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Verhaltensvarianten – ihre kombinatorische Erfassung

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Verhaltensvarianten – ihre kombinatorische Erfassung, in: Jusletter IT 5 October 2011
Ein Zustand liegt vor – oder nicht. Er verändert sich – oder bleibt. Man greift in diesen Vorgang ein – oder lässt ihn geschehen. Die Aufgliederung dieser Modalitäten wird als Baum dargestellt.
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Im Jahre 1965 hat Herbert Fiedler den Begriff der «kombinatorischen Vollständigkeit» in die Rechtswissenschaft eingeführt.1 Der Gedanke beeindruckte mich sofort und hat mich seitdem begleitet.2
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Im Folgenden sollen Verhaltensvarianten kombinatorisch entwickelt werden. Die Verhaltensvarianten zu überschauen, bedeutet die Formen möglicher Gegenstände von rechtlichen, moralischen und politischen Normen überschauen und bewerten zu können. Zur Einstimmung ein Beispiel: Ein Spaziergänger bleibt vor einem Jugendstilhaus stehen. Nach kurzem Zögern öffnet er die Tür und tritt in die Eingangshalle, um sie zu bewundern. Die Tür hält er offen. Beim Verlassen des Hauses schließt sie sich hinter ihm.
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Betrachtet man die Tür unter dem Gesichtspunktvon Zuständen, so gibt es zwei: (1) geschlossen oder (2) offen (nicht geschlossen). Betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt vonVorgängen , so gibt es vier: (1) Die Tür öffnet sich, (2) sie schließt sich; (3) sie steht offen, (4) sie bleibt geschlossen. Unter dem Gesichtspunkt vonVerhaltensweisen gibt es acht Möglichkeiten: (1) Man öffnet die Tür, (2) man schließt sie; (3) man lässt geschehen, dass sie sich öffnet, (4) man lässt geschehen, dass sie sich schließt; (5) man hält sie offen, (6 ) man hält sie zu; (7) man lässt sie offen, (8) man lässt sie geschlossen.3
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Führen wir dafür Symbole ein: Bei p mag man an denZustand offen denken, und bei q an denZustand geschlossen (q definiert durch ¬ p). Zustand p spaltet sich auf in dieVorgänge pp – die Tür bleibt offen – und pq – die Tür schließt sich. Die Vorgänge können wiederum Gegenstand vonVerhaltensweisen sein; pp kann sich aufspalten zu Lpp – man lässt die Tür offen stehen – und Apq – man greift ein und schließt sie. Das «L» soll auf lasciare, laisser, lassen, to let anspielen und das «A» auf das lateinische Wort actio und seine Nachkommen in den europäischen Sprachen.
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Die Begriffsentwicklung sei nun als Baum dargestellt:
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Der Übergang von den Zuständen bis hin zu den Verhaltensweisen ist nicht zeitlich zu verstehen, sondern als eine Änderung der Betrachtungsweise. Wenn der Blick sich von den Zuständen weg auf die Vorgänge richtet, so zeigt sich, dass ein Zustand entweder verharrt – auch Verharren sei als Vorgang angesehen – oder aber in den alternativen Zustand übergeht: p wird also entweder zu pp oder zu aber pq. Wandert der Blick dann weiter zu den Verhaltensweisen, so ergibt sich, dass jemand einen Vorgang entweder geschehen lässt – auch Geschehenlassen sei als ein Verhalten angesehen – oder aber in ihn eingreift und ihn umdreht. pp wird demgemäß entweder zu Lpp oder aber zu Apq. Auf der linken Seite des Baumes stehen die Vorgänge und Verhaltensweisen, die auf dem Zustand p fußen; was auf dem Zustand q fußt, steht auf der rechten Seite.
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Von Bedeutung wird dieser Unterschied, wenn eine Wertung hinzugenommen wird. Der Zustand p werde als «gut» bewertet und der Zustand q als «schlecht». Der Leser mag sich beliebige Beispiele dazu vorstellen; er sollte nun nicht mehr an wertfreie Türen, sondern vielleicht an «Leben und Tod» denken. Der Vorgang pp bedeutet dann, dass jemand am Leben bleibt, und Lpp, dass ein anderer ihn am Leben lässt. Apq dagegen – um links unten fortzufahren – bedeutet, dass man jemandem das Leben nimmt. Lpq – als nächstes in der Reihe – bedeutet, dass man beispielsweise einem lebensbedrohenden Unfall seinen Lauf lässt, wohingegen man mit App rettend eingreift.
