 1
0
1
0 0
0
0
[17]
Wenn 1 für wahr steht und 0 für falsch, so ist die Verknüpfung x und y dann und nur dann wahr, wenn sowohl x wie y wahr sind; in den anderen drei Fällen ist sie falsch. «Die Verkehrsanbindung der Gemeinde ist gut, und die Gewerbesteuer ist niedrig.» Wenn der Bürgermeister das behauptet, sagt er nur dann die Wahrheit, sofern in der Tat beides der Fall ist. Umgekehrt ist der Satz x oder y dann wahr, wenn auch nur einer der beiden Teilsätze zutrifft, wenn also wenigstens die Verkehrsanbindung gut ist oder die Gewerbesteuer niedrig. Er ist auch dann wahr, wenn beide Teilsätze wahr sind; es handelt sich um das nichtausschließende «und/oder», das man vor allem in Schriftsätzen von Rechtsanwälten findet.
[18]
Fuzzy Logic interpretiert 1 und 0 nicht als blosse Zeichen für «wahr» und «falsch», sondern als echte Zahlenwerte. So gesehen gibt es im Wesentlichen zwei Wege, wie man von der Liste der Zweierkombinationen in der linken Spalte der Tabelle zu den Werten der Und-Verknüpfung in der mittleren Spalte gelangt:

  1. Das Minimum-Prinzip. Man wählt aus den Kombinationen den jeweils niedrigsten Wert.
  2. Das Produkt-Prinzip. Man multipliziert die beiden Werte miteinander.
[19]
Was die Oder-Verknüpfung anlangt, so erreicht man ihre Wertefolge in der rechten Spalte auf zwei entsprechenden Wegen:

  1. Das Maximum-Prinzip. Man wählt aus den Kombinationen von 1 und 0 den jeweils höchsten Wert.
  2. Das Summen-Prinzip. Man addiert die beiden Werte in den Kombinationen (unter der Zusatzannahme, dass sich der Höchstwert 1 nicht überschreiten lässt).
[20]
Fuzzy Logic geht nun noch einen Schritt weiter und bezieht auch die Zahlenwerte aus dem Intervall zwischen 1 und 0 in die Rechnungen ein. 1 und 0 stellen sich dann als Grenzwerte einer Skala von abgestuften Wahrheitswerten dar: als «völlig wahr» und «völlig falsch». Anders als bei den Grenzwerten hat freilich bei den Zwischenwerten das Maximum der Werte nicht mehr denselben Wert wie ihre Summe. (Und das Minimum nicht denselben Wert wie das Produkt.) Beipielsweise sei x 0,5 und y sei 0,4. Das Maximum beträgt dann 0,5 und die Summe 0,9 – ein gewaltiger Unterschied, was soll man tun? Man sollte beide Verfahren in Erwägung ziehen und sich dann erst für das eine oder das andere entscheiden! Denn hinter jedem von ihnen steht ein wichtiger pragmatischer Gedanke.
  1. Die fokussierende Betrachtung. Das Maximum-Prinzip für das Oder und das Minimum-Prinzip für das Und werden gern am Beispiel zweier Siebe veranschaulicht. Ein Bauarbeiter soll einen Haufen Kies sieben; er hat zwei Siebe zur Verfügung: eines mit kleinen Löchern und eines mit großen. Er kann also das größere oder das feinere wählen. Soll nun die Arbeitsleistung evaluiert werden gemäß der Menge des gesiebten Materials und der Dauer des Vorgangs (erstrebenswert sei möglichst viel Material in möglichst kurzer Zeit), so wird man als Maß der Bewertung das Sieb mit den großen Löchern nehmen. Das Maximum setzt sich selbstverständlich auch durch, wenn drei oder mehr Siebe zur Verfügung stehen. Anders verhält es sich bei der Konjunktion, der Und-Verknüpfung: Wenn als Ergebnis des Siebens feines Material erwünscht ist und der Bauarbeiter dazu beide Siebe benutzt, das mit den großen und das mit den kleinen Löchern, so werden die Feinheit und die Menge des gewonnenen Materials vom Sieb mit den kleineren Löchern bestimmt, vom Minimum. Bei einer Evaluation würde man vielleicht sagen: Der Mann hätte sich das gröbere Sieb ersparen und gleich das feinere nehmen sollen. (Übigens nicht immer: Um Stockungen zu vermeiden, kann es zweckmäßig sein, in der Tat beide Geräte zu benutzen, zuerst das gröbere und dann das feinere.)
  2. Die umfassende Betrachtung. Die Anschaulichkeit des Siebmodells macht auch seine Grenzen deutlich. Die Entscheidung nach Maximum und Minimum ist Ausdruck einer Fokussierung, und die ist in vielen Fällen angebracht, aber nicht immer. Auf den BGH-Leitsatz über prozessuale Mängel passt das Maximum-Prinzip mit seiner Fokussierung auf den größten Mangel nicht, richtigerweise müsste auch eine Vielzahl kleiner Fehler ein Urteil zu Fall bringen können. Man sollte hier also nach dem Summenprinzip entscheiden, alle Mängel und ihre Werte sammeln und addieren und dann prüfen, ob die Summe ausreicht, eine Entscheidung über eine Anfechtung des Urteils zu treffen (was natürlich nicht ausschließt, dass einer der Mängel allein schon gravierend genug für eine Aufhebung sein kann).11
[21]
Ottes Beispiel von der Industrieansiedlung ist besonders interessant, weil hier – es geht um ein Konjunktion von Kriterien – sowohl das Minimumprinzip wie das Produkt-Prinzip erwägenswert sind. Die Lage kann sich aus der Sicht eines Unternehmers so darstellen:

