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Strafrechtsprobleme in der Ästhetik des Kriminalromans

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Strafrechtsprobleme in der Ästhetik des Kriminalromans, in: Jusletter IT 5 October 2011
Auch hier wieder die Parallelität des Ästhetischen und des Ethisch-Juristischen – mit Seitenblicken auf die Naturwissenschaft. Diesmal ist es das Phänomen der Symmetrie, das im Mittelpunkt steht. Symmetrie wird oft belastet, bis hin zur «Brechung». Belastete Symmetrie bedeutet Spannung, das gilt für jedes der drei Gebiete. Was das Ethisch-Juristische anlangt, so ist der Kriminalroman das nächstliegende Medium, der Spannung Ausdruck zu geben, und wenn diese Spannung nicht nur oberflächlich ist, bedeutet sie auch ein Rechtsproblem. An Fällen aus Strafrechtsübungen wird das gezeigt.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Der Plot und das Rechtsproblem
  • 2. Symmetrie in Recht und Ästhetik
  • 3. Die Notwehrprovokation und die Umkehrung des Angriffs
  • 4. Von der Reziprozität zur Generalisierung
  • 5. Ein Blick über die Grenze
[1]

1.

Der Plot und das Rechtsproblem ^

[2]
Manche Strafrechtslehrer rühmen sich der Sparsamkeit der Sachverhalte, die sie Ihren Studenten als Übungsfälle präsentieren: «Bei mir hat jeder Nebensatz und jedes Attribut seine Bedeutung.» Ich halte dies Ideal für verfehlt. Staatsanwälte und Richter bekommen ihre Akten auch nicht in der Form auf den Tisch, dass in ihnen kein Wort zuviel und keines zu wenig steht, und die Studenten sollten beizeiten lernen, das Wesentliche im Sachverhalt vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Deshalb füge ich in meine Sachverhalte gerne einige Details ein, die bloße Schnörkel sind. Was aber wesentlich eleganter und zudem juristisch produktiv ist: Ich nehme zuweilen den Plot eines Kriminalromans als strafrechtlichen Übungsfall. Der Student muss dann entscheiden, ob eine Einzelheit zum Rechtsproblem oder nur zur Erzählung gehört.
[3]
Das Verfahren funktioniert freilich nur, wenn die Struktur des Plots und die der Rechtsfrage sich zu einem wesentlichen Teil decken – die Struktur wohlgemerkt und nicht einfach der Gegenstand, dass jemand beispielsweise einen Mord begangen hat und dann überführt und seiner gerechten Strafe zugeführt wird: das ist zwar gut und schön, aber kein Probierstein für den Scharfsinn und das Judiz werdender Juristen. Eine Strukturdeckung findet sich in der Tat bei manchen Kriminalromanen, freilich nur bei solchen, wo die Handlungen des Helden oder (immer häufiger) der Heldin das Geschehen mitbestimmen und nicht lediglich seiner Aufklärung dienen (wie bei den «Whodunits»).1

2.

Symmetrie in Recht und Ästhetik ^

[4]
Der gemeinsame Nenner der juristisch-ästhetischen Doppelproblematik ist der Begriff der «Symmetrie». Für Juristen ist das ein naheliegender Begriff: die archaischen Rechtsinstitute der Rache und des Tausches sind symmetrisch.2Die überlieferten Formeln der Gerechtigkeit, von Aristoteles her, drücken Formen der Symmetrie aus. Aber auch in der ästhetischen Theorie hat der Begriff der «Symmetrie» in der letzten Zeit zunehmende Bedeutung gewonnen. Die Tendenz geht von Mathematikern und Naturwissenschaftlern aus, die seit einigen Jahren in einer sehr ernstzunehmenden Weise versuchen, die Grenze zu den Kulturwissenschaften, vor allem zur Ästhetik, von ihrer Seite her zu durchbrechen. «Symmetrie» und «Symmetriebrechung» sind Schlüsselbegriffe der modernen Physik; sie spielen auch der Biologie eine große Rolle.
[5]
Ich erspare mir theoretische Darlegungen3und bemerke nur so viel: Einerseits sollte Symmetrie vorliegen, aber andererseits darf sie nicht spannungsfrei, sondern muss belastet sein, vielleicht gar kurz vor der «Brechung» stehen.4
[6]
Ein paar Beispiele:

  1. A ermordet B. Das ist ein asymmetrischer Vorgang. Juristisch gesehen ist es kein Rechtsproblem, sondern ein Rechtsfall. In einem Roman mag sich zwar daran anschließen, dass nun ein Angehöriger von B es unternimmt, A zu töten und so die Symmetrie wiederherzustellen, und dergleichen ist auch oft genug in einer literarisch und rechtsphilosophisch anspruchsvollen Weise dargestellt worden. Aber Rechtens ist Rache in modernen Rechtsordnungen nicht, und als Übungsfälle für Studenten kommt es mir auf solche Plots an, die im geltenden Recht ein Problem aufwerfen.

  2. A versucht B zu ermorden, doch B kommt ihm mit einem schnellen Schuss zuvor: Notwehr. Das ist zwar befriedigend, aber in einer trivialen Weise: es liegt Symmetrie vor, sie ist jedoch zu unbelastet, um ästhetische oder juristische Herausforderungen zu stellen.

  3. B reizt den A so lange, bis dieser ihn in Tötungsabsicht angreift; B kommt ihm, wie von Anfang an geplant, mit einem schnellen Schuss zuvor. Auch hier liegt Symmetrie vor, aber sie ist belastet, weil von einer Partei instrumentalisiert – manche sprechen hier von «Rechtsmissbrauch». Unter Juristen wird die Frage der «Notwehrprovokation» seit Generationen zergliedert und diskutiert, ohne dass sich eine allgemein anerkannte Ansicht dazu durchgesetzt hätte; vielleicht gibt es keine Lösung, die für alle Zeiten und Gesellschaftsformen Bestand haben könnte. Mit der Notwehrprovokation haben wir auch einen Topos der Kunst vor uns. Erkennen Sie ihn wieder? Sie haben dergleichen mehr als ein dutzendmal gesehen, im Fernsehen oder Kino: es ist eine typische Westernszene.

