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Tû-Tû 2. Von Rechtsbegriffen und neuronalen Netzen

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Tû-Tû 2. Von Rechtsbegriffen und neuronalen Netzen, in: Jusletter IT 5 October 2011
Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht ein einfaches neuronales Netz. Es enthält vier Eingangszellen, die eine mögliche Straftat widerspiegeln: Tatbestandmäßigkeit, und zwar (1) objektiv und (2) subjektiv, sodann Rechtfertigung, und zwar (3) objektiv und (4) subjektiv. Jede dieser vier Voraussetzungen kann erfüllt sein oder nicht, das ergibt 24, also 16 Varianten. Das Netz umfasst weiterhin vier Ausgangszellen, die mögliche Rechtsfolgen ausdrücken: (1) vorsätzliche vollendete Tat, (2) Versuch, (3) Fahrlässigkeit und (4) Straflosigkeit. Wenn man nun sechs typische Verknüpfungen von Eingangsvariante und Ergebnis in das Netz eingibt, werden sich auch für die verbleibenden zehn Eingangsvarianten die richtigen Ergebnisse einstellen, obwohl sie logisch voneinander unabhängig sind.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. I
  • 2. II
  • 3. III
  • 3.1. Entscheidungen ohne Zwischenzellen
  • 3.2. Entscheidungen bei zwei Zwischenzellen
  • 4. IV

1.

