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Der Kampf um markierte und unmarkierte Ausdrücke in Sprache und Recht

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Der Kampf um markierte und unmarkierte Ausdrücke in Sprache und Recht, in: Jusletter IT 5 October 2011
Hier geht es nicht um die Differenz von Grundsätzen und Ausnahmen, sondern von allgemeinen und «markierten» Begriffen. Wenn man mich fragt, ob ich einen Hund habe, antwortete ich wahrheitsgemäß mit ja, wenn auch mein Hund eine Hündin ist. Im Deutschen ist das Wort Hund, linguistisch gesehen, dem Geschlecht nach «unmarkiert»: es bezieht sich auch auf Hündinnen. Bei den Katzen andererseits ist es das weibliche Geschlecht, das unmarkiert ist; wenn die «schwarze Katze», die einem Abergläubischen über den Weg läuft, ein Kater ist, wird ihn das nicht beruhigen. Bei Personen ist in der klassischen deutschen Gesetzessprache das männliche Geschlecht unmarkiert, so beim «Verbraucher» (§ 13 BGB). Das ändert sich aber rapide: im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) werden stattdessen die beiden Begriffe «Verbraucherin und Verbraucher» verwandt, als «diejenige, an die oder derjenige, an den ... abgegeben wird, wobei Gewerbetreibende, soweit sie ... beziehen, der Verbraucherin oder dem Verbraucher gleichstehen». Solche Manierismen sind leider nicht nur komisch, sondern mit tiefen Einschnitten in das Gefüge der deutschen Sprache verbunden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Markierung des Geschlechts
  • 2. Die Aufhebung der sprachlichen Asymmetrie
  • 3. Die Markierung eines Unwerts
  • 4. Unmarkierte Maßbegriffe

1.

Die Markierung des Geschlechts ^

[1]

Ein Freund von mir, ein Arzt, sandte unlängst das Manuskript eines Aufsatzes an eine Fachzeitschrift. Er beschrieb darin eine Situation, die sich in Krankenhäusern ergeben kann. In solchen Situationen müsse der «diensthabende Arzt» den «Oberarzt» rufen. Die Redaktion der Zeitschrift nahm den Artikel zur Veröffentlichung an, verlangte jedoch eine sprachliche Korrektur: statt «Arzt» und «Oberarzt» möge der Verfasser «Ärztin» und «Oberärztin» schreiben. Mein Freund hielt aber an seiner Wortwahl fest, auch nach einem lebhaften Briefwechsel. Es gebe nämlich Fälle, wo in der Tat eine Ärztin gebraucht werde, etwa wenn es um das traumatisierte Opfer einer Vergewaltigung gehe. Diese Besonderheit könne jedoch nicht mehr ausgedrückt werden, wenn man «Ärztin» als Bezeichnung auch für Männer verwende.1Die Zeitschrift veröffentlichte schließlich den Artikel, wenn auch versehen mit einer Bitte um Verständnis: Der Verfasser habe auf den überholten Sprachgebrauch bestanden.

[2]

Mit den Mitteln der Linguistik lässt sich dieser Streit analysieren: Bei vielen Gegensatzpaaren in der Sprache kann der eine der beiden gegensätzlichen Ausdrücke die andere Seite mitumfassen; umgekehrt kann der andere Ausdruck das jedoch nicht, seine Bedeutung ist auf sich selbst beschränkt. Am Beispiel «Arzt» lässt sich das gut exemplifizieren. § 278 StGB lautet: « Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder einer Versicherung wider Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.» Ärzte? Und wenn es nun eine Ärztin ist, die ein «unrichtiges Gesundheitszeugnis» ausstellt? Sie macht sich ebenfalls strafbar; Ärztinnen fallen ebenfalls unter § 278 StGB. Daran zu zweifeln, ist wohl noch keinem Juristen in den Sinn gekommen.2

[3]