3.

Die Notwehrprovokation und die Umkehrung des Angriffs ^

[7]
Ich beginne also meine Vorstellung von Literaturfällen mit zwei Szenen einer provozierten Notwehr. Als erstes die kommentierte Skizze einer Kurzgeschichte von Andrew Vachss (aus «Born Bad»).5

In einer amerikanischen Stadt wird eine Nachbarschaft von zwei jungen Männern terrorisiert. Der eine ist mit einem Baseballschläger, der andere mit einem Bleirohr bewaffnet, und sie haben sich darauf spezialisiert, Hunde solange zu reizen, bis sie angreifen, um sie dann zu misshandeln und zu verstümmeln, ihnen die Glieder zu zerschlagen und die Augen auszustechen. So ist es auch dem Schäferhund eines alten Mannes ergangen. Der Mann wendet sich an die Polizei; aber hier sagt man ihm, man habe weiß Gott genug zu tun und könne sich nicht auch noch um Hunde kümmern. Der alte Mann hat genug Geld, um jemanden anzuheuern, der seinen Beruf nur negativ umschreibt: «Ich kein Privatdetektiv, was wollen Sie von mir?» Der alte Mann: «Sie wissen genau, was ich will.» Wir werden den anderen nach Juristenart schlicht «K» nennen, denn es ist ein bezahlter Killer, und es kommt das zustande, was in der Sprache amerikanischer Kriminalromane ein «Kontrakt» heißt. K fährt zu einem speziellen Hundezüchter und mietet sich einen Pitbullterrier. Dann geht er regelmäßig mit dem Hund in der Nachbarschaft des alten Mannes spazieren. (Was ist verwerflich daran, mit einem Hund, den man völlig unter Kontrolle hat, spazierenzugehen?)
Am fünften Abend kommen K die beiden Männer entgegen. Sie nehmen die ganze Breite des Bürgersteigs ein, und K tritt zur Seite, wie um sie vorbeizulassen. Sie gehen aber nicht vorbei, sondern bauen sich vor K auf: «Ein Pitbull – ein mächtig böser Hund, der bestimmt eine kleine Lektion verdient hat.» K tätschelt den Kopf des Hundes: «Ach, es ist doch nur ein Pet». (Das stimmt zwar nicht; aber kann man K diese Lüge zum Vorwurf machen? Hätte er wirklich offenbaren müssen, dass der Hund zur Tötung von Menschen abgerichtet ist? Die jungen Männer sind schließlich auf der Suche nach wehrhaften Hunden, um an ihnen ihre Kräfte zu messen; da ist es schon besser, K sagt etwas Beschwichtigendes.)
Die beiden lassen sich freilich nicht beschwichtigen. Der kräftigere stößt immer wieder mit dem Bleirohr nach dem Hund. Doch dieser knurrt nicht einmal, sondern weicht nur zurück, um schließlich, wie schutzsuchend, auf Ks Arm zu springen. Das Benehmen des Hundes enttäuscht die jungen Männer, und sie geizen nicht mit Spott. (Müsste K ihnen wirklich erklären, dass der Hund deshalb nicht knurrt, weil er dazu erzogen ist, lautlos anzugreifen, ohne Vorwarnung, und nur auf ein Stichwort hin? Die Männer sind nicht zu unterschätzen: sie sind mit schweren Schlagwerkzeugen bewaffnet und haben wiederholt gezeigt, dass sie auch mit kräftigen Hunden fertig werden.) «Setzen Sie sofort den Hund auf den Boden!», herrscht der Mann mit dem Bleirohr K an. Aber das kann K unmöglich tun, ohne seine Position empfindlich zu schwächen. Denn der Hund hat inzwischen die optimale Angriffsstellung eingenommen: dicht am Kopf des Gegners. «Bitte, Sir, bitte lassen Sie meinen Hund in Frieden», sagt K. Aber sein Gegenüber holt zum Schlag aus, und nun bleibt K nichts anderes übrig, als das Stichwort auszusprechen. (Er hat sich sein Geld verdient – redlich, oder nicht?)
[8]
Ästhetisch gesehen ist die Geschichte ein artistisches Spiel mit Symmetrien6, und genau das macht sie auch zum Rechtsproblem. Dass jemand Hunde verstümmelt und am Biss eines Hundes umkommt, ist nur eine vordergründige Symmetrie. Subtiler und juristisch interessant ist, dass die jungen Männer zu provozieren glauben und nicht merken, dass sie es sind, die provoziert werden.7Ein Problem bildet auch die Diskrepanz zwischen der tödlichen Zielgerichtetheit des Verhaltens auf der einen Seite und seiner spiegelbildlichen Umkehrung als verwirrte Ängstlichkeit, wie sie der anderen Seite erscheint.
[9]
Was wir Juristen technisch «Notwehrprovokation» nennen, war in diesem Plot weniger eine Provokation als eine Verlockung. In der nachfolgenden Geschichte übt der Täter – Verteidiger? – dagegen starken Druck aus: die Frau, der die Rolle der Angreiferin zugedacht ist, muss damit rechen, dass ihr Leben ruiniert ist, wenn es ihr nicht gelingt, ihren Gegenspieler rechtzeitig auszuschalten. Es kommt noch ein anderer Topos hinzu, der im amerikanischen Kriminalroman ebenfalls eine große Rolle spielt: Der provozierende Verteidiger schlägt nicht selber zu, sondern manipuliert die Umstände derart, dass der Schuss des Angreifers nach hinten losgeht: in der nachfolgenden Geschichte buchstäblich. Der Angreifer tötet sich also selber. Wegen ihrer hochgradigen Symmetrie, die sich zudem von selber ergibt, wirkt diese Konstellation ästhetisch besonders befriedigend. Der folgende Plot stammt von Mickey Spillane (Girls Hunters); der Text ist so belassen, wie ich ihn meinen Studenten als Hausarbeit gegeben habe.8