I ^

[1]
«On the Noîsulli Islands in the South Pacific lives the Noît-cif-tribe, generally regarded as one of the more primitive peoples to be found in the world today.» Mit diesen Worten beginnt ein Aufsatz, der 1957 in der Harvard Law Review erschien, den man beim flüchtigen Anlesen aber eher in einer ethnologischen Zeitschrift vermutet hätte.1Der Titel des Aufsatzes lautet schlicht und rätselhaft «Tû-Tû». Tatsächlich handelt es sich um eine «Allegorie», wie der Verfasser – kein Geringerer als der dänische Rechtsphilosoph Alf Ross – im Verlaufe seiner Darlegungen enthüllt. Da die poetische Form hier überaus zweckmäßig ist zur Darstellung des Gedankengangs, erlaube ich mir, sie aufzugreifen und weiterzuführen, auch wenn heute das Moment der Überraschung entfällt.
[2]
Die Noîtcifianer glauben, dass, wenn man gegen bestimmte Tabus verstößt, etwas entsteht, das sie « Tû-Tû » nennen. Das Tû-Tû verändert den Status dessen, der gegen das Tabu verstoßen hat – man spricht davon, dass er selber Tû-Tû geworden sei. Das Tû-Tû wird darüber hinaus als eine Bedrohung für den ganzen Stamm empfunden. Man verlangt von dem, der Tû-Tû geworden ist, dass er sich einer besonderen Reinigungszeremonie unterziehe.
[3]
Es sind im Wesentlichen drei Verstöße, die zum Tû-Tû führen: dass jemand seiner Schwiegermutter begegnet, dass er ein Totemtier tötet, oder dass er von der Speise isst, die für den Häuptling zubereitet ist. An jeden dieser drei Verstöße ist als Sanktion eine dreiteilige Reinigungszeremonie geknüpft; worin sie im Einzelnen besteht, gibt Alf Ross freilich nicht an. Dem Werk seines Gewährsmannes, des Anthropologen Ydobon , habe ich Folgendes entnommen2: Um sich vom Tû-Tû zu reinigen, muss man sich erstens die Haare scheren, zweitens eine Woche lang fasten, und drittens die Stammeshymne singen – alle 93 Strophen. Danach wird man wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.
[4]
Der Anthropologe Ydobon berichtet auch von einem schwedischen Missionar, der sich unter den Eingeborenen aufhält, und der seine Lebensaufgabe darin sieht, ihnen den «abscheulichen heidnischen Aberglauben» an Tû-Tû auszutreiben – bis dato freilich ohne Erfolg. Hier schließt Alf Ross einen kritischen Kommentar an: In seinem an sich verständlichen Glaubenseifer gehe der Gottesmann etwas zu weit. Gewiss sei es eine lächerliche Annahme, dass ein mystisches Etwas entstehe, wenn man seiner Schwiegermutter begegnet. Doch könne man den Eingeborenen, wenn man sich einmal auf den Standpunkt ihres Normensystems stellt, eine gewisse Rationalität nicht absprechen. Wollten die Noîtcifianer nämlich auf den Begriff des Tû-Tû verzichten, so würden sie zur Darstellung ihres Normensystems wesentlich mehr Regeln brauchen. Jeder der drei Tatbestände müsste mit jeder der drei Rechtsfolgen verbunden werden, so dass sich neun Regeln ergäben. Jetzt dagegen sind es nur sechs Regeln: jeder der drei Tatbestände und jede der drei Rechtsfolgen braucht lediglich einmal mit dem Begriff Tû-Tû verknüpft zu sein. (Allgemein reduziert sich mit der Einführung von Zwischenbegriffen die Anzahl von m*n Tatbestand und Rechtsfolge verknüpfenden Regeln auf m+n.) So gesehen, handele es sich um eine zweckmäßige Technik der Normrepräsentation. Alf Ross empfiehlt den Noîtcifianern, sich auf diese Betrachtungsweise zu beschränken und der Versuchung zu widerstehen, im Tû-Tû eine geheimnisvolle Kraft oder Eigenschaft zu sehen.
[5]
An diesem Punkt enthüllt Alf Ross , dass von uns selber die Rede sei. Auch bei den allgemeinen Rechtsbegriffen des Abendlandes handele es sich um nichts anderes als einen Kunstgriff der Normrepräsentation. Zum Beispiel der Begriff des Eigentums:3Wenn jemand ein Stück Wild schießt, dann mag es als richtig angesehen werden, dass er es selber isst und dass er andere davon abhält, das Wildbret zu essen. Sollte ein anderer das Tier an sich genommen haben, darf man es von ihm zurückverlangen. Man kann diese Formen des Dürfens aber auch auf einen anderen übertragen – gegen Geld etwa – der dann von ihnen Gebrauch machen darf. Ebenso, wenn man einen Pfeil schnitzt: Man darf selber von ihm Gebrauch machen, andere davon abhalten, es zu tun, und darf ihn von anderen herausverlangen. Und schließlich hat man die gleichen Rechte, wenn man das Wildbret oder den Pfeil – wie gesagt, beispielsweise gegen Geld – von einem anderen erworben hat. Alle diese Beziehungen werden vereinfacht, wenn man den Begriff «Eigentum» einführt: Es gibt nun bestimmte Entstehungsgründe des Eigentums – die Jagd oder die Arbeit – und bestimmte Rechtsfolgen daraus, und wenn man eine dieser Rechtsfolgen geltend macht, braucht man sich nur noch auf das Eigentum und nicht mehr auf seine Entstehungsgründe zu berufen.
[6]
Bedenklich wird es nach Alf Ross freilich dann, wenn man anfängt, im Begriff des Eigentums oder in anderen vergleichbaren Rechtsbegriffen mehr zu sehen als eine Technik der Normrepräsentation: wenn man anfängt zu glauben, dass das Wort «Eigentum» eine besondere Wesenheit bezeichne. In Wahrheit bedeute ein Wort wie «Eigentum» nicht mehr als ein für uns sinnloses Wort wie Tû-Tû.
[7]
Wenn man die Ausführungen von Alf Ross in polemischer und nicht nur analytischer Interpretation liest, so haben sie eine doppelte Stoßrichtung: gegen die deutsche Begriffsjurisprudenz in der Nachfolge Puchtas , die glaubte, aus allgemeinen Rechtsbegriffen Rechtsregeln herleiten zu können, aber ebenso auch gegen den skandinavischen Rechtsrealismus (verkörpert durch jenen schwedischen Missionar), der der Meinung war, dass der Glaube an Recht und Rechtsinstitute nur ein Gegenstand für den Psychologen sei.

2.