Man stelle sich aber vor, der Gesetzgeber formulierte so: «Ärztinnen ..., welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ... ausstellen ...» Eine solche Vorschrift würde sich nicht auf Männer erstrecken lassen; dem stünde das strafrechtliche Analogieverbot entgegen. Ein Jurist würde verblüfft fragen: Warum wurde nur die Tatbegehung durch eine Frau unter Strafe gestellt? Ein Linguist würde fragen: Warum wurde der «markierte» der beiden Terme gewählt? In dem Gegensatzpaar «Arzt – Ärztin» ist «Arzt» der sog. unmarkierte Term; er ist in seiner Bedeutung neutral und kann beide Seiten erfassen. «Ärztin» dagegen ist der markierte Term; er bezeichnet nur den weiblichen Vertreter des Arztberufs. («Männliche Vertreterin» ist übrigens ein Widerspruch; denn «Vertreterin» ist als weiblich markiert.)3

[4]

Ein Beigeschmack nach Mann scheint jedoch noch dem Maskulinum in neutraler Bedeutung anzuhaften. Ich kenne kluge und sensible Frauen, die keine Männerhasser sind, aber die Verteilung von männlich und weiblich in der deutschen Sprache als ungerecht empfinden. So zum Beispiel meine Buchhändlerin, bei der ich kürzlich «Die Bibel in gerechter Sprache» gekauft habe.4(Ich besitze eine ganze Reihe von Bibelübersetzungen.) Leicht werden es die Vorkämpfer für eine gerechte Sprache freilich nicht haben, weil im Deutschen, wie in vielen anderen europäischen Sprachen, die Markierung des Weiblichen schon auf der syntaktischen Ebene erfolgt: Wenn man ein Wort mit dem Suffix «...in» hört oder liest, geht man vom weiblichen Geschlecht aus. Ich vermag mir nicht vorzustellen, dass man eine syntaktische, in der Form des Wortes liegende Markierung auf der semantischen, der Bedeutungsebene, wegverstehen kann und dass dieses Verständnis irgendwann in die Selbstverständlichkeit des alltäglichen Sprachgebrauchs übergehen wird.

[5]

Folgenden Satz, der von einem sehr guten Wissenschaftsjournalisten stammt, zitiere ich gelegentlich vor Freunden: «Während Jahrhunderttausende durchstreifte der Mensch als Jägerin und Sammlerin die Steppen.» Meine Gesprächspartner fragen sich dann jedesmal verblüfft, was wohl nach Ansicht des Autors die Männer gemacht haben, während ihre Frauen jagten und sammelten. Haben sie mit Würfeln gespielt, aus den Knochen der Beutetiere geschnitzt, die ihre Frauen herangeschleppt hatten, und dazu Bier in einer Frühform getrunken? Haben sie Höhlenmalereien angefertigt? Der Journalist hat schlicht gemeint, dass «der Mensch als Jäger und Sammler» die Steppen durchstreift habe («Jäger» und «Sammler» sind unmarkierte Ausdrücke); er wollte das jedoch gerechter ausdrücken. Ein netter Versuch, wenn auch ein untauglicher.5

[6]

Es sind nicht nur Substantive, die sich auf Weibliches wie auf Männliches beziehen können, sondern auch Pronomina. «Man» ist ein solches Pronomen. Laut Kluges Etymologischem Wörterbuch existiert es seit dem Althochdeutschen, doch sieht ihm der wachsame Blick mancher Menschen auch heute noch das «Mann» an, von dem es einst hergeleitet wurde.

[7]

«Man nehme ...» hieß es einst in den Kochbüchern. Wie mögen die Hausfrauen früherer Generationen dieses «Man nehme ...» empfunden haben? Fühlten Sie sich gedemütigt, weil sie so angeredet wurden? Oder haben sie sich heimlich gefreut, weil mit dem «man» auch die Männer zum Kochen angehalten wurden? Vielleicht aber haben sie das «man» gar nicht als Ausdruck der Geschlechtlichkeit wahrgenommen. Wie dem auch gewesen sein mag – längst ist das einst geflügelte «Man nehme ...» aus den Kochbüchern verschwunden.6Man hat es ersetzt durch den Infinitiv der militärischen Befehlsprache: Möhren putzen, waschen, halbieren, hinlegen – auf! In Österreich wird eine Ansichtskarte verkauft, auf der ein Stück Sachertorte abgebildet ist: ein verlockender Anblick! Daneben aber tut sich eine Einöde auf: ein Rezept aus 18 Infinitiven.7