Michael Hammer, der bekannte Privatdetektiv, ist in letzter Zeit wiederholt im Bungalow von Laura K zu Gast, der jungen Witwe des vor Jahresfrist ermordeten Politikers Leopold K, die im gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt immer noch eine maßgebliche Rolle spielt. Es ist augenscheinlich, dass die beiden einander nicht gleichgültig sind.
Bei einem seiner Besuche entdeckt M in einer Umkleidekabine neben dem Swimmingpool ein schweres doppelläufiges Jagdgewehr, das mit den Läufen nach unten im Lehmboden steht. In den Mündungen haben sich Lehmpfropfen festgesetzt. Er erklärt der jungen Frau, dass die Waffe in diesem Zustand für den Schützen tödlich sei: ein Schuss würde die verstopften Läufe zerreißen. L ist erschrocken, sie hat das nicht gewusst. M reinigt das Gewehr und lehnt es gegen die Wand, diesmal mit dem Kolben nach unten.
Nach einiger Zeit freilich kommt M der Verdacht, dass seine schöne Gastgeberin die Leiterin eines Spionagerings und die Mörderin ihres Mannes sei. Immer mehr Indizien weisen darauf hin. Doch M bezweifelt, dass man dies je werde beweisen können, und falls doch, so wünscht er der jungen Frau ein besseres Schicksal als eine lebenslange Freiheitsstrafe. M geht in die Umkleidekabine und stößt das Gewehr wieder in den Boden, bis er sicher ist, dass beide Mündungen mit Lehm verstopft sind. Er stellt es so hin, wie er es seinerzeit vorgefunden hat. Dann geht er zu L und deutet an, dass sie enttarnt sei. Anschließend verlässt er das Haus.
Dies ist der Bericht über die weiteren Ereignisse in Hammers eigenen Worten:
«Ich ging auf dem betonierten Weg, der von der Umkleidekabine wegführte, und sie rief mich: ‹Mike – Mike!› Ich drehte mich beim Klang ihrer Stimme um, und da stand sie ... Ihre grauen Augen beobachteten mich über die langen Zwillingsläufe der Schrotflinte. Über dem blauen Stahl bildeten ihre blutroten Nägel einen erregenden Kontrast. Die Finger hätten gebräunt aussehen sollen. Jetzt leuchteten sie weiß vor Anspannung. Beim nächsten Bruchteil einer Bewegung würde die Waffe losgehen.
Sie sagte: ‹Mike – › Und in diesem einen Wort lagen Liebe und Hass, Rache und Wehmut, aber am stärksten war ein Pflichtbewusstsein, das lange vorher in ihr Gehirn eingebrannt worden war. Ich sagte ‹Adieu, Kleines!› Dann drehte ich mich um und ging dem Ausgang entgegen. Hinter mir hörte ich das unirdische Röhren der verstopften Flinte, als sie beide Abzüge gleichzeitig durchzog.»
[10]
Der nächste Fall enthält zwar noch das Motiv der Notwehr und der Umkehrung des Angriffs, aber nicht mehr das der Provokation (nach «Hours to Kill» von Ursula Curtiss, einer Australierin):

Claudia, eine junge Ehefrau, ist in der letzten Zeit übernervös, und auch das Valium, das sie in zunehmendem Maße schluckt, kann da wenig helfen. Sie muss immer daran denken, dass sie ihr Mann, der gutaussehende Maximilian, vor ihr schon zwei Ehefrauen gehabt hat, ebenfalls sehr wohlhabend, und beide sind bei Unfällen umgekommen – aber vielleicht waren es gar keine Unfälle? Claudia glaubt immer mehr Anzeichen dafür zu sehen, dass sie als nächste dran ist ... aber vielleicht sieht sie auch nur Gespenster. Maximilian überredet sie, gemeinsam mit ihm zur Entspannung an einen einsamen Bergsee zu fahren. Bei strahlendem Sonnenschein sitzen die beiden auf der Terrasse des Strandhotels. Er schlägt vor, vor dem Baden noch rasch einen Cocktail zu trinken, und holt die Getränke sogleich von der Bar. In Claudia erwacht die Angst, dass es jetzt soweit ist und sie vergiftet werden soll. Was soll sie tun?9
[11]
Allzu viele Studenten, die diesen Fall bearbeitet haben, sahen darin überhaupt kein Problem. Sie braucht den Cocktail ja nicht zu trinken. Aber das wäre eine Scheinlösung, die das Problem nur verschiebt. Eine Ehefrau, die mit ihrem Mann zusammenlebt, kann es nicht vermeiden, Speisen und Getränke, die er berührt haben könnte, zu sich zu nehmen. (Außerdem könnte eines Tages ein Fön in die Badewanne fallen ... ) Wenn Claudia mit ihrem Verdacht recht hat, liegt das vor, was Juristen eine «Dauergefahr» nennen. Eine wirkungsvollere Alternative wäre es, den Cocktail sicherzustellen und zu einer Institution zu bringen, die ihn untersucht. Aber Claudia entscheidet sich auch dagegen, denn sie hält es auch für möglich, dass sie Gespenster sieht, und so viel offensichtliches Misstrauen könnte ihre Ehe, an der sie im Prinzip festhalten will, zerstören.
[12]
Hier sei eine Zwischenbemerkung eingefügt: Damit sich in einem Kriminalroman das System der Interaktionen nach seiner eigenen Gesetzlichkeit entwickeln kann, muss vermieden werden, dass es von außen her gestört wird. Eine solche «Störung» wäre vor allem das vorzeitige Eingreifen der Polizei. Dies auszuschließen ist ein typisches Problem für den Autor, und oftmals ist es in einer so inplausiblen Weise behandelt, dass es peinlich wirkt. In unseren Beispielen freilich leuchtet die Lösung ein: Im Falle des alten Mannes hat die Polizei ihre Hilfe verweigert, und Mike Hammer handelt wie immer nach der Devise «I, the Jury» (so der Titel von Spillanes bekanntestem Roman). Ursula Curtiss hat das Problem in einer tiefsinnigen Weise gelöst: die Anrufung obrigkeitlicher Hilfe könnte eben das Gut vernichten, das Claudia bewahren möchte.
[13]
Claudia entscheidet sich für eine dritte Alternative. Mit einer scheinbar fahrigen Handbewegung wischt sie den Zimmerschlüssel vom Tisch. Maximilian bückt sich danach, und als er sich wieder aufrichtet, hat seine Frau die beiden Cocktailgläser vertauscht. «Auf dein Wohl, Liebste!» trinkt er ihr zärtlich zu, und dann schwimmen die beiden weit hinaus. Claudias Vorgehen ist voller Symmetrie. Wenn der Cocktail kein Gift enthält, geschieht Maximilian nichts, und andernfalls wird ihm in genau dem Maße heimgezahlt, wie er es für sie geplant hat.
[14]
Maximilian hat in der Tat einen Anschlag geplant, und nun könnte es damit sein Bewenden haben: eine Vergiftung, die auf den Urheber zurückschlägt. Aber der Verfasserin gelingt es, den Schluss noch hinauszuzögern und die Symmetrie des Vorgangs zu belasten. In der Mitte des Sees wird Maximilian von dem Krampf befallen, den er Claudia zugedacht hat. (Der Cocktail enthielt kein eigentliches Gift, sondern ein Mittel, das einen Muskelkrampf bewirkt.) Verzweifelt fleht er seine Frau an, ihn zu retten. Claudia sieht sich nun erneut mit einer Entscheidungssituation konfrontiert. Ist sie nicht verpflichtet, die Todesgefahr abzuwenden, die sie selber ahnungsvoll bewirkt hat? Sollte nicht das Band der Ehe stärker sein als die Ruchlosigkeit des Ehemannes? Claudia, eine kraftvolle Schwimmerin, könnte Maximilian retten. Aber sie entscheidet sich dafür, ihn ertrinken zu lassen. Der Meister des scheinbaren Unfalls fällt einem ebensolchen zum Opfer.