II ^

[8]
Einer der primitivsten Stämme der Welt – das war 1957. Inzwischen ist zweierlei geschehen: Die Eingeborenen (heute wird man sie freilich nicht mehr so nennen) haben erstens ihr Normensystem wesentlich verfeinert, ohne deshalb den zentralen Begriff des Tû-Tû aufzugeben. Sie haben zweitens eine bemerkenswerte Computertechnologie entwickelt.
[9]
Hier muss ich freilich modifizierend anmerken: die klassische westliche Computertechnologie hat die Noîtcifianer im Grunde nie akzeptiert. Der Gedanke der sequentiellen Abarbeitung eines Programms in der strengen Logik wohldefinierter Einzelschritte ist ihnen immer fremd geblieben. Im Südpazifik und besonders in der Gegend der Noîsulli-Inseln denkt man anders: ganzheitlich, organisch, in Analogien; aber deshalb nicht irrational.
[10]
Doch sind die Noîtcifianer schon frühzeitig auf das Konzept der «neuronalen Netze»,4gestoßen, haben es begeistert aufgegriffen und weiterentwickelt. Ein neuronales Netz besteht aus einer Vielzahl von Zellen – «Neuronen» – einfachen Entscheidungseinheiten, die miteinander vernetzt sind und kommunizieren. Im Allgemeinen sind es Inputzellen, Outputzellen und Zwischenzellen («versteckte» Zellen – hidden units).
[11]
Neuronale Netze werden nicht programmiert, sondern eingeübt, «trainiert». Man gibt ein Input- und ein Outputmuster ein und lässt das Netz diese Verbindung lernen. Mit der Einübung bilden sich assoziative Muster heraus: zwischen manchen Zellen werden die Verbindungen verstärkt, zwischen anderen abgeschwächt oder gar gekappt. In welcher Weise dies zu geschehen hat, in welcher Weise sich dabei insbesondere die nicht unmittelbar zugänglichen («versteckten») Zwischenzellen zu engagieren haben, wird dem Netz nicht gesagt; das findet es selbst heraus.
[12]
Alles dies behagt den Noîtcifianern, weil es ihrer Kultur und Mentalität entspricht: Gleichzeitigkeit an Stelle des Nacheinanders, physische Einübung an Stelle der intellektuellen Einsicht, Selbstorganisation an Stelle eines Programmbefehls von außen.5Freilich, der üblichen Charakterisierung einer solchen Computertechnik als «subsymbolisch» stehen die Noîtcifianer mit deutlicher Reserviertheit gegenüber (möglicherweise schwingt dabei noch etwas von dem Ärger nach, den sie einst empfanden, als Levy-Bruhl ihr Denken «prälogisch» nannte)6: Die Charakterisierung als «subsymbolisch» sei Ausdruck eines vordergründigen Symbolverständnisses, das sich allenfalls vor dem Hintergrund der kurzen Geschichte der Computerprogrammierung rechtfertigen lasse. In Wahrheit lasse sich gerade mit Hilfe eines neuronalen Netzes die Funktion eines Symbols vom Computer erstmals erfassen.
[13]
Die Noîtcifianer haben es deshalb auch unternommen, den traditionellen Tû-Tû-Begriff und seine Deutung durch Alf Ross im neuronalen Netz zu überprüfen. Sie haben die Namen der drei tabuisierten Verhaltensweisen in die Inputzellen eines neuronalen Netzes eingegeben und die Namen der drei Reinigungszeremonien in die Outputzellen. Dann ließen sie das Netz die Verbindungen lernen (was bei der Einfachheit der Struktur natürlich sehr rasch geschah). Dem Netz waren dabei mehrere Möglichkeiten, die Verbindungen zu festigen, zur Wahl gestellt: Es konnte die neun direkten Wege zwischen Tatbeständen und Rechtsfolgen bevorzugen oder aber die sechs indirekten Wege über eine versteckte Zelle, die den Zwischenbegriff «Tû-Tû» repräsentierte. Das Netz hatte schließlich auch noch die dritte Möglichkeit, direkte und indirekte Regeln gleicherweise zu verfestigen.
[14]
Dies ist das Ergebnis, das übrigens auch einige noîtcifianische Fachleute überrascht hat: Die Wege, die über den Begriff Tû-Tû laufen, wurden verstärkt, die direkten Wege zwischen Tatbestand und Rechtsfolge dagegen nur schwach angedeutet. Es scheint, als sei es für das neuronale Netz ebenso wie für das menschliche Gehirn bequemer, mit Hilfe des Zwischenbegriffs zu lernen, als ohne ihn.7

3.

