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Judge Rosenbergs Werte – Wie ein niederrangiger Wert einen höherrangigen übertreffen kann

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Judge Rosenbergs Werte – Wie ein niederrangiger Wert einen höherrangigen übertreffen kann, in: Jusletter IT 5 October 2011
Im Recht steht das eine Gut oft höher als das andere. So ist ein unverletzter Leib wichtiger als eine unbeschädigte Sache. Wie aber, wenn im Einzelfall der Sachwert in weit höherem Maße betroffen ist als die körperliche Unversehrtheit? Wenn eine Statue des Michelangelo gegen einen gebrochenen Arm abzuwägen ist? Es gibt keine beide Werte umfassende «kardinale» Skala, kraft derer man in solchen Fällen eine Entscheidung ausrechnen könnte. Der amerikanische Computerwissenschaftler Ronald Yager hat jedoch eine anschauliche Methode entwickelt, auf der Grundlage bloß ordinaler Skalen Entscheidungen zu gewinnen. Dies Verfahren wird hier an einem fiktiven Rechtsfall exemplifiziert.
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Judge Rosenberg war ein sehr alter Mann und unter den Richtern des Supreme Courts der Vereinigten Staaten ein liberales Fossil. «His ideology was simple: government over business, the individual over government, the environment over everything. And the Indians, give them whatever they want.» Mit diesen Ansichten stand er einem Milliardär im Wege, der im Küstengebiet von Louisiana riesige Landstriche zusammengekauft hatte, um dort nach Öl zu bohren. Also wurde Rosenberg ermordet. Wie das geschieht und was sich daraus ergibt, schildert John Grisham in seinem ThrillerThe Pelican Brief .1
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Rosenberg war ein Mann von Werten, und seine Werte waren wohlgeordnet. Die Freiheit des Individuums hielt er für schützenswerter als die Interessen des Staates, und die Umwelt ging ihm über alles. Doch ganz oben standen die Wünsche der indianischen Ureinwohner. Bei solchen Wertordnungen stellt sich eine Frage:Bleibt es bei dem Vorrang eines höherrangigen Wertes, wenn dieser nur schwach betroffen ist, ein darunter stehender Wert dagegen in hohem Maße? Von dieser Frage soll hier die Rede sein.2
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Man stelle sich einen Rechtsfall vor: In Louisiana leben fünf Indianerstämme, und einer von ihnen möchte an der Küste Fischfarmen einrichten. Dagegen wehren sich die einheimischen Fischer; denn Fischfarmen schädigen die Meeresfauna in erheblichem Maße, durch Pestizide und Kot.3 So entwickelt sich ein Rechtsstreit, in dem nunmehr der Supreme Court zu entscheiden hat.
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Rosenberg steht als Richter zwischen mehreren Werten: In der Verseuchung der Küstengewässer durch Fischfarmen sieht er eine furchtbare Gefahr, der man begegnen sollte. Andererseits sind es Ureinwohner, die die Farmen einrichten wollen, und diese Menschen, findet er, verdienen Schutz, mehr noch als die Umwelt. Es gibt Rosenberg allerdings zu denken, dass es nur einer von fünf Stämmen ist, der Fischfarmen einrichten will; die vier anderen halten sich zurück. Außerdem ist die Wirtschaft betroffen. Sie steht zwar ganz unten auf Rosenbergs Liste, doch es geht hier um sehr viel Geld. Wie soll er sich entscheiden?
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Der Computerwissenschaftler Ronald R. Yager, ein Vertreter der Fuzzy Logic, hat für Konflikte in Wert-Hierarchien die je/desto- Lösung vorgeschlagen (wie ich sie nennen möchte):Hochgradig erfüllt kann ein niederrangiger Wert einen nur schwach erfüllten höherrangigen Wert überragen. Je niedriger ein Wert in der Rangfolge steht, in desto höherem Maße muss er betroffen sein.4
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Je niedriger der Wert in der Rangfolge steht ... Um die Höhe der nun zu überwindenden Hürde zu bestimmen, zähle man die Ränge von oben nach unten ab, bis hin zu dem in Frage stehenden Wert. Dies legt einen Einwand nahe: Lässt sich nicht die Anzahl der Ränge, an denen ein Wert auf seinem Weg nach oben vorbeiziehen muss, manipulieren? Jemand könnte den Weg zu verlängern suchen, indem er noch einen weiteren Wert einfügt, man könnte den Weg aber auch verkürzen, indem man einen Wert unter den Tisch fallen lässt. Beides ist möglich, aber darauf muss die Gegenpartei achten. Sie muss achtgeben, dass jeder ins Spiel gebrachte Wert wirklich betroffen ist, also mit der Sache zu tun hat.