Als Claudia wieder am Ufer angelangt ist, trifft sie dort ihren Jugendfreund Jörg, der ihr nachgefahren ist, um sie vor Maximilian zu warnen. Jörg, der die Geschehnisse auf dem See beobachtet hat, rät ihr, noch eine Extraportion Valium zu schlucken, damit im Falle einer Blut- oder Urinprobe ihre scheinbare Apathie erklärt werden könne. Indessen schöpft niemand Verdacht.
[15]
Dies Nachspiel ist nicht untypisch für Kriminalromane: Das Hauptproblem wird durch ein Nebenproblem abgepuffert. Diesmal geht es um die Frage: strafbare versuchte Strafvereitelung durch Jörg oder aber straflose Anstiftung zu einer straflosen Selbstbegünstigung?
[16]
Bei den letzten beiden Plots handelte es sich – in eine juristische Kategorie gefasst – um Fälle der aberratio ictus, mit der Besonderheit, dass der fehlgehende Angriff nicht einen zufälligen Dritten, sondern den Angreifer selbst verletzt. Wo aber eine aberratio ictus vorliegt, kann auch ein error in persona nicht weit sein. Um einen solchen geht es in dem folgenden Plot (aus Dashiell Hammets Roman «The Big Sleep»). Ich habe ihn von San Francisco nach München transferiert; die Struktur ist aber dadurch nicht verändert worden.

«Humphrey Bogart» wird wegen seiner Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Filmschauspieler so genannt; seinen richtigen Namen kennt kaum einer. Er ist Gründungsmitglied des «Kampfbundes 23. November», der in militanter Weise dafür sorgen will, «dass hierzulande endlich alles anders wird». Vor kurzem hat Bogart sich indessen von dem Bund gelöst; er hält sich seit einigen Tagen in einem kleinen, abseits gelegenen Holzhaus in der Gegend des Flaucher10versteckt. Hier wird er von seinen ehemaligen Kampfgenossen aufgespürt. Andreas, der Vorsitzende des Bundes, geht in der Nacht zu ihm und fordert ihn auf, sich dem «Tribunal des 23. November» zu stellen. (Dessen Urteile hat noch niemand für nennenswerte Zeit überlebt.) Bogart zieht seine Pistole; aber Andreas lächelt nur. Bogart könne es sich gar nicht leisten zu schießen; denn er selber sei wie immer unbewaffnet, und wenn hier drinnen Schüsse fielen, wüssten Clara und Dietlinde, die draußen postiert seien, Bescheid. Die Kampfgenossinnen würden die Hütte so mit ihren Kalaschnikows durchsieben, dass keine Ratte mehr lebend herauskomme. «Wir haben einen entsprechenden Beschluss gefasst.»
Bogart schießt in den alten Ohrensessel, der in einer Ecke steht. Zwei weitere Schüsse in rascher Folge, wieder in den Sessel.
[17]
Die Situation ist spieltheoretisch interessant. B steht vor der Entscheidung, entweder mit A gemeinsam zu sterben oder sich auf eine höchst fragwürdige Überlebenschance einzulassen. A rechnet damit, dass B die zweite Alternative wählt. Das ist naheliegend: der Mensch hofft, solange er lebt. Aber B findet noch eine dritte Möglichkeit: die Schüsse in den Sessel. Diese bewirken, dass sich die Situation spiegelbildlich verkehrt. Nun ist es A, der sich entscheiden muss und zwar rasch, und wiederum zwischen dem sicheren gemeinsamen Tod und einer höchst unsicheren Aussicht auf Überleben. Rationalerweise entscheidet sich A für die zweite Alternative. Er stürzt zur Tür, um sich seinen Freunden zu zeigen. Doch es geht schief: er wird von der Garbe einer Maschinenpistole erfasst.11Seine Mitstreiterinnen, die jetzt in Panik davonstürzen, sind plausiblerweise davon ausgegangen, dass der, der nach den Schüssen zu fliehen versucht, nur B sein könne.
[18]
Der Plot wirkt in der Symmetrie seiner intellektuell anspruchsvollen Konstruktion sehr ästhetisch, und das gilt auch für den Film mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, den Howard Hawks nach dem Roman von Dashiell Hammet gedreht hat (1946). Wer einmal gesehen hat, wie die Maschinenpistole ein Zickzackmuster in die aufgerissene Tür fräst, wird dies Bild nie vergessen.
[19]
Juristisch gesehen ist der Fall freilich nicht besonders problematisch, weil die Symmetrie zwar kunstvoll, aber nicht belastet ist; Recht und Unrecht sind klar geschieden. Aber wegen der Verzwicktheit der Konstruktion, die in juristische Kategorien übersetzt werden muss, ist er als Übungsfall gut geeignet.