III ^

[15]
Wie gesagt, haben die Noîtcifianer ihr Normensystem seit 1957 wesentlich verfeinert: Wer nur versehentlich von der Häuptlingsspeise isst, wird heute nur noch in geringerem Maße Tû-Tû; er braucht sich jetzt nur noch die Haare zu scheren. Ebenso im Falle eines Versuchs: der Täter wollte zwar von der Häuptlingsspeise essen (im Glauben, dass sie magische Kräfte verleihe); er wurde aber daran gehindert. Im Übrigen sind jetzt einige Fälle anerkannt, wo jemand zwar dem Wortlaut nach die Norm übertritt, dies aber infolge besonderer Umstände dennoch nicht als Tû-Tû gilt. So zum Beispiel, wenn jemand ein Totemtier tötet, das von Tollwut befallen ist (eine von Touristen eingeschleppte Krankheit, die früher unbekannt war).
[16]
Auch dies verfeinerte Normsystem haben die Noîtcifianer in ein neuronaies Netz eingegeben. Sie haben dabei vier mögliche Kategorien vorgesehen: vorsätzliches vollendetes Tû-Tû, versuchtes Tû-Tû, fahrlässiges Tû-Tû, sowie das Fehlen von Tû-Tû – Sanktionslosigkeit. Für jede dieser Kategorien hat man je eine typische Fallkonstellation eingegeben.
[17]
Darüber hinaus wurden für die Ergebnisse Fahrlässigkeit und Sanktionslosigkeit noch je eine zweite Konstellation eingeführt. Es ist nämlich jeweils ein ganz anderer Falltypus der Sanktionslosigkeit, ob man rein gar nichts Relevantes tut oder aber ein von Tollwut befallenes Totemtier tötet. Wie es auch ein wesentlicher Unterschied im fahrlässigen Tû-Tû ist, ob man ein Totemtier versehentlich mit dem Auto überfährt oder aber in der irrigen Annahme einer Tollwut absichtlich tötet.
[18]
Dem neuronalen Netz sind also sechs unterschiedliche Eingangskonstellationen mit vier unterschiedlichen Ergebnissen vorgegeben. Die Fallkonstellationen und Ergebnisse in richtiger Weise miteinander zu verknüpfen, lernt der Computer rasch. Die eigentlich interessante Frage ist: Was kann er darüber hinaus? Die eingegebenen typischen Konstellationen sind nur ein Teil der möglichen: Wird das Netz imstande sein, auch für die übrigen, weniger typischen Konstellationen richtige oder wenigstens vertretbare Lösungen zu finden?
[19]
Im Ganzen sind 16 Fallkonstellationen möglich, denn jedes von vier Merkmalen kann vorhanden sein oder fehlen: die Handlung und das Bewusstsein von ihr und der besondere Umstand einer Sanktionslosigkeit und das Bewusstsein davon. Von diesen 16 Fallkonstellationen sind sechs als Prototypen vorgegeben und mit einer Lösung versehen8.
[20]
Mit diesen Prototypen hat man zwei unterschiedliche Netze trainiert: Bei dem einen Netz waren die vier Input- und die vier Outputzellen unmittelbar miteinander verknüpft, bei dem anderen war eine Schicht von zwei Zwischenzellen dazwischengeschaltet. (Zwei deshalb, weil man für vier Ausgänge mit binären Werten mindestens zwei Eingänge mit binären Werten braucht.)

3.1.

Entscheidungen ohne Zwischenzellen ^


Fall
Tatb.
obj.
Tatb.
subj.
Rechtf.
obj.
Rechtf.
subj.
Ergebnis
0
0
0
0
0
Sanktionslos*
1
0
0
0
1
Sanktionslos, Fahrlässigk.(f)
2
0
0
1
0
sanktionslos
3
0
0
1
1
sanktionslos
4
0
1
0
0
Versuch*
5
0
1
0
1
Versuch, sanktionslos
6
0
1
1
0
sanktionslos, Versuch
7
0
1
1
1
sanktionslos
8
1
0
0
0
Fahrlässigk.*
9
1
0
0
1
Fahrlässigk., sanktionslos
10
1
0
1
0
sanktionslos (Fahrlässigk.)
11
1
0
1
1
sanktionslos, Fahrlässigk. (f)
12
1
1
0
0
vors. voll. Delikt
13
1
1
0
1
Fahrlässigk.* (vor. voll. Delikt)
14
1
1
1
0
vors. voll. Delikt (Versuch)
15
1
1
1
1
sanktionslos

3.2.