[8]

Es ist freilich zu vermuten, dass das Verschwinden des «man nehme» nicht nur am «man» liegt, sondern auch am «nehme», an den Formen des Konjunktivs. Unlängst hat man in Bayern Germanistikstudenten im ersten Semester eine Reihe elementarer Aufgaben aus der deutschen Grammatik vorgelegt, darunter die Aufforderung, einen Satz in die indirekte Rede zu setzen. Der Satz lautete « Diese Aufgabe ist leicht zu lösen», und vorgegeben war: « Er sagte, dass ...» Wer nun « ... die Aufgabe leicht zu lösen ist » in die Lücke einsetzte, erhielt immerhin einen Punkt zuerkannt. Für das richtige «. .. . zu lösen sei » gab es zwei Punkte. «Die angehenden Germanisten erreichten nur das Niveau von Sechstklässlern.»8Ob angehende Juristen, für die die Kunst, in der richtigen Weise zu zitieren, genau so wichtig ist wie für Germanisten, auch so schlecht abschneiden würden, sollte ebenfalls einmal untersucht werden. Sprache und Recht gleichen einander in manchem, sind sogar miteinander verwandt. Wo das eine verfällt, verfällt auch das andere.

[9]

Neben dem «man» wird auch das «wer» von denen, der unter der deutschen Sprache leiden und sie deshalb leiden lassen,9mit Misstrauen betrachtet. Das Ärgernis am «wer» ist: Pronomina, die daran anknüpfen, sind männlich. Ohne ein nachfolgendes männliches Personalpronomen geht es nur im Nominativ. Am Beispiel geflügelter Worte sei das einmal durchdekliniert:

Wer aber sein Kind liebhat, ( der ) züchtiget es. (Jesus Sirach 30,1)

Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’.

Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.

Wen die Götter lieben, den rufen sie früh zu sich.

Die Casus brauchen einander nicht zu entsprechen:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.

Und ein Wort aus der Gegenwart:

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
[10]

Es sind ganze Blöcke, die die Sprachbegradiger aus der deutschen Sprache herauszusprengen versuchen, mit der gleichen Überzeugung, ein gutes Werk zu tun, mit der man Flüsse begradigt. Einen Teil der klaffenden Wunden füllt man dann mit Schutt auf: so schlägt ein Text des Bundesverwaltungsamtes vor, das männliche Possessivpronomen «sein», wenn es auf «wer» folgt, durch das Adjektiv «eigen» zu ersetzen:10«Wer den eigenen Arbeitsraum verlässt, hat den eigenen Computer auszuschalten.» Und, um ein Wort von Lessing der Forderung des Tages anzupassen: «Wer wird nicht den eigenen Klopstock loben!»

2.

Die Aufhebung der sprachlichen Asymmetrie ^

[11]

In der deutschen Sprache ist eine Asymmetrie angelegt, zugunsten des Mannes und zu Lasten der Frau. Diese Asymmetrie wollen einige umkehren, indem sie beispielsweise grundsätzlich «Ärztin» sagen, dagegen «Arzt» nur dann, wenn eindeutig feststeht, das ein männlicher Vertreter des Heilberufs gemeint ist. (So auch die Redaktion der zu Anfang erwähnten Zeitschrift.) Es gibt aber auch den Ansatz, die Asymmetrie aufzuheben gemäß einer Ausdrucksweise, die den Geschlechtergegensatz vermeidet. Zur Erreichung dieses Zieles bieten sich zwei Verfahren an:

[12]