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... in desto höherem Maße muss er betroffen sein. Das Maß muss man inhaltlich abschätzen. Dafür stellt man zunächst eine Skala auf, deren Stufen sich auch verbal ausdrücken lassen. (Das Nebeneinander von numerischen und verbalen Ausdrücken ist typisch für Fuzzy Logic.) Die Anzahl der Stufen sollte der Anzahl der Ränge entsprechen. In vielen Fällen genügen vier Stufen des Betroffenseins: «überhaupt nicht» (0), «in geringem Maße» (1), «halbwegs» (2), «in hohem Maße» (3), «vollständig» (4).
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In welchem Maße Rosenbergs Werte im Fischfarmenfall betroffen sind, sei nun geschätzt (wobei in meine Zahlenwerte – in Klammern angegeben – auch didaktische Überlegungen eingeflossen sind):
  1. Wünsche der Ureinwohner. Nur ein einzelner Stamm wünscht die Genehmigung von Farmen. Wenn sie verweigert wird, schadet das den Ureinwohnern insgesamt nur in geringerem Maße (Zahlenwert 1).
  2. Umweltschutz. Die Farmen würden Umweltschäden in hohem Maße (3) verursachen.
  3. Individuen. Es geht hier vor allem um die Fischer, die zum Teil schon seit Generationen an der Küste ihrem Beruf nachgehen. Die Einrichtung von Fischfarmen würde Existenzen vernichten (4).
  4. Der Staat. Wenn wir annehmen, dass sich die Steuerbehörden im Sinne der republikanischen Devise «Cut taxes!» verhalten werden, würden sich durch die Verweigerung der Genehmigung nur halbwegs große Steuerausfälle ergeben (2).
  5. Für die Wirtschaft freilich wären die entgangenen Gewinne beträchtlich (5).
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Die Daten seien nun zu einer Übersicht zusammengestellt.

Wert Rang Schaden falls Genehmigung ... falls keine
Genehmigung
Ureinwohner
1
1
Umwelt
2
3
Individuum
3
4
Staat
4
(2)
Wirtschaft
5
5

Dass eine Zahl in Klammern steht – hier: (2) –, bedeutet, dass sie nicht groß genug ist für ihren Rang in Rosenbergs Wertordnung («Staat») und also nicht mitzählt.