Entscheidungen bei zwei Zwischenzellen ^


Fall
Tatb.
obj.
Tatb.
subj.
Rechtf.
obj.
Rechtf.
subj.
Ergebnis
0
0
0
0
0
sanktionslos*
1
0
0
0
1
sanktionslos
2
0
0
1
0
sanktionslos
3
0
0
1
1
sanktionslos
4
0
1
0
0
Versuch*
5
0
1
0
1
sanktionslos (Versuch)
6
0
1
1
0
Versuch
7
0
1
1
1
sanktionslos
8
1
0
0
0
Fahrlässigk.*
9
1
0
0
1
Fahrlässigk.
10
1
0
1
0
sanktionslos (Fahrlässigk.)
11
1
0
1
1
sanktionslos
12
1
1
0
0
vors. voll. Delikt*
13
1
1
0
1
Fahrlässigk.* (vor. voll. Delikt)
14
1
1
1
0
Versuch (vors. voll. Delikt)
15
1
1
1
1
sanktionslos*
[21]
Die eingegebenen Präjudizien sind mit * gekennzeichnet. Eine etwaige zweite Lösung, die das System – mit schwächerem Nachdruck – ebenfalls vorschlägt, ist an zweiter Stelle angegeben. Doch kommt dies nur bei dem Netz ohne Zwischenzellen vor. Eine etwaige andere Lösung, die in der Literatur ebenfalls vertreten wird, ist in Klammern hinzugefügt. Es ist auch in Klammern angezeigt, wenn eine Lösung falsch ist; doch kommt das ebenfalls nur bei dem Netz ohne Zwischenzellen und auch hier nur bei der «zweiten Wahl» vor.
[22]
Es hat sich herausgestellt, dass die noch offenen Konstellationen unterschiedlich entschieden werden, je nachdem welchen Netztyp man wählt, ob mit oder ohne Zwischenzellen; so zum Beispiel im Falle (14): jemand tötet ein Totemtier, und zwar subjektiv ohne vernünftigen Grund, objektiv aber gerechtfertigt (es stellt sich nachträglich heraus, dass das Tier Tollwut hatte). Das Netz ohne Zwischenzellen entscheidet hier auf einen vollendeten Tabuverstoß. Das Netz mit Zwischenzellen dagegen nimmt lediglich einen versuchten Verstoß an.
[23]
Es fragt sich nun: Was ist richtig? Es stellt sich dazu aber auch sogleich die Gegenfrage: Wie will man das wissen? Das Recht wie die Kunst gestalten ins Offene hinein. Man kann nicht in einem fertigen Musterbuch nachschlagen und dann mit Sicherheit entscheiden: Das ist schön. Das ist gerecht. Und doch kann man, solange man bescheiden bleibt, über Schönheit und Gerechtigkeit sprechen und man kann sich dabei auch auf Vorbilder beziehen.
[24]
Was Vorbilder anlangt, so kennt man auch in der deutschen (und in vielen anderen Ländern verbreiteten) Strafrechtsdogmatik das Problem, dass jemand objektiv gerechtfertigt handelt, es aber nicht weiß. Wie dann zu entscheiden ist, ist aber auch hier umstritten. Die einen sagen: Es handelt sich um einen Fall des deliktischen Versuchs. Die anderen sagen: Es ist ein vorsätzliches vollendetes Delikt. Von den verschiedenen Strafrechtslehrern werden also die gleichen Lösungen vorgeschlagen wie von den unterschiedlichen Netzen.
[25]
Dass Netze die gleiche Lösung finden wie die Rechtswissenschaft, ist an sich schon erstaunlich genug. Dass sie aber auch die unterschiedlichen Positionen einer offenen Kontroverse herausfühlen, ist in höchstem Maße überraschend. Vielleicht kann man mit der Hilfe neuronaler Netze den Unterschied der Lehrmeinungen besser verstehen, als das bislang möglich war.
[26]
Denn die Positionen sind nicht zufällig gefunden, sondern es steckt dahinter ein Unterschied der Abstraktionshöhe: Netze mit Zwischenzellen können abstrakter entscheiden als Netze ohne. Dass man von Versuch spricht, wenn die tabuisierte Handlung tatsachlich ausgeführt worden ist (wenn das Totemtier getötet worden ist), ist wenig selbstverständlich. Man kann es nur so plausibel machen, dass der Täter objektiv gesehen keinen Schaden angerichtet hat, wohl aber etwas Verbotenes tun wollte. Das aber ist typisch für Versuch. Doch muss man schon einen ziemlich abstrakten Standpunkt einnehmen, um das zu sehen. Von einem konkreten Standpunkt aus würde man – anschaulicher – im Falle der tatsächlich ausgeführten Tötung für eine vollendete Tat votieren. Zwischen den Prototypen des Versuchs (0,1,0,0) und der kritischen Konstellation (1,1,1,0) gibt es eine Distanz von zwei unterschiedlichen Merkmalen; vom Prototypen des vollständigen Normverstoßes (1,1,0,0) her ist es dagegen nur ein Punkt Unterschied9.