Erstens: Man erhebt sich auf eine geschlechtsneutrale Abstraktionsstufe. In diesem Sinne hat der Gesetzgeber im Transfusionsgesetz das Wort «Person» gewählt: «approbierte ärztliche Person». Wo es tatsächlich auf das eine oder das andere Geschlecht ankommt, lässt sich das durch ein entsprechendes Adjektiv klarstellen: «weibliche approbierte ärztliche Person» und «männliche approbierte ärztliche Person». Dass solche Ausdrücke den Regeln eines hinnehmbaren Stils widersprechen, liegt auf der Hand. Zu bedenken ist aber auch noch ein demokratisches Defizit: Zwar gibt es offenbar Frauen, die sich nicht der Gruppe der Ärzte zuordnen lassen wollen, sondern lieber den «approbierten ärztlichen Personen» – sofern die männlichen Ärzte dieses Schicksal teilen müssen. Aber wie viele sind das? Hat man die Ärztinnen je gefragt? Alle Welt klagt heutzutage über «Paternalismus»; an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gibt es ein großangelegtes Forschungsprojekt dazu. Unter Paternalismus versteht man, dass das Recht, einem bonus pater familias gleich, über die ihm Anvertrauten gemäß ihrem «wahren Willen» entscheidet; auf ihren empirischen Willen kommt es dabei nicht an. Merkwürdig, dass ich von «Maternalismus» noch nie etwas gehört habe.11

[13]

Beim zweiten Verfahren, die sprachliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern aufzuheben, wählt man ein Verb, das die charakterisierende Tätigkeit der beiden betroffenen Geschlechter bezeichnet. Von diesem Verb bildet man das Partizip der Gegenwart, welches man alsdann substantiviert. So entsteht aus dem Studenten und der Studentin der und die «Studierende». Der unterschiedliche Artikel mag zwar noch ein Schönheitsfehler sein, der aber im Plural wegfällt. Stilistisch gesehen ist gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden. Man muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass durch die Verbalisierung der Statusbegriff «Student» aufgelöst wird. Das braucht keineswegs schlecht zu sein. Von dieser Möglichkeit hat schon die Humboldt’sche Formel einer «Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden» Gebrauch gemacht, durch die der Statusgegensatz «Professor – Student» im Rahmen der Forschung und Lehre aufgehoben werden sollte. Und heute? Die Konnotation der Intellektualität, die einst mit dem Status «Student» verbunden war und von der die Studentenbewegung der späten sechziger Jahre noch intensiven Gebrauch machte, ist längst verschwunden, gleichgültig, ob nun von «Studenten» oder von «Studierenden» die Rede ist.

[14]

Ich möchte noch einmal auf die zu Anfang erwähnte Zeitschrift zurückkommen, die auf dem Worte «Ärztin» statt «Arzt» bestand und sich auch nicht mit dem Ausdruck «approbierte ärztliche Person» abfinden wollte, zu dem mein medizinischer Freund sich bereitgefunden hätte. Vielleicht sollte man wissen, dass es sich um eine Zeitschrift für Hebammen handelte, für Frauen also, die mit Recht stolz sind auf ihren Status. Ich denke mir, dass sie in der Floskel «approbierte ärztliche Person» den Ansatz zu einer Statusauflösung spürten, die eines Tages auch vor den Hebammen nicht halt machen wird.

3.

Die Markierung eines Unwerts ^

[15]

Der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster hat eine beachtenswerte These aufgestellt: Das Wort «Unrecht» bezeichne nicht den Gegenbegriff zum Recht, sondern bedeute eine Qualifizierung, so wie das «Unwetter» nicht der Gegenbegriff zum Wetter sei, sondern eine seiner Formen.12Dieses Phänomen gibt es in der Tat: Das «Unwort des Jahres», das die «Gesellschaft für deutsche Sprache» auszuwählen pflegt, ist seinerseits ein Wort; das Gegenteil eines Wortes ist es jedenfalls nicht. Ferner: Eine «Untat» ist eine Tat. Wer Untaten zu begehen pflegt, mag ein «Unmensch» sein, aber ein Mensch bleibt er allemal. Ebensowenig hört ein Tier auf, ein Tier zu sein, wenn es ein «Untier» ist. «Geziefer» bedeutet fast das gleiche wie «Ungeziefer»; dieses «Unzeug» liebt man nicht. Und jedes «Unkraut» ist ein Kraut. Bleibt noch das «Unding», das auch ein «Ding» ist, in einem weiten Sinn dieses Wortes. Statt zweier gegensätzlicher Begriffe hat man in diesen Fällen wieder Begriffspaare, deren eine Seite (Wetter, Tier) neutral, deren andere (Unwetter, Untier) markiert ist.