4.

Von der Reziprozität zur Generalisierung ^

[20]
Ich könnte noch eine ganze Reihe solcher Fälle anführen (auch aus meinen Strafrechtsübungen12); doch ist es an der Zeit, sich einer anderen Struktur zuzuwenden, die freilich auch symmetrisch ist. Der folgende Fall von Friedhelm Werremeier (Ein EKG für Trimmel) ist anders und in der juristischen Problematik moderner als die bisherigen Beispiele.

Das Rechenzentrum der Universitätsklinik Hamburg ist eine der wichtigsten Vermittlungsstellen für Organtransplantate in Europa. Sein Computer speichert u.a. die Gewebestrukturdaten von Nierenkranken. Wird irgendwo ein Nierentransplantat angeboten, so soll der Computer denjenigen herausfinden, der es erstens am nötigsten braucht und zweitens die beste Gewebeverträglichkeit hat.
Im Falle des Patienten Schilling wird die Wartezeit erheblich abgekürzt. Der todkranke Fabrikant bietet dem technischen Leiter des Rechenzentrums, dem Akademischen Direktor Dr. Tennessy, I Mio. DM für den Fall, dass er außer der Reihe eine neue Niere erhalte. Dr. Tennessy sorgt nun dafür, dass Sch von den Kranken mit vergleichbarer Gewebestruktur als nächster dran ist. Hierzu verändert er die auf Band gespeicherten Daten des Sch in geeigneter Weise. Dann setzt er sich mit Prof. Laschnitz in Verbindung, einem Chirurgen, der sich auf die Entnahme von Transplantaten spezialisiert hat, und erbittet eine passende Niere.
Fürs erste freilich müssen sich Schilling und Tennessy noch gedulden. Zwar wird in die Klinik Lehnberg, die von Prof. Laschnitz geleitet wird, ein Patient mit schwerem Schädeltrauma – Opfer eines Verkehrsunfalles – eingeliefert, der genau die richtige Gewebestruktur hat. Nach allem, was die medizinische Wissenschaft weiß, wird er nie wieder das Bewusstsein zurückerlangen. Es handelt sich um Konrad Brauer, den einzigen Sohn des Reeders Hinrich Brauer. Seine Gattin, Silke Brauer, ist auch der Meinung, dass man keine «sinnlosen lebensverlängernden Maßnahmen» ergreifen solle, und sie erteilt auch grundsätzlich ihre Zustimmung zur Entnahme der Nieren. Wegen der günstigeren Erbfolge macht sie aber zur Bedingung, dass Prof. L ihren Mann mit allen Mitteln solange am Leben erhalte, bis sein Vater gestorben sei, mit dessen Ableben täglich gerechnet werden müsse.
Am 15. Januar ist Konrad B. bewusstlos eingeliefert und an einen Reanimator angeschlossen worden. Am 4. Februar gegen 16.40, stirbt Hinrich Brauer. Sofort lässt sich seine Schwiegertochter mit Prof. L verbinden: «Es ist soweit: mein Mann kann erlöst werden.» Prof. L schaltet den Reanimator ab.
Nun endlich erhält Schilling eine neue Niere und Dr. Tennessy sein Geld. Der Patient Repper, der eigentlich an Stelle von Schilling an der Reihe gewesen wäre, stirbt übrigens 14 Tage später. Freilich hätte Repper auch trotz oder sogar wegen einer Transplantation sterben können: was im Falle einer Operation eingetreten wäre, lässt sich nicht aufklären.
[21]
Der Fabrikant Schilling und, von ihm angestiftet, der Leiter des Rechenzentrums, haben verschiedene Straftaten begangen13; aber diese bleiben ungesühnt. Mehr noch: was den Millionär anlangt, so scheint auf den ersten Blick die Asymmetrie von der Rechtsordnung geduldet zu werden. Da sich Schilling in einer gegenwärtigen Gefahr für sein Leben befand (das wollen wir annehmen), könnte sein Verhalten durch Notstand entschuldigt und also straflos sein (§ 35 StGB). Diese Annahme löst jedoch ein Problem aus: Wenn sich jeder in vergleichbarer Lage so verhalten würde wie Schilling, würde das System einer gerechten Ordnung der Organtransplantation zusammenbrechen. Mit Kants Kategorischem Imperativ (oder einem vergleichbaren Prinzip der Generalisierung) ist ein solches Verhalten nicht vereinbar. Nach dem Kategorischen Imperativ würden schon das bloße Gedankenexperiment und sein Ergebnis hinreichend sein, um das in Frage stehende Verhalten auszuschließen. Aber im vorliegenden Falle führt das Gedankenspiel zudem zu einer realistischen Prognose: Wenn das Gesetz dergleichen straffrei ließe, würde in der Tat fast jeder in vergleichbarer Lage und Todesangst, der es sich leisten kann, so handeln: jeder der sehr reich ist oder eine starke Machtposition hat. Es würde ein «Dammbruch» eintreten; eine Institution, an der der Gesellschaft gelegen sein muss, würde zusammenbrechen.14
[22]
Der Gesetzgeber hat dem jedoch vorgebeugt (sicherlich ohne an die entsprechende Fallkonstellation zu denken): die entschuldigende Straffreistellung tritt nicht ein, wenn dem Täter nach den «Umständen» zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. Das ist hier der Fall: der andere, auf dessen Kosten er handelt, muss auf die geregelte Ordnung der Transplantation vertrauen können.15Durch das Tor der besonderen «Umstände» kann also der Kategorische Imperativ in das Strafgesetzbuch eindringen.
[23]
Wenn man sich das klargemacht hat, wird man vielleicht erkennen, und dann sicher nicht ohne Bewunderung, dass dasselbe Prinzip schon für den ersten Teil von Werremeiers Fall – der verzögerten Abschaltung des Reanimators – eine wesentliche Rolle spielt. Es wird zunächst eine andere Variante des kategorischen Imperativs sein, an die man denkt: nämlich dass man einen Menschen niemals nur als Mittel, sondern auch als Zweck behandeln müsse. Der Bewusstlose mit zerstörtem Gehirn wird nur als Mittel zur Erlangung einer günstigen Erbschaft benutzt; ein Zweck um seiner selbst Willen kann er nicht mehr sein. Generalisieren – entsprechend der Normalform des kategorischen Imperativs – lässt sich die Situation aber auch. Man kann es unmöglich als ein allgemeines Gesetz des Handelns anerkennen, dass beispielsweise aus Gründen der Erbfolge der eine Teil der Familie den Arzt durch Geld oder Nötigung zu einem möglichst raschen Abstellen des Reanimators zu bewegen sucht, der andere Teil aber zu einem möglichst langem Laufenlassen.
[24]
Bei Fällen des ersten Typus hatten wir es mit der Reziprozität im Verhältnis zweier Parteien zu tun, nun mit der Ebene der Allgemeinheit («Wenn jeder so handeln würde ... »16). Das Prinzip der Generalisierung, das nunmehr im Spiel ist, ist in ausgedehnterem Maße symmetrisch als das der Reziprozität, weil es jedermann im Verhältnis zu jedermann betrifft und nicht nur zwei Parteien. Andererseits war das Verhalten jener zwei Parteien real und einer unmittelbaren Bewertung zugänglich; jetzt müssen wir irrealiter das Verhalten jedermanns in vergleichbarer Lage in die Bewertung einbeziehen: das Täter-Opfer-Verhältnis isoliert betrachtet würde die Straflosigkeit des Täters ergeben.
[25]
Auf die Fragen, inwieweit auch die juristische Bewertung des realen Einzelverhaltens von der allgemeinen Ideologie der Gesellschaft und der Rechtsordnung abhängt und inwieweit sich eine Generalisierung mit der realistischen Prognose eines «Dammbruchs» verbinden muss, gehe ich hier nicht näher ein; dies würde zu weit von dem Thema der Fallstrukturen wegführen. Ein paar Andeutungen seien indessen nachgetragen.