[10]
Kann man auf Grund dieser Tabelle eine Entscheidung finden? Der intuitiv nächstliegende Weg scheint zu sein, dass man jedem normativen Wert einen Zahlenwert zuordnet und diesen dann mit dem Zahlenwert des Betroffenseins multipliziert. Aber haben wir eine solche Zuordnung nicht schon vorgenommen? Nein, wir haben lediglich eine Rangordnung der Werte aufgestellt, im Sinne von «erstens, zweitens, drittens ...». Dabei handelt es sich um bloße Ordnungszahlen; mit denen kann man auch nicht multiplizieren. Überhaupt sollen die Zahlen im Yager’schen Verfahren nicht dazu dienen, ein Ergebnis auszurechnen, sondern bei seiner Findung zu helfen und seine Begründung zu strukturieren und dabei starke und schwache Stellen sichtbar zu machen. Man beachte, dass alle Zahlen hier nur dem Größenvergleich dienen. Arithmetische Operationen, auch ganz einfache, kommen nicht vor.5
[11]
Was das Ergebnis des Fischfarmenfalls anlangt, so schlage ich die Verwendung der Minimax-Regel vor (so auch Yager): Man entscheide sich für diejenige der beiden Optionen, bei der der höchste Schadenswert am niedrigsten ist. (Minimax: Das Minimum der maximalen Schadenshöhe.6 ) Der niedrigste Höchstwert findet sich in der Spalte, diefür die Genehmigung steht: 4, gegenüber 5 in der Spalte für die Ablehnung. Wenn Rosenberg dafür ist, die Genehmigung abzulehnen (was wohl zu vermuten ist), muss er versuchen, den dann zu erwartenden Einkommensverlust kleinzuargumentieren. Vielleicht kann er ihn auf 4 herunterdrücken; das sollte möglich sein, da wirtschaftliche Prognosen nicht sehr zuverlässig sind. Damit scheint er freilich nur einen Gleichstand zu erreichen, denn 4 bezeichnet nun auf beiden Seiten gleicherweise den niedrigsten Höchstwert. Man kann aber über den Gleichstand hinwegkommen, indem man von der Zahl 4 auf beiden Seiten absieht. (Das ist ähnlich wie bei den Tabellen in einer Fußballliga: Wenn mehrere Vereine die gleiche Punktzahl errungen haben, greift man auf das Torverhältnis zurück.) Nun endlich liegt die Ablehnung der Genehmigung vorne, mit dem niedrigsten Höchstwert 1.
[12]
Vor einigen Jahren habe ich auf einer Tagung in den USA über das Yager’sche Verfahren referiert. Ein Kollege wandte ein, er könne sich keinen amerikanischen Richter vorstellen, der solch ein Verfahren benutze. Ein anderer meinte aber, er selber habe überhaupt keine Schwierigkeiten damit, sich einen solchen Richter vorzustellen. Allerdings werde der auch weise genug sein, keine Zahlen in sein Urteil hineinschreiben.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Slovenian Law Review 2010 (Vol. VII), 9–12

  1. 1 Louisiana wirdPelican State genannt, nach seinem Wappentier, das man zur Zeit, mit ölverklebtem Gefieder, auf vielen Fotos sieht.
  2. 2 Robert Alexy, in seinerTheorie der Grundrechte (Frankfurt 1986), hat die Frage mit ja beantwortet. Vgl. seine Ausführungen über «Das Konzept einer Rangordnung der Werte», S. 138 ff. Was aber nicht ausschließt, dass er im Einzelfall zu den gleichen Ergebnissen kommt.
  3. 3 Grishams Thriller erschien 1991. Heute, nach der Explosion der BohrplattformDeepwater Horizon, wären Fische aus einer Farm an der Küste Louisianas nicht mehr genießbar.
  4. 4 Vgl. R.R. Yager, Concepts, Theory, and Techniques: A New Methodology for Ordinal Multiobjective Decisions Based on Fuzzy Sets, Decision Sciences 12 (4) 1981, 589–600. Was wir hier unter Benutzung von Metaphern («Rang», «Hürde») und dicht an der Umgangssprache («je/desto») vorstellen, liest sich bei Yager formaler. Er geht von der Verknüpfung x –> y aus, die er durch max(1-x, y) definiert, einer Verallgemeinerung der klassischen Definition (x ( y. Auf diese Weise kommt ebenfalls das heraus, was in der Umgangssprache mit je/desto ausgedrückt wird.
  5. 5 Andernfalls käme man auch nicht an der Konsequenz vorbei, dass ein Wert genau doppelt oder dreimal usw. so wertvoll sein kann wie ein anderer. Im deutschen Grundgesetz stünde das eine Grundrecht vielleicht dreimal so hoch da wie ein anderes, vielleicht aber auch nur anderthalb Mal. Ebenso im Strafrecht, wo ein Rechtsgut doppelt so schützenswert sein könnte wie ein anderes. Das ist unrealistisch.
  6. 6 Die Spieltheorie formuliert Minimax aus der Perspektive von Gewinnen, nicht von Verlusten, aber dies mit der gleichen Einstellung: Man entscheide sich für die Option, bei der der niedrigste Gewinn (im Vergleich mit den anderen Optionen) der höchste ist.)