[16]

So verhält es sich aber nicht bei allen Ausdrücken mit dem Präfix «un...». Das Präfix kann statt der Abwertung eines Begriffs auch den Gegenbegriff hervorrufen, so beispielsweise bei der «Unzucht», welcher «Vorschub zu leisten» in den älteren Versionen des StGB unter Strafe stand.13Die «Unzucht» ist offensichtlich als Gegenbegriff zu «Zucht (und Ordnung)» gemeint, nicht als eine ihrer Formen. Ferner: Was schön ist, ist nicht unschön, und was unschön ist, ist nicht schön. Was unfertig ist, ist nicht fertig, und was fertig ist, ist nicht unfertig. Wer glücklich ist, ist nicht unglücklich, und wer unglücklich ist, ist nicht glücklich. Die Frage ist nun: Handelt es sich beim Unrecht um einen markierten Begriff, wie beim Unwetter oder Untier, oder um einen Gegenbegriff, wie bei der Unzucht oder beim Unglücklichsein?

[17]

Betrachten wir zunächst, um dem Recht näherzukommen, einen ihm nahestehenden Begriff, den der Sitte. Es zeigt sich: Auch eine Unsitte ist eine Sitte, eine üble Sitte. Ein einzelner Verstoß gegen eine Sittennorm macht noch keine Unsitte aus. Erst wenn eine nennenswerte Anzahl von Studenten während der Vorlesung einem mp3-Player lauscht und wenn dies öfters geschieht, wird daraus eine Unsitte.

[18]
Eine andere Unsitte unserer Tage besteht darin, dass bei einem geselligen Beisammensein jeder jeden aus jedem Winkel digital zu fotografieren pflegt. Einen Menschen ohne dessen Einwilligung zu fotografieren kann – das eine oder andere Detail hinzugefügt – strafbares Unrecht sein; hierzu genügt ein einzelner Schnappschuss (vgl. §§ 22, 33 KunsturheberG , §§ 43 Abs. 2, 44 Abs. 1 BundesdatenschutzG Abs. 1, sowie § 201 a StGB). Eine Unsitte wurde aus dem Fotografieren erst, als es eine Sitte wurde.

[19]

Andererseits: Betrug und Diebstahl, Mord und Totschlag sind typische Formen des Unrechts; dass sie darüber hinaus noch Erscheinungsformen des Rechts sein sollen, ist nicht einsehbar. Allerdings gibt es Unrecht, das in der Tat als Recht auftritt, so bei der Rechtsbeugung. Aber hier handelt es sich um Unrecht unter der Maske und mit den Mitteln des Rechts; eine besondere Form des Rechts ist das nicht.

[20]

Unrecht kann freilich auch in der Form eines Gesetzes auftreten, als «gesetzliches Unrecht». Und wenn ungerechte Gerichtsentscheidungen, Verwaltungsakte und Gesetze den Charakter eines Staates bestimmen, spricht man von einem «Unrechtstaat». Es fragt sich wieder, wie dies Wort zu verstehen ist. Im Sinne eines Un-Rechtstaats, eines üblen Rechtstaats? Oder eben als Unrecht-Staat. Sicherlich ist die zweite Interpretation die natürliche.

[21]

Wenn Unrecht als Recht auftritt, so verhält sich das nicht anders, als wenn ein durch und durch unschönes Gebilde als Kunstwerk auftritt; auch das kommt ja vor, auch in Kunstausstellungen. Ausdrücke wie «Recht» oder «Kunst» beziehen sich auf Werte wie Gerechtigkeit und Schönheit. «Man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen», schreibt Gustav Radbruch.14Dass es darüber hinaus eine spezielle Form von Gerechtigkeit sei, die mit dem Weltverständnis der deutschen Sprache verbunden ist, kann man allerdings nicht erwarten.

