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Rechtliche Regelung und formale Logik

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Lothar Philipps, Rechtliche Regelung und formale Logik, in: Jusletter IT 5 October 2011
Was bedeuten Regeln und Ausnahmen in der Welt der Normen? Jedenfalls nichts Statistisches! Vielmehr siedeln sie in einer tiefliegenden Schicht der Logik. Die Strukturen sind die gleichen wie im vorhergehenden Text dargestellt, diesmal aber nicht mit dem Modell eines Streitgesprächs begründet, sondern ontologisch und auf der Grundlage der «intuitionistischen Logik». Heute (2011) mag eine persönliche Anmerkung erlaubt sein. Ich wurde seinerzeit (1964) gedrängt, zu widerrufen und den Aufsatz wegen «grober logischer Fehler» zurückzuziehen. Es sei dafür gesorgt, dass in der fälligen Ausgabe des ARSP ein Platz für meinen Widerruf freigehalten sei; das Grab war also schon ausgehoben.
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Eine in der Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto veröffentlichte Bibliographie juristischer Logik1 weist eindrucksvoll die wachsende Bedeutung aus, die die mathematische Logik für die Theorie des Rechts gewinnt. Noch ist freilich der Anteil dieser Arbeiten sowohl an der Entwicklung der modernen Logik als auch an der Fortbildung der Rechtstheorie vergleichsweise gering. Vielleicht lässt sich aber schon erkennen, dass juristische Theorie und mathematische Logik etwas Tieferes gemeinsam haben als ihre Erfolge: einige Fragen, die sich an ihre Grundlagen richten.
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Die klassische mathematische Logik ist seit längerem Angriffen ausgesetzt, die auch für den Juristen sehr bedenkenswert sind. Der sog. Intuitionismus wirft dieser Logik vor, daß sie auf der Ontologie einer an sich seienden fertigen Welt gegründet sei.2 Nur hierdurch sei ihre Grundannahme gerechtfertigt, dass alle Aussagen entweder wahr oder falsch seien. Gebe man die ontologische Voraussetzung auf, so werde auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten gegenstandslos. Nichts veranlasse uns dann nämlich weiterhin, Aussagen, von denen sich nicht entscheiden lässt, ob sie wahr oder falsch sind, als «an sich» entweder wahr oder falsch anzusehen. Von der Wahrheit oder Falschheit von Sätzen zu sprechen, sei dann nur noch insofern sinnvoll, als sie sich effektiv herleiten lasse.
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Ganz ähnliche Fragen der Vorgegebenheit oder Positivität, der Geschlossenheit oder Lückenhaftigkeit des Systems sind auch in der Rechtstheorie umstritten, und sie sind hier nicht minder wesentlich. Diese Ähnlichkeit mag auf zufälligen Gründen beruhen – wir wollen dem hier nicht nachgehen –: sobald man jedoch den logischen und den juristischen Gedankenkreis miteinander verbindet, wird sie zu einem Problem, dem man sich stellen muß. Gesetzt nämlich, die Ansicht des Intuitionismus wäre richtig, dann erhebt sich die Frage: Kann man eine Logik, die an die Annahme einer an sich seienden, fertigen Welt gebunden ist, auf das Recht anwenden, wenn es nicht vorgegeben, sondern positiv gesetzt ist, und wenn seine Regelungen nicht geschlossen, sondern lückenhaft und unfertig sind?