  • Geeignete Arbeitskräfte gibt es dort in der heutigen Zeit der Arbeitslosigkeit die Fülle. Geschätzter Wert also 1.
  • Die Gemeinde lockt – wohl nicht zuletzt deshalb – mit einem sehr günstigen Steuerbescheid. Geschätzter Wert 0,9.
  • Die Verkehrsanbindung ist aber sehr mangelhaft, und das lässt sich in der gegenwärtigen Finanzkrise auch nicht ändern. Die Schätzung liegt bei 0,2.
[22]
Darüber kommt man nicht hinweg. Eben dies ist der pragmatische Gedanke, der hinter dem Minimum-Prinzip steht: Man kommt nicht hinweg über einen niedrigen Wert, mögen begleitende Werte noch so hoch sein. Im Unterschied dazu drückt das Produkt-Prinzip den Gedanken aus, dass zusammen auftretende Werte nicht voneinander isoliert sind, sondern in Wechselwirkung stehen. Hohe Werte bleiben beim Kontakt mit hohen Werten erhalten, schmelzen aber durch den Kontakt mit niedrigen Werten zusammen. Bilden wir das Produkt aus den Werten zu einer möglichen Industrieansiedlung – also aus 1; 0,9; 0,2 –, so erhalten wir 0,18 – wegen der hohen Begleitwerte übrigens gar nicht so sehr verschieden von dem Minimalwert 0,2 für das Arbeitspotential. Stünde freilich auch der Begleitwert Steuer bei 0,2, so ergäbe sich nach dem Produkt-Prinzip ein Wert von nur 0,04, während das Minimum unverändert bei 0,2 bliebe.12

4.

Zahlen und Maße ^

[23]
Braucht der Jurist das wirklich: Minimum und Maximum, Summe und Produkt? Ja, er braucht das! Ein Jurist braucht ein Gefühl für Maße und Proportionen, und dazu gehören Minimum und Maximum, Summe und Produkt. Dieses Gefühl ist nicht von Zahlen abhängig, aber es kann anhand von Zahlen eingeübt werden. Lotfi Zadeh, der Begründer der Fuzzy Logic, hat mir gesagt: «Zahlen werden gebraucht wie Krücken. Sobald man sie nicht mehr braucht, sollte man sie wegwerfen.»

5.