5.

Ein Blick über die Grenze ^

[26]
Der Kenner amerikanischer Kriminalromane kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Amerikaner von dem Institut der Notwehr fasziniert sind, und speziell von der Möglichkeit der manipulierten Notwehr, bei der sich jemand in eine Defensivposition hineinmanövriert, um dann den Angreifer zu vernichten. Falls es gute deutsche Kriminalromane mit diesem Topos gibt, so sind sie jedenfalls meiner Aufmerksamkeit entgangen.17Andererseits hat der Plot von Friedhelm Werremeier unverkennbar eine deutsche Aura um sich, auch wenn man davon absieht, dass die Geschichte in Hamburg spielt und auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, dass der Verfasser bei der Niederschrift an Immanuel Kant gedacht hat. Der Unterschied erklärt sich vielleicht aus der amerikanischen Geschichte. Im Westen musste jeder darauf eingestellt sein, sich seiner Haut zu wehren – dies in Verbindung mit dem protestantischen Ideal des «Righteous», der in Luthers Bibelübersetzung der «Gerechte» heißt. Bemerkenswert ist, dass der amerikanische Model Penal Code eine Regelung der Notwehrprovokation enthält Section 3.04 (2) – (b) – (i), (ii)18, (die aber wohl nicht ausreicht, die angeführten Fälle zu entscheiden); meines Wissens gibt es in Gegenwart und Geschichte kein deutsches Strafgesetzbuch (und auch keinen Entwurf eines solchen), das eine solche Regelung enthält.
[27]
Vermutlich haben bestimmte Völker, an ihrer Literatur erkennbar, Vorlieben für bestimmte Rechtsprobleme – ein möglicher Gegenstand der Rechtsvergleichung. Aber das schließt nicht aus, dass das, was in der einen Rechtsordnung problematisch ist, auch in der anderen ein Problem darstellt: d.h. eine Fallstruktur, für die die Rechtsfolge nicht mit intersubjektiver Sicherheit und jedenfalls nicht zur intersubjektiven Befriedigung des Rechtsgefühls gefunden werden kann. Die Notwehrprovokation in ihren Schattierungen ist ein Problem in Deutschland wie in Amerika, obwohl die gesetzlichen Regelungen des Notwehrrechts in beiden Systemen sehr unterschiedlich sind.
[28]
Tiefer liegende Rechtsprobleme sind invariant oder jedenfalls sehr viel weniger variant als Gesetze und auch als die dogmatischen Konstruktionen, die man zu ihrer Lösung ersonnen hat.19Dies halte ich übrigens für ein starkes Argument gegen einen Gesetzespositivismus im Stile von Kelsen oder Hart. Gesetze drücken im Recht nur die Seite der Lösungen aus, aber nicht die der Probleme. Warum diese Beschränkung auf die eine Hälfte und noch dazu die variablere und kontingentere? Jede Wissenschaft sucht doch sonst nach dem Invarianten in ihrem Stoff. Gewiss sucht auch der Rechtspositivismus nach den invarianten Gestaltungsformen möglicher Lösungen, und er hat auf diesem Gebiete Beachtliches geleistet. Aber in den Problemen lassen sich Strukturen aufzeigen, die invariant sind gegenüber den Unterschieden der Rechtssysteme und des Geschichtsablaufs, und in unserer Zeit rasch fortschreitender Globalisierung sind solche übergreifenden Invarianten wichtiger als das Gemeinsame und das Trennende in den Gesetzen. Eine solche invariante Struktur ist vor allem die Symmetrie und ihre Belastung – einfach deshalb, weil Symmetrie die allgemeinste Struktur der Gerechtigkeit ist – wenn nicht gar der Welt überhaupt.