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Die Möglichkeit, das intuitionistische Problem auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten zu konzentrieren, macht die im Ursprung philosophischen Differenzen in der Mathematik in einem Maße greifbar und kontrollierbar, wie es in der Rechtstheorie bis heute nicht erreicht ist. Es fragt sich daher weiterhin, ob der Satz vom ausgeschlossenen Dritten dasselbe auch für die Jurisprudenz zu leisten vermag.
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Von den Arbeiten zur juristischen Logik ist die Logik des Rechts vonRUPERT SCHREIBER3 wohl am weitesten auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten eingegangen. Es ist dies eine Schrift, die gemäß ihrem Titel versucht, das Zeichenspiel des Kalküls unmittelbar aus der Begriffswelt des Rechts zu deuten, ohne erst den Umweg über die allgemeine, am Gegensatzpaar von wahr und falsch orientierte Logik zu nehmen. Dieser Gedanke einer konsequent rechtlichen Deutung des Logikkalküls führt den Verfasser zu der These, daß man Sätze aufstellen könne, die allein aus logischen Gründen und unabhängig von einer gegebenen Rechtsordnung «rechtens» seien. Logisch rechtens, aus der Logik heraus eine Rechtsnorm, sei beispielsweise der Satz: «Die Verfasser von Dissertationen über die Logik des Rechts werden relegiert oder sie werden nicht relegiert»4 .
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Dem Leser wird dieses Beispiel des Verfassers einer solchen Dissertation vielleicht trivial vorkommen; es fragt sich jedoch, ob es nicht falsch ist. Zwar kann man sich von der Richtigkeit des Satzes in den Rechtsvorschriften der Universität überzeugen: man kann in der Disziplinarordnung nachschlagen und sich die Gewissheit verschaffen, dass die Anfertigung einer solchen Dissertation unbedenklich ist. Daher ist der Satz als solcher auch richtig – es fragt sich aber, ob er es aus logischen Gründen ist und nicht einfach deshalb, weil man sich von dem Vorliegen der einen oder der andern Alternative überzeugen kann. Es ist nämlich durchaus nicht ersichtlich, welchen Sinn die Bewertung als rechtens oder nicht rechtens bei Sätzen über einen Sachverhalt haben könnte, der von gar keiner rechtlichen Regelung erfasst ist. In einem solchen Falle wird offenbar die These, dass notwendig das eine oder das andere gelte, hinfällig. Es scheint hiernach, als gingeSCHREIBER von der unausgesprochenen Voraussetzung aus, dass das Recht ein lückenloses System bilde, in dem von jedem möglichen Sachverhalt bestimmt oder doch durch Anwendung gesicherter Interpretationsmethoden bestimmbar ist, ob der Satz, der ihn ausspricht, rechtens ist oder nicht.
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Man wende nicht ein, der Richter könne doch immer nur entscheiden, dass ein Sachverhalt entweder rechtens oder nicht rechtens sei, ein Drittes sei ausgeschlossen. Das ist zwar richtig, der Richter hat von vornherein nur diese beiden Möglichkeiten. Aber es war doch gar nicht der Sinn des angefochtenen Satzes, auszusagen, wie der Richter einen Sachverhalt bewerten kann, zumal da er anerkanntermaßen auch rechtsschöpferisch tätig wird, sondern ob dieser Sachverhalt rechtens ist oder nicht. Und das ist er nur im Rahmen einer bestehenden Regelung.