4.

IV ^

[27]
Um zum Schluss wieder auf Alf Ross zurückzukommen: Allgemeine Rechtsbegriffe, die man in Rechtsregeln einfügt, sind in der Tat hilfreich: die Regeln werden überschaubar, leichter lernbar und überhaupt besser handhabbar. Da hat Ross recht. Doch macht er es sich ziemlich einfach: Die Normen, die er untersucht, betrachtet er in Tatbestand und Rechtsfolge als abgeschlossen. Insofern ist richtig, dass es für den Inhalt der Normen keinen Unterschied macht, ob man sie mit oder ohne Zwischenbegriffe formuliert, und dass das lediglich eine Frage der formalen Normrepräsentation und eine Zweckmäßigkeitsfrage sei. Aber so hat man die Normen nur auf dem Seziertisch des Rechtstheoretikers. In Wirklichkeit schließen sich die Normen nicht voneinander ab (auch nicht wenn sie logisch voneinander unabhängig sind), sondern auf Grund von Strukturähnlichkeiten bildet sich ein Netz von Assoziationen, von wechselseitigen Verweisungen. Solchen Verweisungen folgt der Jurist, wenn die zunächst zuständige Regel nicht auf den gegebenen Fall passt.
[28]
Im Netz der Assoziationen sind die allgemeinen Rechtsbegriffe Knoten, und das Netz knüpft sich unterschiedlich, je nachdem welche Knoten eingefügt sind. Das Netz kann dabei auch von unterschiedlicher juristischer Qualität sein je nach der guten oder schlechten Wahl der Knotenbegriffe. Und man kann die Begriffe nicht wieder herausnehmen, ohne das Netz zu zerreißen; Allgemeinbegriffe sind keineswegs frei verfügbar.
[29]
Alf Ross hat natürlich um die Assoziationen der Begriffe gewusst: aber sie – wenn auch nicht die Begriffe als solche – wollte er ins Arsenal der Psychologie und Ideologie verbannen. Dass sie indessen keineswegs dorthin gehören, hat sich jetzt gezeigt. Wenn eine einfach konzipierte Maschine die Assoziationen rekonstruieren kann, wenn man dies beliebig wiederholen kann, wenn man durch Variation des Netzes mit den Assoziationen experimentieren kann – dann ist das längst keine Frage der individuellen Phantasie und der sozialen Ideologie mehr. Der Computer erweist sich hier als ein einzigartiges Instrument der juristischen Analyse und des Gedankenexperiments.
[30]
Man wird die Begriffsjurisprudenz, die klassischen Auseinandersetzungen der Methodologie neu durchdenken müssen. Doch ist die Neuinterpretation der Vergangenheit die kleinere Aufgabe: vor uns liegt ein neues und weites Feld von Forschungen und Gestaltungsmöglichkeiten, nicht nur für die Rechtstheorie, sondern auch für die Dogmatik des geltenden Rechts und die Gesetzgebung des künftigen.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Rechtsentstehung und Rechtskultur. Kolloquium zu Ehren von H. Scholler, Hrsg. L. Philipps/R. Wittmann , Heidelberg 1991, 181–191

  1. 1 A. Ross , Tû-Tû, Harvard Law Review 70 (1957) S. 812 ff.

  2. 2 Ydobon , The Noîtcifianian Way of Life: Studies in Taboo and Tû-Tû (1950). Weiterführend dann später M. Davis , Tû-Tû (1986).

  3. 3 Das Eigentum als Beispiel findet sich nicht schon bei Ross selber, wohl aber in den späteren Auseinandersetzungen mit ihm bei H.H. Keuth , Zur Logik der Normen (1972) insb. S. 41 ff., und U. Neumann , Rechtsontologie und juristische Argumentation (1979) insb. S. 53 ff.