[22]

Für Hoerster ist es nicht ein angestrebter Wert, der das Gesetz zum Rechtsgesetz macht, sondern die Befugnis des Staates, die Befolgung der Norm zu erzwingen. Der Zwang als Attribut des Gesetzes, besonders von Kant betont, charakterisiert die Rechtsordnungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber ob dies Kriterium heute noch entscheidend sein kann, scheint mir fraglich. Man denke an die vielen «Empfehlungen», «Arbeitshilfen», «Leitfäden». «Wegweisungen» und «Handreichungen» die, von staatlicher oder kommunaler Seite angeboten, heutzutage der Gesellschaft Form zu geben versuchen. Die Befolgung solcher Normen wird nicht erzwungen, außer in informeller, oft diffuser Weise. Aber wer als Beamter aufsteigen will, wer als Wissenschaftler ein Forschungsprojekt finanziert bekommen möchte, wer sich an einer Ausschreibung beteiligen möchte, kurz, wer im Leben vorankommen will, der wird den Faden, an dem er sich entlangtasten kann, nicht loslassen, der wird vom Wege, der ihm gewiesen ist, nicht abweichen, der wird die ihm hilfreich dargebotene Hand nicht ausschlagen. Allein das Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend bietet so viele Handreichungen an wie eine indische Gottheit.

4.

Unmarkierte Maßbegriffe ^

[23]

Lauschen wir für einen Augenblick einem Gesprächsfetzen:

A: «Wie groß soll die Schachtel sein, an der Sie interessiert sind?»
B: « Etwa 30 cm lang, 5 cm breit und 2 cm hoch.»
A: «Also ziemlich klein.»
B: «Ja, und vor allem schmal und flach.»
[24]

Die «Größe» der Schachtel wurde nach «Länge», «Breite» und «Höhe» bestimmt, und diese und einige andere Ausdrücke werden in der deutschen Sprache auch dann verwandt, wenn sie zur Bestimmung eines Objekts dienen, das klein, schmal und flach ist. Maße werden also durch Ausdrücke bestimmt, die unmarkiert sind und ihre Gegenpole mitumfassen. Im Übrigen sind das wiederum Ausdrücke, die zur Ausmalung von Männlichkeit dienen. Groß, breit, dick, schwer, stark, hart und laut: «Welch ein Mannsbild!» möchte man da staunend ausrufen.

[25]

Sollte das Ministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend doch Recht haben mit seiner Theorie? Das Ministerium hat die These aufgestellt, dass «es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt».15Von Siegmund Freud hat die Behörde das nicht; jedenfalls ist er nicht zitiert worden und ein anderer Wissenschaftler auch nicht. Dem Rechtskundigen wird freilich dämmern, das es hier gar nicht um eine Theorie geht, sondern um einen juristischen Kunstgriff, der die Zuständigkeit des Familienministeriums für jedes Stück «Wirklichkeit» legitimieren soll.16Naturwissenschaftler und Techniker sollten darauf gefasst sein, dass sich die Behörde mit ihnen und ihrem Maßbegriffen beschäftigen wird.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Festschrift für Egon Müller, Hrsg. H. Jung, B. Luxenburger, E. Wahle, Baden-Baden 2008, 569–576