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SCHREIBERselbst verhehlt nicht, dass er «ein unangenehmes Gefühl» habe, «solche Sätze unter die Rechtsnormen zu zählen». «Zwar wird das Rechtsempfinden gelten lassen, dass eine widersprüchliche Rechtsnorm keine Rechtsgültigkeit besitze, es wird sich aber dagegen sträuben, auch einen Satz wie ‹es ist rechtens, dass die Verfasser von Dissertationen über die Logik des Rechts relegiert oder nicht relegiert werden› als Rechtsnorm anzuerkennen».5 Wenn er dennoch an dieser Ansicht festhalten zu müssen glaubt, so auf Grund der logischen Autorität des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten bzw. des Kalküls, in dem dieser Satz enthalten ist.
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An dem vonSCHREIBER angeführten juristischen Beispiel wird der Gedanke des Intuitionismus überraschend sinnfällig – viel stärker als an Beispielen aus der Welt der natürlichen Dinge.6 Während man hier nämlich «natürlicherweise» davon ausgeht, dass die Dinge und ihre Eigenschaften und Beziehungen an sich sind, so dass gegen den Intuitionismus der Vorwurf einer subjektiv-idealistischen oder positivistischen Umdeutung des natürlichen Seinssinnes der Dinge erhoben worden ist, verhält es sich bei den Regelungen des positiven Rechts anders. Diese sind nicht an sich und von vornherein rechtens, sondern insofern sie der Gesetzgeber als rechtens gesetzt hat. Ein Satz ist dadurch rechtens, dass er von einer positiven Setzung hergeleitet werden kann, und die Annahme, dass etwas, ohne von einer Setzung aus erreichbar zu sein, dennoch an sich entweder rechtens oder nicht rechtens sein könnte, wäre sinnlos, solange man sich in der Sphäre des positiven Rechts hält. Die Forderung, die dem Intuitionismus den Vorwurf des subjektiven Idealismus eingetragen hat, dass bei allen Erkenntnissen der Weg ihrer effektiven Herleitung aufgewiesen werden müsse, erscheint gegenüber der Rechtsfindung aus Rechtssätzen, gegenüber juristischen Erkenntnissen, völlig angemessen und selbstverständlich.SCHREIBER hat mit der klassischen Logik nicht nur die Vorstellung eines geschlossenen Kosmos auf das Recht übertragen, sondern auch die Voraussetzung, dass die Normen in ihm an sich seien. Es ist nicht ohne Reiz, zu sehen, wie aus dem abstrakten Kalkül Ansprüche erwachsen, die höchstens von einem perfekten Naturrecht erfüllt werden könnten. Dieser Vorgang vollzieht sich allerdings ohne die Absicht des Autors, der ausdrücklich die heute herrschende Ansicht vertritt, dass das Recht kein geschlossenes System bilde, sondern lückenhaft und der Ergänzung durch richterliche Rechtsschöpfung bedürftig sei.7
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Oft wird als grundlegende Bestimmung der Rechtslogik die Wertung als «erlaubt» oder «unerlaubt» eingeführt, womit sich dann die Annahme verbindet, dass eine Handlung, die nicht erlaubt ist, unter ein Verbot falle, und umgekehrt.8 GARCIA MAYNEZ macht die bemerkenswerte Einschränkung, dass das jedenfalls dann gelte, wenn das Verhalten überhaupt «juristisch geregelt» sei,9 also in einer geschlossenen Regelung. Es lässt sich jedoch zeigen, dass, entgegen dem ersten Anschein, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten auch in einer geschlossenen Regelung versagt, weil ihm die Positivität, die Gesetztheit der Regelung widerstreitet, während die intuitionistische «effektive» Denkweise, indem sie von dem logischen An-sich, absieht, eine «Logik des positiven Rechts» zu begründen vermag:
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Das Recht hat eine eigentümliche Weise der Regelung: Rechtssätze sind im Unterschied zu Naturgesetzen nicht von allgemeiner, sondern von grundsätzlicher Natur: sie rechnen mit Ausnahmen. Die Möglichkeit der Ausnahme widerspricht nicht der Geschlossenheit einer Regelung, denn die Regel füllt den gesamten Bereich außerhalb der Ausnahme. Wird eine Ausnahme gesetzt, weicht die Regel vor ihr zurück; wird sie aufgehoben, schließt sich die Lücke. Abschließend sagt daher erst die Ausnahme, wie weit die Regel gilt. Ob jemand gegen einen anderen eine Forderung hat, bestimmt sich abschließend danach, ob dieser ihm keine Einwendung entgegensetzen kann; ob das Strafrecht eine Handlung verbietet letztlich danach, ob sie nicht ausnahmsweise gestattet ist; ob umgekehrt ein Grundrecht eine Handlung erlaubt, ergibt sich nicht zuletzt daraus, ob das Strafrecht sie nicht verbietet. Selbst die in jüngster Zeit vielberufenen «Leerformeln» im Recht10 kehren doch eine ihrer Auslegungsmöglichkeiten als die regelhafte hervor: Wenn etwa der Gleichheitssatz nicht mehr besagt, als dass Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln sei, so bedarf doch eine Ungleichbehandlung als Ausnahme der Begründung, die Gleichbehandlung aber nicht. Ebenso erkennt jede Berufung auf dieclausula rebus sic stantibus den grundsätzlichen Vorrang despacta sunt servanda an.11 Schon im fast ungeformten Grundstoff des Rechts findet man also die Struktur, dass sich ein Grundsatz, sich selbst bewahrend, für Ausnahmen offenhält.12
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Wenn wir nun versuchen, das Verhältnis von Erlaubnis und Verbot zu formulieren, so müssen wir es uns in Gestalt von Regel und Ausnahme vergegenwärtigen, um die Wirklichkeit rechtlicher Regelung zu treffen. Die Gegenüberstellung lässt sich auf das Äußerste vereinfachen, wenn wir von einer Individualisierung der betroffenen Handlungen absehen und als Beispiel den «allgemeinen negativen Grundsatz» wählen: «Was nicht verboten ist, ist erlaubt (haftungsfrei).» Ob ein solcher Grundsatz, der die Geschlossenheit der gesamten Rechtsordnung zur Folge hätte, für das geltende Recht anzunehmen ist, wird heute überwiegend bezweifelt;13 er interessiert uns hier auch nur als einfachstes Modell für die normative Regel-Ausnahme-Struktur.