  4. 4 Zur Anwendbarkeit neuronaler Netze in der Rechtsinformatik vgl. R.K. Belew , A Connectionist Approach to Conceptual Information Retrieval; in: Proceedings of the First International Conference on Artificial Intelligence and Law, S. 116 ff., 1987; D.E. Rose ; R.K Belew , Legal Information Retrieval: A Hybrid Approach; in: Proceedings of the Second International Conference on Artificial Intelligence and Law, S. 138 ff., 1989; S.F. Fernhout , Using a Parallel Distributed Proceeding Model as Part of a Legal Expert System; in: A.A. Martino (Ed.) Pre-Proceedings of the III International Conference on Logica, Informatica, Diritto, Vol. I, Flotence 1989, S. 255 ff.; L. Philipps , Are Legal Decisions Based on the Application of Rules or Prototype Recognition? Legal Science on the Way to Neural Networks. In: A.A. Martino (Ed.) Pre-Proceedings of the III International Conference on Logica, Informatica, Diritto, Vol. II, Florence 1989, S. 673 ff.; L. Philipps, H. Brass, Qu. Emmerich : A Neural Network to Identify Legal Precedents, 9th Symposium on Legal Data Processing in Europe (Cj-Ij Symp), Bonn 1989. L. Philipps , Naheliegende Anwendungen neuronaler Netze in der Rechtswissenschaft, in: Jur PC 1990, S. 820 ff.

  5. 5 In Frankfurt gibt es eine vorzügliche Fachbuchhandlung für Informatik, die sich auf neuronale Netze spezialisiert hat, die aber auch asiatische Tanzmasken und Götterstatuen zum Verkauf anbietet: im Schaufenster steht das eine neben dem anderen. Das ist natürlich kein Zufall.

  6. 6 L. Levy-Bruhl , La mentalité primitive (1921).

  7. 7 Genauer beschrieben, sieht dies Lernen so aus: Das Gewicht der Verknüpfungen zwischen den Zellen des Netzes wird zunächst versuchsweise von einem Zufallszahlengenerator bestimmt und anschließend korrigiert. Die Korrektur erfolgt sukzessive auf Grund einer «Backpropagation» der Differenzen (d.h. der Fehlerquadrate) zwischen den jeweiligen Ergebnissen und den Zielvorgaben für die Outputzellen. Dass das Netz – wie oben im Text angegeben – durch die Zwischenzelle vermittelt lernt, ist dann der Fall, wenn man den sich korrigierenden Lernprozess mit niedrigen Zufallszahlen beginnen lässt. Wählt man jedoch hohe Zufallszahlen, verhält sich das System umgekehrt: Es bevorzugt die direkten Verbindungen und vernachlässigt die indirekten. Man kann sich das so erklären: Im einen Falle beginnt das System mit anfänglich schwachen Verbindungen, die allmählich verstärkt werden. Da ist es bequemer, sechs Verbindungen zu verstärken als neun. Im zweiten Fall beginnt das System mit von vornherein stark angesetzten Verbindungen, die nachträglich wieder zum Teil abgeschwächt werden. Jetzt ist es umgekehrt kraftsparender, sechs von fünfzehn Verbindungen abzuschwächen als sechs – so dass dann neun bleiben! Man hat dies «Prinzip des geringsten Kraftmaßes» (um eine Formulierung von Richard Avenarius aufzugreifen) also nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen: gemäß der Kraft, die zum Lernen oder aber Verlernen nötig ist. Dabei ist es aber wohl im allgemeinen natürlicher, von dem Modell eines sich allmählich verstärkenden Lernens auszugehen statt von dem eines Verlernens.

  8. 8 Man halte sich vor Augen, dass man hier auf Grund von sechs vorgegebenen Konstellationen zehn weitere erschließen kann, die von ihnen logisch unabhängig sind. Es handelt sich also um Analogieschlüsse. Dazu ist es notwendig, dass vorgegebene Konstellationen auch «typisch» sind und nicht lediglich richtig entschieden. Vgl. L. Philipps , Are Legal Decisions Based on the Application of Rules or Prototype Recognition? (Anm. 4).

  9. 9 Mit einer geringen Hamming-Distanz lässt sich das Ergebnis Versuch also nicht erklären. Vermutlich nimmt das Netz deshalb keine vollendete Tat sondern Versuch an, weil für die spiegelbildlich gleiche Konstellation (1,1,0,1) ebenfalls keine vollendete Tat (sondern Fahrlässigkeit) eingeübt worden ist. Das ist aber, wie gesagt, nur eine Vermutung; im Einzelnen darlegen kann ich es nicht.

    Außer dass es abstrakter entscheidet, verhält sich das Netz mit Zwischenzellen auch entschiedener. Ohne Zwischenzellen gibt es zuweilen noch einen zweiten Vorschlag, und dieser ist manchmal falsch.