Blick auf die Statistik ^

[24]
Wie häufig je/desto-Sätze in der Rechtsprechung vorkommen, kann man mit Hilfe des Retrieval-Systems JURIS ermitteln: Man frage nach den Häufigkeiten von «desto» und dem gleichbedeutenden «umso». Allerdings wird man auf diese Weise nicht alle «komparativen Sätze» erfassen, und einige werden ein bloßer Beifang sein (man denke an das Gegensatzpaar von recall and precision ). Statt «desto» kann man auch, wie wir gleich zu Anfang gesehen haben, etwas umständlicher «in dem Maße» sagen, und das «umso» wird in der deutschen Sprache etwas freier benutzt als das «desto»: «Er ist reich? Umso besser!» Die im Retrieval gewonnenen Zahlen sind also nicht genau. (Und diese hier sind auch schon älter: von März 2009.) Aber Tendenzen wird man doch feststellen können.13
[25]
Die Möglichkeit, überhaupt nach Komparationen suchen zu können, ist nicht selbstverständlich. Zunächst einmal kommt ihr eine Besonderheit der deutschen Sprache zugute, in der es das markante Wörtchen «desto» gibt. Das «plus» («plus ... plus») des Französichen ist viel weniger für eine trennscharfe Abfrage geeignet als das «desto»; und das «the» des Englischen («The longer the better») ist, weil ubiqitär, völlig ungeeignet. (Vielleicht ist es aber aussichtsreich, nach «the more» zu suchen.) Doch auch das «desto» und das «umso» lassen sich in JURIS erst seit einigen Jahren erreichen. Die Schöpfer der Datenbank gingen davon aus, dass an diesen Wörtchen kein juristisches Interesse hänge, so wenig wie an «der», «die, «das» und vielen anderen scheinbar trivialen Wörtern. An die Möglichkeit, JURIS für soziologische, linguistische oder argumentationstheoretische Zwecke einzusetzen, dachten sie nicht. Zudem waren Computer seinerzeit langsam, und Rechenzeit war knapp und teuer.
[26]
Der Tabelle und dem Balkendiagramm am Schluss dieser Ausführungen liegt die Gliederung in «Rechtsgebiete» zugrunde, die von JURIS angeboten wird. Das Balkendiagramm veranschaulicht, in welchem Maße je/desto-Argumentationen in den Entscheidungen zu den einzelnen Rechtsgebieten vorkommen. Die linke Hälfte eines Doppelbalken zeigt an, wie stark das jeweilige Rechtsgebiet in der Datenbank vertreten ist; die rechte Hälfte repräsentiert den Anteil der je/desto-Sätze in diesem Rechtsgebiet – bezogen auf den Bestand aller je/desto-Sätze in den Entscheidungsdatenbank überhaupt. Wenn in einem Rechtsgebiet der Anteil des je/desto groß ist, größer vor allem als der prozentuale Wert, mit dem das Gebiet in der Datenbank vertreten ist, dann darf man vermuten, dass komparativische Prüfungen dort häufig sind.
[27]
Sehr oft wird das je/desto im Staats- und Verfassungsrecht verwandt. Bei den vielen Abwägungsproblemen im Bereich der Grundrechte war das zu erwarten. Ähnlich steht es mit dem Verwaltungsrecht, wo Prüfungen der «Verhältnismäßigkeit» einer aministrativen Maßnahme typisch sind. Vielleicht erklärt sich die hohe Quote im Baurecht aus ähnlichen Gründen. Auffallend ist, dass junge Rechtsgebiete wie das «IT- und Medienrecht» und das «Umweltrecht» eine hohe je/desto-Quote haben. Zu Unrecht habe ich im Arbeitsrecht eine höhere Quote erwartet, und im Sozialrecht liegt sie sogar – erstaunlicherweise, finde ich – unter dem Anteil, den das Gebiet im Ganzen in der Datenbank hat. Dass sie im Kosten- und Gebührenrecht niedrig ist, war wohl zu erwarten. Niedrig ist sie auch im Steuerrecht, und da war ich mir meiner Erwartung keineswegs sicher. Dass im Strafrecht der Anteil des je/desto gering sein werde, war wegen des nulla poena sine lege auch nicht überraschend. Gilt das aber auch für die Strafzumessung? Immerhin spielt die komparative oder ordinale Betrachtungsweise in der Literatur zur Strafzumessung eine beachtliche Rolle,14und schon der alte Topos «Charakter belastet, Motiv entlastet» verlangt nach Paraphrasierungen wie «Je tiefer das Böse in einem Menschen verwurzelt ist, desto ...» und «Je stärker die Versuchung war, desto ...» Ich habe deshalb § 46 StGB gesondert geprüft – («desto» oder «umso») und «§ 46 StGB» –, mit dem Ergebnis: 33 Fälle. Bei insgesamt etwa hunderttausend Entscheidungen zum Strafrecht sind das nicht wenige; man nehme nur irgendeinen Strafrechtskommentar zur Hand und vergleiche das Ausmaß der Erläuterungen zur komparativen (ordinalen) Denkweise bei der Strafzumessung mit dem Gesamtvolumen des Werkes.
[28]
Otte sprach seinerzeit von «Komparativen Sätzen im Recht» und wohlgemerkt nicht von «Rechtsätzen». Tatsächlich findet sich das je/desto vor allem in Entscheidungen, und dann zumal in den Leitsätzen. In Gesetzen und Verordnungen kommt es äußerst selten vor – auch das lässt sich dank JURIS belegen. Überraschend ist jedoch, dass man die Wendung in den Normen des Europarechts überaus häufig anzutreffen scheint (nahezu dreihunderttausend Treffer, das sind über 99 % des Vorkommens insgesamt). Wenn man Stichproben nimmt, zeigt sich allerdings, dass es hier gar nicht um Normen im traditionellen Sinne geht, sondern um Empfehlungen, Mahnungen, Erklärungen, Kommentierungen. Doch auch so gesehen, ist die Häufigkeit auffällig. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gelernt, dass es heutzutage nicht nur «Soll-Vorschriften» gibt, sondern auch «Sollte-Vorschriften».15In ihnen kommt nicht der «Wille des Gesetzgebers» zum Ausdruck, sondern einer seiner Seufzer.




Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Strafrechtswissenschaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe, Hrsg. Paeffgen et al., Berlin 2011, 189–200.

  1. 1 G. Otte, Komparative Sätze im Recht. Zur Logik eines beweglichen Systems. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 (1972), S. 301–320; insbesondere S. 311. Wesentliche Partien der anschließenden Diskussion sind angeführt in G. Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in: Fr. Bydlinski, H. Krejci, B. Schilcher, V. Steininger (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, Wien-New York 1986, S. 271–285. Erstaunlich viele Beispiele für je/desto-Sätze stellt dort R. Sack vor: Bewegliche Systeme im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, a.a.O.S. 177–198.

    Dass Ingeborg Puppe, der diese Festschrift gewidmet ist, sich immer wieder mit dem Phänomen komparativer Vergleiche und ordinaler Skalen auseinandergesetzt hat, liegt auf der Hand. Mir ist dazu der Vortrag in bewundernder Erinnerung geblieben, den sie einst in München gehalten hat, und der heute unter dem Titel «Ein Versuch, kriminalistisch zu denken», elegant wie damals, in ihren «Strafrechtsdogmatischen Analysen» steht: S. 191 ff.

  2. 2 Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart , 2. Aufl. Leipzig 1796.

  3. 3 Aus den Urteilsgründen: «Die Klägerin ... ist nicht nur, wie die Gerichte zutreffend festgestellt haben, in der Romanfigur der Esra erkennbar dargestellt. Ihre Rolle im Roman betrifft auch zentrale Ereignisse, die unmittelbar zwischen ihr und dem Ich-Erzähler, der seinerseits unschwer als der Autor zu erkennen ist, und während deren Beziehung stattgefunden haben. Sowohl ihre intime Beziehung zum Autor wie ihre Ehe, die Krankheit ihrer Tochter und ihre neue Beziehung sind nach den zutreffenden Feststellungen der Gerichte mehr oder weniger unmittelbar der Wirklichkeit entnommen ..., so dass dem Leser ... nicht nahegelegt wird, diese Geschehnisse als Fiktion zu verstehen, auch weil schon aus der Perspektive des Romans eigenes Erleben des Ich-Erzählers geschildert wird.»

  4. 4 Fr. Haft, Strafrecht Besonderer Teil , 7. Aufl. 1998, München, S. 28.

  5. 5 In einer Dissertation wurde festgestellt, dass die längste je von der Rechtsprechung verlangte Wartezeit drei Stunden betrug: T. Poeck, Wartepflicht und Wartedauer des § 142 Abs.1 Nr.2 StGB, Frankfurt a.M. 1994 (Peter Lang).

  6. 6 So schon L. Philipps, Komparativ oder fuzzy? Zur Frage der sogenannten komparativen Sätze im Recht, in: Toward Comparative Law in the 21st Century, The 50th Anniversary of The Institute of Comparative Law in Japan, Tokyo 1998 (Chuo University), S. 1125–1134.

  7. 7 Der Leser wird intuitiv richtig rechnen, aber er will wohl auch eine passende Formel sehen. Mit min(1-x + y,1) definiert der polnische Logiker Łukasiewicz die konditionale Verknüpfung in der mehrwertigen Logik. Auf das je und das desto von Unfallschaden und Wartezeit bezogen, bedeutet das: Je höher der Unfallschaden x, desto niedriger der Komplementärwert 1-x. Doch zu diesem wird y addiert, der Wert der Wartezeit: je höher y ist, in desto höherem Maße wird 1-x kompensiert. Allerdings sollte diese Summe die logische Obergrenze von 1 nicht überschreiten, deshalb wird 1 als höchstmögliches Minimum festgelegt.