Was nicht verboten ist – das ist erlaubt.

Im Modus tollens ergibt sich daraus:

Was nicht erlaubt ist – das ist nicht nicht verboten.

Wenn man auf die dann-Komponente dieser Regel den Satz von der doppelten Negation anwendet, so erhält man:

Was nicht erlaubt ist – das ist verboten.
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Damit hätte man aber aus dem «liberalen» Grundsatz sein genaues Gegenteil hergeleitet, sozusagen den «autoritären» Grundsatz. Man denke an das alte Scherzwort: «In England ist alles erlaubt, was nicht verboten ist; in Deutschland ist alles verboten, was nicht erlaubt ist.»
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Zwei Welten würden zusammenfließen in eine Tautologie: dass was nicht verboten ist, erlaubt ist, und, was nicht erlaubt ist, verboten ist. Gleichgültig, welche der beiden extremen Regelungen als «positiv gesetzt» angenommen wird: die andere folgt logischerweise nach, und welches positive Setzung und welches logische Konsequenz ist, lässt sich dann nicht mehr ausmachen.

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Nichts gegen die NormWas nicht erlaubt ist – das ist verboten , aber sie muss als Ausnahme dem liberalen Grundsatz entgegengesetzt sein, sie darf sich nicht – wie nach klassischer Logik zwingend – aus ihm herleiten lassen, wie es über den Satz von der doppelten Negation geschieht. Das ist eben das Besondere an der intuitionistischen Logik: der Satz von der doppelten Negation findet hier keine Anwendung, ebenso wenig wie der Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Deshalb kann der liberale Grundsatz in seiner Eigenheit bestehen bleiben und der autoritäre Grundsatz auch, und das gilt auch für das Regel/Ausnahme-Verhältnis in spezielleren Rechtssätzen. Ob jemand eine Sache besitzen darf, es sei denn ein anderer ist berechtigt, sie herauszuverlangen, oder ob dieser sie herausverlangen darf, es sei denn, der andere ist berechtigt, sie zu besitzen, das bedeutet für die Beteiligten einen erheblichen Unterschied. Und im Strafrecht: Die Tatbestandserfüllung «indiziert die Rechtswidrigkeit», solange bis ein Rechtsfertigungsgrund dargetan wird. Wenn die Logik über solche Rangunterschiede hinwegsehen müsste, wäre sie zur Erfassung rechtlicher Regelungen wenig geeignet. Wo nicht erst seit dem Nibelungenlied die Frage zu stehen pflegt, wer zuerst durch die Tür gehen darf, wäre ihre stete Antwort: nicht beide zugleich.
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Dementsprechend versucht man zuweilen, die scheinbare Möglichkeit der Egalisierung für die Gesetzesauslegung nutzbar zu machen, indem sich der Interpret auf die «logische» Gleichwertigkeit von Regel und Ausnahme beruft, um dann aus der «Natur der Sache» oder einer besonderen Werterkenntnis heraus die entgegengesetzte Verteilung der Gewichte vorzunehmen. Sehr lehrreich in der Bündigkeit der Durchführung ist die dem vorherrschenden Gerichtsgebrauch entsprechende Interpretation des § 348ZPO im Kommentar vonBAUMBACH-LAUTERBACH (27. Aufl.): § 348 ZPO: «Zur Vorbereitung der Entscheidung des Prozessgerichts ist jede Sache zunächst vor dem Einzelrichter zu verhandeln... Es kann jedoch nach Bestimmung des Vorsitzenden hiervon abgesehen werden, wenn eine Vorbereitung nach den Umständen nicht erforderlich erscheint.» Dazu die Kommentierung: «Wie Satz 2 ergibt, steht die Bestellung eines Einzelrichters trotz der befehlenden Fassung von Satz 1 im sachgemäßen Ermessen des Vorsitzenden. (Die vorübergehende – Entdeckung der Gleichwertigkeit von Satz und Gegensatz. Nun kann die Umkehrung beginnen:) Nur (!) wo eine Vorbereitung der mündlichen Verhandlung durch einen Einzelrichter erforderlich scheint, hat er einen solchen zu bestellen. Besser gesagt (!!), er hat ihn nur zu bestellen, wo das zweckmäßig ist.»
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Dazu gehört auch der Wandel in der Auslegung des § 48 EheG a.F.: ob, nach Zerrüttung der Ehe und dreijähriger Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft, der Einspruch gegen das Scheidungsbegehren des schuldigen Ehegatten grundsätzlich beachtlich sei oder nicht. Vgl. die Entwicklung der Rechtsprechung vom Reichsgericht (Bd. 160, S. 144): grundsätzlich unbeachtlich, ausnahmsweise beachtlich – über den Obersten Gerichtshof der Brit. Zone (NJW 48, S. 472), vorübergehende Gleichwertigkeit: «Diese Frage hat der Richter nach sittlichen Maßstäben zu entscheiden. . . ohne dass das Gesetz ihm eine positive Regelung. . . in die Hand gibt» (!) – bis zum Bundesgerichtshof (Bd. 18, S. 17): grundsätzlich beachtlich: «Diese Auslegung des Gesetzes wird nicht nur durch dessen Wortlaut gefordert (!!), sie verdient auch aus sittlichen Erwägungen den Vorzug.»