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Das Recht und die schönen Künste. Heinz Müller-Dietz zum 65. Geburtstag, S. 189–203

  1. 1 Die Beschränkung auf Plots, die sich als Rechtsprobleme ernstnehmen lassen, wirkt naturgemäß sehr selektiv. Der Leser sei daher auch auf umfassende Darstellungen hingewiesen: J. Schönert (Hrsg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920, (Tübingen 1991); sowie, der für uns eher interessanten Zeit näherkommend, J. Vogt (Hrsg.), Der Kriminalroman. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung (2 Bände, München 1971).

  2. 2 R.A. Posner in seinem bekannten Werk: Law and Literature – A Misunderstood Relation (Havard University Press 1988), beginnt seine Ausführungen mit dem Kapitel «Revenge as Legal Prototype and Literary Genre».

  3. 3 Zur Frage der «Symmetriebrechung», welche wiederum zu einer neuen Form der Symmetrie führen kann, vgl. vor allem H. Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur (Hamburg 1995). Dass auch im Recht eine Symmetrieform belastet werden kann – in der Tendenz auf eine andere hin und buchstäblich bis hin zur «Unerträglichkeit» –, hat in glänzender Weise Cl.-W. Canaris gezeigt: Aspekte der iustitia commutativa und der iustitia distributiva im Vertragsrecht (Sakkoulas Publications Thessaloniki 1993).

  4. 4 Einige wenige Referenzen und Andeutungen über das Werk von Haken hinaus mögen hier genügen; ich beschränke mich dabei auf Arbeiten aus der jüngsten Gegenwart (also nach Max Bense). Einen gründlichen und klaren Überblick gibt L. Tarassow: Symmetrie Symmetrie! Strukturprinzien in Natur und Technik. Heidelberg 1993 (aus dem Russischen). Der Verfasser erörtert immer wieder das Spannungsverhältnis zwischen genereller Symmetrie und individueller Abweichung, zuletzt bei der «Symmetrie in der Kunst». Leitthemen sind heutzutage aber eher die wundersamen Gebilde, die in der Chaosforschung sichtbar werden; vgl. dazu M. Field/M. Golubitzky: Chaotische Symmetrien.Basel 1993. Damit verwandt, aber viel umfassender: I. Stewart/M. Golubitzky: Denkt Gott symmetrisch? Das Ebenmass in Mathematik und Natur. Basel 1993. Einen ganzen Abschnitt ihres Buches: Komplexität – Das gezähmte Chaos (Basel 1995) widmen D. Peak/M. Frame der Kunst, u.a. der Musik und der Literaturanalyse. Fr. Cramer: Chaos und Ordnung – Die komplexe Struktur des Lebendigen (3. Aufl. Stuttgart 1989) durchbricht in überzeugender Weise nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Darstellung die Grenze von Wissenschaft und Kunst. All dies ist in der vor allem angelsächsischen Tradition geschrieben, wonach auch brillante popularwissenschaftliche Bücher von führenden Forschern verfasst werden – wobei diese die Gelegenheit wahrnehmen, Dinge zu sagen, an denen ihnen offensichtlich sehr gelegen ist, die sie aber in ihren Fachartikeln nicht zum Ausdruck bringen können. Wem es trotzdem zu langweilig wird, der sei auf M. Crichtons Thriller «The Lost World» verwiesen.

  5. 5 Der Titel der Kurzgeschichte ist «Cain»; das ist auch der Name des Hundes darin. Ob das eine Anspielung auf den Bruder Abels ist oder aber eine Hommage à James M. Cain, wie Vachss ein Verfasser besonders schwarzer Kriminalromane (The Postman Only Rings Twice), weiß ich nicht.

  6. 6 Dass Vachss bewusst mit Symmetrien arbeitet, zeigt ein Blick auf die ungemein kunstvoll konstruierte Kurzgeschichte «Alibi» (ebenfalls in der Sammlung «Born Bad»). Mit einer raffinierten Verzögerung wird die Symmetrie des Plots buchstäblich erst mit dem letzten Wort der Geschichte enthüllt, und das trifft dann den Leser wie ein Schlag.

  7. 7 Vgl. zu dieser Konstellation W. Hassemer, Die provozierte Provokation oder Über die Zukunft des Notwehrrechts, in: Festschrift Paul Bockelmann, hrsg. von A. Kaufmann, G. Bemmann, D. Krauss, Kl. Volk (München 1979), S. 225 ff.

  8. 8 Ich habe hier wie auch sonst die amerikanischen Namen durch deutsche ersetzt, freilich nicht den der legendären Zentralfigur Mike Hammer. Das Zitat ist, von einer unwesentlichen Abweichung abgesehen, der Übersetzung von Stephanie Hippmann (Ullstein Kriminalroman) entnommen.

  9. 9 Mit diesem letzten Satz löse ich mich von der Formulierung des Textes, wie ich ihn ausgegeben habe, und übertrage den Fall – wie dann auch den nachfolgenden – in ein entscheidungstheoretisches Modell; was zu tun ich auch den Studenten dringend empfehle, jedenfalls bei Strukturen der Fahrlässigkeit, des möglichen dolus eventualis, des Unterlassungsdelikts, der Notwehr, des Notstands. Das Modell verlangt die Auffächerung aller Handlungsalternativen und ihrer möglichen Ausgänge speziell unter dem Gesichtspunkt der Fremdschädigung und der Selbstschädigung, wenn möglich unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten, sowie die Bewertung aller dieser Aspekte: vgl. L. Philipps, Dolus eventualis als Problem der Entscheidung unter Risiko, in ZStW 85 (1973), S. 27 ff. G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, (2. Aufl. 1991, 8. Abschnitt Fusn. 53) kritisiert daran u.a. den «gewaltigen Umbau der Dogmatik». Auf einen Umbau der Dogmatik kommt es mir freilich nicht an, sondern darauf, eine Technik zu empfehlen, die in allen Wissenschaften, die sich mit Entscheidungen beschäftigen – bislang freilich mit Ausnahme der Jurisprudenz – praktiziert wird. Zumindest in heuristischer Hinsicht ist diese Technik auch in der Jurisprudenz fruchtbar; wie der Jurist das gefundene Ergebnis hinterher dogmatisch darstellt, sollte m.E. eine geringere Sorge sein.