  1. 1 Ich zitiere aus einem seiner Briefe: «Der eine Punkt, mit dem ich nicht gut zurecht komme, sind die durchgehend weiblichen Berufsbezeichnungen. Mir ist die dahinter stehende Intention durchaus ersichtlich, ein Anliegen, dem ich mich auch nicht verschließen, das ich im Gegenteil fördern möchte. Allein ich möchte mich bei einem Text aus meiner Feder auch nicht allzuweit von der deutschen Sprache und ihren Üblichkeiten entfernen. Vor allem dann, wenn sich unterschiedliche Konnotationen ergeben.
    Besonders auffällig und aus meiner Sicht nicht mehr hinnehmbar wird dies beispielsweise an der Stelle der «Fachärztin-/Oberärztin-Indikationen». Ich verstehe meine Aufgabe als Autor, einen Text vor allem lesbar und für die Leserin oder den Leser zu schreiben. [Ich] verstehe unter einer Fachärztin-/Oberärztin-Indikation  etwas anderes als unter einer Facharzt-/Oberarzt-Indikation. Während ich bei letzterer entsprechend der Üblichkeit erwarte, dass man eine ‹approbierte ärztliche Person› (wie es im Transfusionsgesetz nun neutral heißt) ruft, die einen Facharztstatus aufweist, egal welchen Geschlechts sie ist, erwarte ich bei ersterer, dass dezidiert eine Fachärztin, also Frau kommen muss (vielleicht in einer psychischen Ausnahmesituation der Patientin, welche weiblichen Beistand erforderlich macht).»

  2. 2 Genau so verhält es sich beim «Mörder», der nach § 211 StGB «mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft» wird: Selbstverständlich gilt das auch für Mörderinnen.

  3. 3 Vgl. dazu John Lyons, Semantik (Bd.1), München 1980, S. 315 ff., ein Buch, das nicht einfach übersetzt ist, sondern «für den deutschen Leser eingerichtet». Den Unterschied von markiert und unmarkiert (neutral) gibt es auch bei dem Geschlecht von Tieren. Bei den Löwen ist die «Löwin» markiert, bei den Katzen der «Kater». (So jedenfalls im Deutschen; die romanischen Sprachen haben ein anderes Katzenbild.) Deshalb kann man zwar sagen «Der Löwe ist eine Raubkatze», aber nicht «Die Löwin ist ein Raubkater».

  4. 4 In dieser Bibel wurde eine Jahrtausende alte Gesetzeslücke gestopft. Nunmehr sind nicht nur die «Hexen», sondern auch die «Hexer» zu töten. 2. Mose 22.18. Meinem ursprünglichen Vorurteil entgegen gebe ich zu, dass sich der Text, der angenehm unkirchlich klingt, mit Gewinn lesen lässt. Dass er von der Evangelischen Kirche Deutschlands abgelehnt wird, steht auf einem anderen, theologischen Blatt.

  5. 5 Vermutlich hat der Autor einen Usus aus dem englischen Sprachraum übernommen. Der britische Linguist Geoffrey Leech schreibt zwar in seinem Buch Semantics (London 1974, Penguin Books), S.189: « ... in the syntactic choice in English between ‹maculine› and ‹feminine› (correlating with the semantic choice between ‹male› and ‹female›), the masculine term is the unmarked one. As evidence for this, note that if we had no specific sex in mind, we would say Nobody in HIS senses would do that rather than nobody in HER senses would do that.» Das mag auch so gewesen sein, als Leech sein Buch veröffentlichte. Heutzutage könnte er seine These nicht mehr mit seinem Beispiel als «evidence for this» begründen. Zu oft liest man mittlerweile nobody in HER senses oder nobody in THEIR senses .

  6. 6 Die Wendung «frau nehme ...» wäre natürlich kein Ausweg; denn ein Kochbuch wendet sich an Frauen und Männer. «frau», wenn man dieses Pronomen benutzen will, ist dem Geschlecht nach markiert, «man» dagegen ist unmarkiert. Dass ich hier und auch sonst nicht auf Empfehlungen wie «man/frau» oder auf andere Bizarrerien eingehe, wird man mir hoffentlich nachsehen.
  7. 7 Wer Kochrezepte in klassischer Manier lesen möchte, elegant und appetitanregend formuliert, greife zu Johannes M. Simmels Roman «Es muss nicht immer Kaviar sein». Das Buch erschien 1960; es hat viele Auflagen hinter sich und ist immer noch im Handel.