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Überhaupt neigt die Dogmatik dazu, in der Differenz von Regel und Ausnahme ein bloßes Stück Technik des Gesetzgebers oder des Richters zu sehen, etwas Handwerkliches oder Prozessuales, ohne eigenen rechtlichen Gehalt und logisch suspekt. «Ein nur prinzipiell verbotenes, exzeptionell jedoch erlaubtes Verhalten gibt es nicht», schreibtARTHUR KAUFMANN .14 UndVON MANGOLDT-KLEIN , Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1957, Vorbem. XV 1 b, S. 122: «Mit dem Ausdruck Schranken der Grundrechte usw. verbindet sich bei natürlicher vordergründiger Betrachtungsweise die Vorstellung, dass hier die Grundrechte. . . eingeschränkt (relativiert) werden. Nach den Gesetzen kann es jedoch eine solche Beziehung von Aufstellung und Einschränkbarkeit von Grundrechtsbestimmungen nicht geben. Es gibt nach reiner Logik keine Schranken der Grundrechtsbestimmungen, sondern nur Begriffe derselben.» Wenn man unter «reiner Logik» «klassische Logik» versteht – und wie könnteMANGOLDT-KLEIN etwas anderes darunter verstanden haben! – hat der Kommentator Recht.
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Doch es scheint ein sprachliches Problem zu bleiben: Sowohl bei der Prävalenz des Erlaubtseins (z.B. bei den Grundrechten) wie bei der Prävalenz des Verbotenseins (wie im Strafrecht) haben wir geschlossene Systeme: Alles was nicht verboten ist, ist erlaubt – bzw. alles was nicht erlaubt ist, ist verboten. Diese Geschlossenheit müsste man durch ein Oder ausdrücken können. Die Umgangssprache kann das in der Tat, doch dies Oder ist etwas anders als das in der Logik übliche. Um ein Beispiel aus der dem Recht verbundenen Gegenwelt zu nehmen: Wenn der romantische Räuber mit vorgehaltener Pistole fordert: «Geldoder Leben!», so lässt er keinen Zweifel daran, dass er ein Drittes, etwa das unbehelligte Entkommen, ausschließen will. Und dennoch stehen seine Forderungen nicht auf derselben Ebene einer Alternativ. Das «oder», das er meint, ist das «sonst»: «Sonst nehme ich dir das Leben!», und dieses «sonst» ist im Unterschied zum gewöhnlichen «oder» nicht umkehrbar. Ebenso verhält es sich mit den Rechtssätzen. Bei einer Weiterbildung der juristischen Logik wäre es ratsam, ein eigenes logisches Zeichen einzuführen, das in der einen Richtung als «sonst» gelesen werden könnte, und in der andern als «es sei denn, dass...».
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Die logische Legitimierung des Regel-Ausnahme-Struktur im Recht ist alles andere als selbstverständlich. Dass etwas «grundsätzlich» verboten sei oder erlaubt, «es sei denn dass» ein «Ausnahmefall» vorliege, ist jedoch die tägliche Rede des Juristen, bei «natürlicher, vordergründiger Betrachtungsweise» wie es beiVON MANGOLDT-KLEIN heißt. Es ist jedoch richtig, dass diese «Natürlichkeit» problematisch wird, wenn man sie logisch betrachtet; denn in die klassische Logik passt sie nicht hinein. Daher gibt es in der Dogmatik eine Tendenz, nach getaner juristischer Arbeit das gewonnene Ergebnis dahingehend zu vertiefen, dass es logisch gesehen von Anfang an dagewesen sei: das Grundrecht schon vor seinen Schranken beschränkt, und die in Notwehr begangene Tötung von vornherein erlaubt. Aus der vermeintlichen logischen Notwendigkeit, Regel und Ausnahme zugleich und an sich zu denken, folgt das Dilemma, sie entweder in ihrer Gegensätzlichkeit bestehen zu lassen, oder aber die Ausnahmen gleich in die Regel hineinzuinterpretieren, um zu der Vorstellung einer von vornherein nur in der Zone außerhalb der Ausnahmen, der «negativen Tatbestandsmerkmale» angesiedelten Norm zu gelangen. Den ersten, durch den Satz vom Widerspruch verbotenen Weg zu gehen, wirft diese Theorie der Gegenansicht vor, sie selbst wählt den zweiten15 . Was sie auf diesen Weg führt, ist etwas anderes als ein logischer Irrtum: Es ist die Logik und Ontologie der «natürlichen Welt», von der sie sich leiten lässt und die sie auf das Recht überträgt, und sie erweist sich darin als ein Stück Naturrecht, im Grunde nicht anders als die LehreSCHREIBER s, wo dieser Zug ganz unverhüllt hervortritt. Wenn es aber zutrifft, dass man ein Verhalten, das von keiner rechtlichen Regelung erfasst ist, sinnvollerweise weder rechtens noch nicht-rechtens, weder erlaubt noch verboten nennen kann, so kann man es auch weiterhin nur nach Maßgabe seiner effektiven Erfassung als verboten oder erlaubt bezeichnen, und diese erfolgt von der Ausnahme her. Es wird in der Welt Bereiche geben, wo das Zugleich und Ansich der klassischen Ontologie legitimer ist als das Nacheinander effektiver Herleitung. Aber der besonderen Welt des Rechtes ist dieses besser angemessen, weil es dem realen Gang von Rechtsetzung und Rechtsfindung entspricht.16