  10. 10 Eine Auenlandschaft in München.

  11. 11 Im Roman und im Film wird er dadurch getötet; in meinem Übungsfall wurde ihm nur ein Arm zerfetzt.

    Dies hat natürlich seinen guten Sinn: Er soll nicht gleich vor einem Höheren Richter stehen; die werdenden

    Richter brauchen ihn noch.

  12. 12 Eng verwandt mit dem Angreifer, dessen «Schuss nach hinten losgeht», ist der nicht minder sprichwörtliche «betrogene Betrüger». In der kriminologischen Wirklichkeit kommt er weit häufiger vor. Ich könnte eine ganze Reihe von juristisch problematischen Literaturbeispielen anführen, begnüge mich hier aber mit einem Hinweis auf meinen Lieblingsfall, den der Ich-Erzähler Karl May souverän handhabt: «Am stillen Ozean» (wenn der Fall auch im Ruhrgebiet spielt), S. 290 ff. in der heute meistverbreiteten Bamberger Ausgabe. Es wäre aber barbarisch, aus Mays weitausschwingender Prosa einen Plot zu destillieren (für die Studenten meiner Übung habe ich mehrere Doppelseiten des Romans kopiert).

  13. 13 Der Fall enthält – typisch für den Autor Werremeier – eine Fülle von Rechtsproblemen, z.B. die Frage der Tötung durch Tun oder Unterlassen und die, ob man eine Körperverletzung dadurch begehen kann, dass man jemand künstlich am Leben hält, schließlich auch den Gedanken der Erhöhung des Risikos (durch das Unterlassen der sonst an Repper vorgenommenen Operation), ohne dass man mit Sicherheit wissen kann, ob sich dies Risiko realisiert hat. Vgl. L. Philipps/P. Bohley, Ein EKG für Trimmel, in: Jura 1993, S. 256–266.

  14. 14 Das halte ich für zutreffend, auch wenn ich mir dessen bewusst bin, dass man mit dem Dammbruchargument vorsichtig umgehen muss. Sehr beachtlich hierzu R. Hegselmann: Moralische Aufklärung, moralische Integrität und die schiefe Bahn, in: R. Hegselmann/R. Merkel (Hrsg.): Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt/M 1991. Allgemein zu dieser Problematik: D. Walton, Slippery Slope Arguments (Oxford 1992).

  15. 15 Man kann das auch so sehen: In der Regel erwächst der entschuldigende Notstand aus einer Zufallssituation. Wenn man nun davon ausgeht, dass der Sinn der Strafe in der Generalprävention liegt, so erscheint es nicht notwendig, die Bestrafung auch auf Handlungen in Situationen zu erstrecken, in denen man sich nur zufällig befindet. Nicht zufälligerweise, sondern aufgabengemäß gerät man in lebensgefährliche Situationen dagegen in den Rollen des Polizisten, des Feuerwehrmannes oder des Soldaten usw.; hier bleibt die Strafbarkeit deshalb erhalten. Auch eine Institution wie die der geordneten Organtransplantation versucht den Zufall zu reduzieren; zum Verhältnis von Zufälligkeit und Institution im Recht findet sich Treffliches schon in Hegels Rechtsphilosophie, §§ 237 ff.

    Zur Frage der Zurechnungseinschränkung aus dem Strafzweck vgl. vor allem Cl. Roxin: Strafrecht Allgemeiner Teil, § 19 I (3. Aufl. München 1997), und zur Frage der «normativen Zufälligkeit», die auch für die «echten Unterlassungsdelikte» von Bedeutung ist, vgl. L. Philipps, der Handlungsspielraum (Frankfurt 1974) und schon L. Philipps, Recht und Information, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie – Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis (Karlsruhe 1971), S. 125 ff.

  16. 16 Die Differenz zwischen den Wertungsprinzipien der Reziprozität und der Generalisierung hat besonders gut Maihofer herausgestellt; vgl. W. Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt a.M. 1956.

  17. 17 Das einzige Beispiel einer juristisch hochproblematischen Notwehrkonstellation in der deutschen Literatur, das mir einfällt, findet sich in einer «Kalendergeschichte» von Johann Peter Hebel: «Der Barbierjunge von Segringen». (Aber auch hier gilt, was ich oben schon zu Karl Mays Fall angemerkt habe: zu lang, um sie ungekürzt abzudrucken, und zu schön, um sie zu kürzen.) Hebel gehört zu den ganz wenigen Autoren in der deutschsprachigen Literatur, bei denen Recht als bürgerlich-juristisches Phänomen vorkommt, nicht als existenzielle Grenzsituation wie bei Kleist oder Kafka oder Dürrenmatt.

  18. 18 Der Model Penal Code ist abgedruckt u.a. im Anhang zu dem Standardwerk von W.R. LaFave: Modern Criminal Law – Cases, Comments and Questions.

  19. 19 Dass die «Rechtsproblematik» eine «unsichtbare Einheit» der «scheinbar national gespaltenen Rechtswissenschaft» (Radbruch) stifte, hat vor allem Max Salomon betont. Vgl. M. Salomon, Grundlegung der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, und dazu G. Radbruch, Rechtsphilosophie; in der Gesamtausgabe (Hrsg. A. Kaufmann) Bd. 2, S. 355 und vorher schon S. 194.