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Die Paare in den Verhaltensweisen, welche an denselben Vorgang anknüpfen – wie Lpp und Apq an pp –, bieten zwei Formulierungsmöglichkeiten für Normen an, geschehenlassend oder eingreifend: beispielsweise «Leben achten!» einerseits und «Du sollst nicht töten!» andererseits. Auch soweit die Formulierungen logisch äquivalent sind, sind sie doch mit unterschiedlichen Konnotationen verbunden.
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Die auf p fußenden Verhaltensweisen auf der linken Seite des Baumes – dass etwas Schädliches eintritt oder dass man es gar bewirkt – lassen sich grundsätzlich durch Rechtsnormen erfassen, zum Beispiel als Totschlag und als unterlassene Hilfeleistung, vgl. § 212 und § 323 c StGB. Für die Verhaltensweisen auf der rechten Seite des Baumes gilt das jedoch weniger. Aqp bedeutet, dass jemand etwas Gutes hervorbringt. Dergleichen tun zu wollen, ist eine begrüßenswerte Maxime; es so fassen zu wollen, dass es Gegenstand einer Rechtsnorm ist, bleibt dagegen oft fragwürdig. Man hat im Leben viele Gelegenheiten, Gutes zu tun. Aber sie entziehen sich weitgehend der Festlegung durch das Recht. Bleiben wir bei dem Beispielskomplex von Leben und Tod. «Du sollst nicht absichtlich lebendig machen!» schreibt Schleiermacher in seinen «Geboten für Eheleute». Dass etwas dran ist an dieser Mahnung, und heute, im Zeitalter der Reproduktionsmedizin, noch mehr als im 19. Jahrhundert, scheint mir offensichtlich. Gemeint ist natürlich nicht, dass Eheleute eine Geburt vermeiden sollen, sondern sie sie nicht erzwingen sollen.
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Aqq bedeutet, dass man qp – einen Vorgang zum Guten hin – abschneidet, so dass es beim schlechten Zustand bleibt. Juristisch gesehen ist das ähnlich schwer zu präzisieren wie die Hervorbringung von etwas Gutem. Bleiben wir auch hier bei dem Komplex von Leben und Tod: Unlängst hat eine Dame, die ebenso fromm wie prominent ist, in einem Fernsehgespräch gesagt, dass die Empfängnisverhütung eine Art der Abtreibung sei. Entsetzen und Kopfschütteln war die Folge. Sie erläuterte die Gleichstellung später so: Das eine wie das andere diene dazu, eine Geburt zu verhindern. Das Entsetzen nahm dadurch aber nicht ab. Abtreibung wird heutzutage allgemein als ein Eingriff in ein werdendes Menschenleben bewertet, und nicht als die Verhinderung einer Geburt. Gewiss gab es auch Zeiten, in denen bei der Strafbarkeit der Abtreibung die vereitelte Hoffnung auf Nachwuchs im Vordergrund stand, so bei den Römern die Erwartung des Familienvaters und im Nationalsozialismus die Erwartung des Staates. Aber auch dann koppelte man das Abschneiden der Tendenz an den Vorgang eines Eingriffs.
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Wer Normen setzt, in welcher Position auch immer, sollte sich solcher Feinheiten und Unterschiede bewusst sein.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Lecture Notes in Informatics (LNI – GI-Edition) Ehrenband für Herbert Fiedler, 2009

  1. 1 H. Fiedler, Juristische Logik in mathematischer Sicht, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP), Bd. 52 (1966), S. 93–116 (105).
  2. 2 In L. Philipps, Testaufgaben in der Rechtswissenschaft – Konstruktionsprinzipien und Auswertung durch den Computer, Heidelberg 1978, S. 18 habe ich Fiedlers «kombinatorische Vollständigkeit» der in der Rechtswissenschaft so geschätzten «enzyklopädischen Vollständigkeit» der Lehrmeinungen gegenübergestellt. Vgl. im übrigen, und nur unter anderem: L. Philipps, Kombinatorik strafrechtlicher Lehrmeinungen, in: A. Podlech (Hrsg.), Rechnen und Entscheiden. Mathematische Modelle juristischen Argumentierens, Berlin 1977, S. 221 ff.; ders., Absolute und relative Rechte und verwandte Phänomene. Die kombinatorische Erfassung der Gestaltungsmöglichkeiten. In: I. Tammelo und Erhard Mock (Hrsg.) Rechtstheorie und Gesetzgebung, Festschrift für Robert Weimar, Frankfurt 1986, S. 391 ff.
  3. 3 Diese Zerlegung in zwei Zustände, vier Vorgänge und acht Verhaltensweisen geht zurück auf Georg H. von Wright, Norm and Action – A Logical Enquiry, London 1963.