Lothar Philipps ist Professor emeritus für Strafrecht, Rechtsinformatik und Rechtsphilosophie an der Ludwig Maximilians Universität München.

loth@jura.uni-muenchen.de

Dieser Text ist erstmals erschienen in:
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1964 (Bd. 50), 317–329


  1. 1 CONTE , Bibliografia di Logica Giuridica 1936–1960,Rivista Bd. 38 (1961), S. 120 ff., Bd. 39, 5. 15 ff.; dazu der Aufsatz vonBOBBIO , «Diritto e Logica», Bd. 39, S. 8 ff.
  2. 2 Vgl.HEYTING , Intuitionism, An Introduction, Amsterdam 1956, S. 1 ff. So aber auchHASENJÄGER als dezidierter Vertreter der klassischen mathematischen Logik: Einführung in die Grundbegriffe und Probleme der modernen Logik, Freiburg 1962, S. 29 ff.
  3. 3 Berlin 1962.
  4. 4 a.a.O., S. 65 f.
  5. 5 a.a.O., S.66. Hervorhebung von mir.
  6. 6 SchonHEYTING , a.a. 0., S. 10, vermutet, dass die intuitionistische Logik weniger in den Naturwissenschaften als in den Geistes- und Sozialwissenschaften Bedeutung gewinnen werde.
  7. 7 S. 1, S. 88. – vgl. zu diesen Fragen im übrigenLARENZ , Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin 1960, S. 273 ff.
  8. 8 Vgl.GARCIA MAYNEZ , «Die höchsten Prinzipien der formalen Rechtsontologie und der juristischen Logik», Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 45, S. 193 ff.