  8. 8 Das gilt für den Test insgesamt; die Ergebnisse der einzelnen Aufgaben wurden nicht angegeben. Siehe dazu den Artikel «Das Studium ist dem Genitiv sein Tod» im Spiegel-online http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,477841,00.html . Wie sich dieses Versagen erklärt, darüber rätselt man; dass jedoch österreichische Studenten an der Universität Passau «verhältnismäßig gut» abgeschnitten habe, lässt vermuten, dass der Deutschunterricht an den österreichischen Schulen besser ist als in Deutschland.

  9. 9 Einen Eindruck davon vermittelt dieses Bekenntnis: «Eine lose Begriffssammlung in ‹Denglisch› aus unseren GEW-Arbeitspapieren, wie controlling, net-key, empowerment, reader, mindmap, download, best practice zeigt, dass wir Begriffsübernahmen aus dem Angloamerikanischen durchaus akzeptieren, ganz abgesehen von solchen Wortfindungen im Deutschen wie Zieloperationalisierung. Wie so oft scheint es auch hier weniger um die sprachliche Formulierung als um den neuen Inhalt des Begriffes zu gehen.» Aus einem «Workout» der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Gender Mainstreaming Pilotprojekt 10 Gleichstellungspolitik, im Internet. Ja wenn es weniger um die Sprache als um den Inhalt geht, wozu dann der ganze Aufwand mit der «sprachlichen Gleichstellung»?
  10. 10 Unter Stichworten wie «Sprachliche Gleichbehandlung» finden sich bei Google zahlreiche Artikel mit Faustregeln.

  11. 11 Auf Grund lebhafter Kommentare zu einem Entwurf des gegenwärtigen Textes, für die ich herzlich danke, weiß ich, dass ich mich einer politischen Stellungnahme, so sehr dergleichen gegen meinen Geschmack ist, nicht entziehen kann. Wenn es denn also sein muss: 1. Ich wehre mich mit allen Kräften gegen alle Bestrebungen, die deutsche Sprache durch Amputationen oder durch Kreuzungen mit dem Englischen zu verändern. 2. Davon abgesehen betrachte ich feministische Bestrebungen mit Sympathie. 3. Ich bewundere die gegenwärtige Familienministerin Ursula von der Leyen, von der ich den Eindruck habe, dass sie sich kraftvoll für die Interessen von Frauen, Kindern und Familien einsetzt.

  12. 12 N. Hoerster, Was ist Recht? München 2006.

  13. 13 In § 180 StGB als Kuppelei, und auch sonst in zahlreichen Tatbeständen.

  14. 14 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1956, 105 ff. = Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe Bd. 3, S. 83. Radbruch folgt darin Heinrich Rickert, Zur Lehre von der Definition, 3. Aufl. Tübingen 1929 (1. Aufl. 1888). Es ist klar, dass insbesondere der Zusammenhang von Kunst und Schönheit heutzutage sehr fragwürdig ist – dass diese Frage aber im Rahmen dieses Aufsatzes auch nicht erörtert werden kann. Was die Rechtsordnung anlangt, so darf und kann sie m.E. nicht über den Begriff «Kunst» entscheiden, sondern nur darüber, ob etwas wegen des Anspruchs, Kunst zu sein, grundgesetzlich schützenswert ist (Art. 5 Abs. 3 GG).

  15. 15 http://www.gender-mainstreaming.net/gm/Wissensnetz/was-ist-gm.html
  16. 16 Wer diese Einschätzung für übertrieben hält, lese den Artikel von Erika Kegyesné Szekeres, Sprachlicher Sexismus und sprachliches Gender Mainstreaming im Fokus der europäischen Sprachpolitik, in: European Integration Studies, Miskolc, Vol 4 (2005) pp.25–44, auch im Internet zu finden. Ich bin allerdings ein wenig enttäuscht, dass die Verfasserin nicht über die Erfahrungen mit der sprachlichen Gleichstellung der Frauen in ihrem Heimatland Ungarn berichtet; denn in Ungarn gab es immer schon, was hierzulande erst mit großem Aufwand angestrebt wird: eine Sprache mit geschlechtsneutraler Grammatik, wie es sie übrigens auch in Afghanistan, China, Indonesien, Iran, Japan, Korea, der Türkei und noch vielen anderen Ländern gibt.