  8. 8 Die Entscheidung stellt klar, dass ein Gericht sich gegenüber der Revision nicht erfolgreich auf die «richterliche Überzeugung» berufen kann, wenn das der Überzeugung zugrundegelegte Beweisergebnis zweifelhaft ist. Ob das der Fall ist, entscheidet sich freilich auf Grund des Textes des angegriffenen Urteils.

  9. 9 Wo im Deutschen ein Und steht, benutzt man übrigens im Englischen häufig ein Or: «The more beautiful a woman is or the richer she is the better are her chances of finding a husband of substance.»

  10. 10 Zum Geist dieser Logik vgl. Bart Kosko, fuzzy-logisch, eine neue Art des Denkens,Hamburg 1993. Eine gute Übersicht über die ungemein vielfältigen fuzzy-logischen Verknüpfungen findet sich bei Th. Tilli, Fuzzy-Logik, 2. Aufl. München 1991, S. 167 ff. Die Fuzzy Logic gleicht in vielem der mehrwertigen Logik, ihr Grundgedanke ist jedoch anders. Hinter der mehrwertigen Logik, jedenfalls hinter ihrem Ursprung bei Łukasiewicz, steht das Bestreben, eine «reine» Logik zu schaffen (schon der Begriff der «Wahrheit» stand im Verdacht der Psychologie); während umgekehrt die Fuzzy-Logik von einer ganz pragmatischen, anwendungsorientierten Einstellung bestimmt wird.

    Zur Fuzzy Logic im Recht vgl. beipielsweise L. Philipps, Das Nebeneinander von Maximum und Summe im Recht und in der Fuzzy Logic, Slovenian Law Review Vol. III (2006), S. 37–43; D. Effer-Uhe, Die Bindungswirkung von Präjudizien. Eine Untersuchung aus dem Blickwinkel von Prinzipientheorie und Fuzzy-Logik, Göttingen 2008 (Cuvillier Verlag); sodann, hrsg. von L. Philipps u.G. Sartor, Neural Networks and Fuzzy Reasoning, Special Issue of: Artificial Intelligence and Law, Vol. 7, 1999, speziell darin die Einleitung: From Legal Theories to Neural Networks and Fuzzy Reasoning, S. 115–128.

  11. 11 Ein prachtvoller je/desto-Satz, soeben erst veröffentlicht: «Je unklarer das Ermittlungsbild in der Situation der Kontrolle oder je komplexer der Sachverhalt als solcher sich in der Kontrolle darstellt und je genauer deswegen die Analyse der Blutwerte sein muss, desto eher werden die Ermittlungsbehörden die Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung annehmen können und notfalls ohne richterliche Entscheidung handeln dürfen.» (Ebert, ZIS 03/2010 S. 249, 254, zu § 81a StPO.) 

  12. 12 Zu beachten ist noch, dass das Produkt als Entscheidungsgrundlage unsicherer ist als das Minimum. Bei der Multipikation vervielfältigen sich auch kleinere Abweichungen, und was alles man als Faktor der Multiplikation einsetzen sollte, darüber kann man leicht unterschiedlicher Meinung sein.

  13. 13 Die Ergebnisse verdanke ich Claus Cramer, der mir mit Rat und Tat geholfen hat wie immer wieder seit jener Zeit, als ich noch Vorlesungen hielt und er noch kein Oberverwaltungsrat war.

  14. 14 Vgl. Streng im Nomos-Kommentar (2. Aufl. 2005) § 46 Rdn 109 ff.

  15. 15 Verordnung (EG) Nr. 40/2008 des Rates vom 16. Januar 2008 zur Festsetzung der Fangmöglichkeiten und begleitenden Fangbedingungen für bestimmte Fischbestände ...

    3. Einsatz von Tori-Leinen

    3.1. Die Leine sollte von einer am Schiff befestigten Stange ins Wasser führen.

    Die Tori-Stange sollte so hoch wie möglich sein, ...

    Je höher die Stange, desto größer der Köderschutz.

    (Tori bedeutet Vogel im Japanischen. Tori-Leinen sollen Vögel davon abhalten, nach den Ködern der Fangleinen zu schnappen und dann elendiglich umzukommen. Verf.).