    Hierher zahlt vor allem auch der Versuch, Erlaubnisse und Verbote aus der «normativjuristischen» Interpretation der Modalitäten – möglich/erlaubt, unmöglich/verboten – zu begreifen: u.E. der überzeugendste Weg der Begründung einer normativen Logik. Vgl.VON WRIGHT , An Essay in Modal Logic, Amsterdam 1951, insbes. S. 36 ff.;BECKER , Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim a. Glan 1952, insbes. S. 40 ff. –VON WRIGHT hat später durch eine Modifikation seines Systems auch die Eigenart positiver Normsetzung auszudrücken versucht, und zwar durch die Unterscheidung «starker» und «schwacher» Negation: ein Weg, der sich in manchem mit den Ausführungen des Textes berührt, aber doch in eine wesentlich andere Richtung geht: «On the Logic of Negation», Helsinki 1959, Societas scientiarum fennica, Commentationes physico-mathematicae XXII, 4. Vgl. auchTAMMELO , «On the Logical Openness of Legal Orders», The American Journal of Comparative Law, VIII, 1959, 5. 187 ff.TAMMELO deutet bereits an, dass eine Logik ohne das tertium non datur für die Erfassung des Rechts möglicherweise geeigneter sei als die klassische Logik. A.a. 0., S. 203, Anm. 48.
  9. 9 a.a.O., S.194.
  10. 10 Vgl.TOPITSCH , «Über Leerformeln», in: Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift für Victor Kraft, Wien 1960, S. 233 ff.
  11. 11 Man braucht sich nur vorzustellen, dass jemand dempacta sunt servanda statt derclausula rebus sic stantibus ein «Verträge sind nichts als Fetzen Papier» entgegenhält. Damit erkennt er die Ordnung des Vertrages auch im Grundsatz nicht an, sondern negiert sie. Seine Motive mögen dieselben sein, seine Gesinnung vielleicht ehrlicher; als Rechtsgenosse ist er untauglich. Grundsätze von der Allgemeinheit des pacta sunt servanda sind zwar so gut wie inhaltsleer, wichtiger als der Inhalt ist jedoch die disziplinierende, Ordnung stiftende Kraft solcher Leerformeln des Ranges. – Vgl. auch ESSER, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956, S. 7.
  12. 12 Ja selbst im vorrechtlichen Bereich gibt es das Regel-Ausnahmeverhältnis. Bemerkenswert hierfür sind die Beispiele, dieM.E. MAYER für die von ihm sogenannten Kulturnormen anführt (Rechtsphilosophie, Berlin 1933, S. 39 Anm.): «Du sollst nicht lügen. Wenn sich Besuch melden lässt, darfst du nicht wahrheitsgemäß sagen lassen, du wünschest in der Arbeit nicht gestört zu werden, wohl aber wahrheitswidrig, du seiest nicht zu Hause. – Du sollst Tiere nicht quälen. Du darfst Füchse mit der Meute hetzen und Treibjagden auf Hasen veranstalten, darfst Reihern die Federn ausreißen (für Damenhüte) und Gänse mästen.»
  13. 13 Vgl.LARENZ , a.a. 0., S. 285. Vgl. zur Frage des neg. Grundsatzes weiterhinTAMMELO , a.a. 0., S. 190.
  14. 14 «Zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen», Juristenzeitung 1954, S. 655.
  15. 15 Kaufmann, a.a.O.
  16. 16 Dem Aufsatz sei noch der Hinweis angefügt, dass eine intuitionistische Rechtslogik inzwischen auch von anderen vertreten wird; vgl. Haeusler et al.: Using Intuitionistic Logic as a Basis for Legal Ontologies.http://legalinformatics.wordpress.com/2010/08/11/