Jusletter IT

Potenziale des Prozesskettenansatzes im B2-Kontext – Anwendungserfahrungen und Perspektiven

  • Authors: Peter Schilling / Sirko Schulz / Martin Brüggemeier
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Wissensbasiertes Prozessmanagement in Verwaltungsnetzwerken
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: Peter Schilling / Sirko Schulz / Martin Brüggemeier, Potenziale des Prozesskettenansatzes im B2-Kontext – Anwendungserfahrungen und Perspektiven, in: Jusletter IT 24 February 2011
Um die Unternehmen bei ihren vielfältigen Verwaltungskontakten zu entlasten, wird im Rahmen von E-Government-Strategien ein «Prozesskettenansatz» (PKA) verfolgt. In der Anwendung birgt dessen grenzüberschreitende Prozessorientierung zwar Vorteile aber auch Risiken. Letztere können reduziert werden, wenn bei der Gestaltung dem Autonomieanspruch der Beteiligten sowie einer ganzheitlichen Daten- und Produktorientierung Rechnung getragen wird.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung
  • 2. Der Prozesskettenansatz
  • 3. Nutzung des Prozesskettenansatzes: «Lessons learned»
  • 3.1. Lose statt enge Kopplung
  • 3.2. Leistungen bzw. (Zwischen-)Produkte abgrenzen
  • 3.3. Prozessorientierung mit Datensicht verbinden
  • 4. Fazit

1.

Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung ^

[1]
Das Thema «Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung» gewinnt seit einigen Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Kontext an Bedeutung. Im Mittelpunkt steht dabei die Erschließung des durch E-Government eröffneten organisatorischen Gestaltungspotenzials für die Umsetzung von Strategien zum Bürokratieabbau bzw. zur Reduktion des insgesamt erforderlichen Aufwandes im Verwaltungsvollzug.1
[2]
Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden die Erfahrungen mit der Anwendung des Prozesskettenansatzes reflektiert, die bei der Durchführung des vom deutschen Bundesministerium des Innern geförderten Projektes «Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung – Los 3: Informations- und Meldepflichten für Arbeitgeber»2 gesammelt wurden. Auf dieser Basis werden grundlegende «Lessons Learned» beschrieben, deren Kenntnis einen praktischen Nutzen für ähnliche laufende oder zukünftige Projekte verspricht.

2.

Der Prozesskettenansatz ^

[3]
Der Begriff «Ereignisgesteuerte Prozesskette» (EPK) bezeichnet in der Informatik eine der klassischen Methoden zur Prozessmodellierung. Im Kontext von E-Government hat in den vergangenen Jahren ein hiervon abweichendes Verständnis von «Prozessketten» Verbreitung gefunden.3 Diesem Verständnis nach entsteht eine Prozesskette durch eine Verknüpfung von unterschiedlichen Prozessen zu einem Prozessbündel. Ursprünglich wurde der Begriff nur für den Bereich der elektronischen Optimierung von Interaktionen zwischen Unternehmen und Verwaltungen verwendet (B2G): «Für diese organisationsübergreifenden und integrierten Kommunikations- und Austauschprozesse hat sich inzwischen der Begriff `Prozessketten´. etabliert».4 In jüngster Zeit ist jedoch immer häufiger auch im G2G-Bereich von «Prozessketten» die Rede.
[4]
Im Kontext von E-Government handelt es sich beim Prozesskettenansatz nicht um eine elaborierte Methode und auch nicht um ein wissenschaftlich fundiertes Konzept.5 Der Prozesskettenansatz erfüllt eher die Funktion einer methodischen Perspektive mit verwaltungspolitischem Leitbildcharakter im Rahmen von E-Government-Strategien.
[5]
In dieser Funktion weist der Prozesskettenansatz einige wichtige Vorteile auf. Die Analyse und Gestaltung von «Prozessketten» kann dazu beitragen, dass ein prozessorientiertes E-Government nicht auf eine intraorganisatorische (Einzel-)Prozessperspektive beschränkt bleibt, sondern übergreifende Prozesszusammenhänge thematisiert werden. Statt einer Kostenüberwälzung von Unternehmen auf die Verwaltung kann so eine den politisch-regulatorischen Absichten Rechnung tragende Optimierung des Gesamtsystems von B2G-Transaktionen angegangen werden.6
[6]
Allerdings ist zu beachten, dass bei der Gestaltung von B2G-Prozessketten – anders als im E-Business (B2B) – nicht nur Organisations-, sondern auch Sektorgrenzen zu überwinden sind. Hieraus resultieren unterschiedliche, nur bedingt anschlussfähige Interessen, Handlungsrationalitäten und Semantiken der beteiligten Partner. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass bei B2G-Prozessketten sowohl die Unternehmen als auch die Verwaltungen auf eine unbedingte Daten- und Gestaltungshoheit auf ihrem jeweils eigenen Terrain bestehen.7

3.

Nutzung des Prozesskettenansatzes: «Lessons learned» ^

3.1.

Lose statt enge Kopplung ^

[7]
Die Prozesskettenperspektive legt eine enge Kopplung der Prozesse nahe, um die Optimierungspotenziale für die gesamte Prozesskette bestmöglich auszuschöpfen. Auf diese Weise droht man in diverse «Kopplungsfallen»8 zu stolpern. Bei einer engen Kopplung sind Widerstände und Akzeptanzprobleme vorprogrammiert. Es empfiehlt sich daher, sich bei der Gestaltung grenzüberschreitender Prozessketten am Prinzip der losen Kopplung zu orientieren.9 Konkret bedeutet dies, dass sich die Gestaltungseingriffe und die Vorgabe verbindlicher Standards möglichst auf die Schnittstellen beschränken sollten. Hierdurch führen auch asynchrone Veränderungsgeschwindigkeiten bei den beteiligten Partnern nicht zu einer Modernisierungsblockade. Das Change Management kann an konkrete Kontextbedingungen angepasst werden. Lose Kopplung reduziert Abhängigkeiten. Die Unternehmen müssen innerhalb der Prozesskette lediglich die Schnittstellen vereinheitlichen. Die internen Prozesse sind nicht notwendigerweise betroffen. Dennoch können die Potenziale der prozesskettenweiten Standardisierung realisiert werden. Organisationsspezifische, individuelle Optimierungsstrategien und flexible Anpassungen auf Seiten der Unternehmen oder der öffentlichen Empfangsstellen bleiben durch Kapselung von Prozessen bzw. Prozessmodulen ohne Konsequenzen für die gesamte Prozesskette möglich und Störungen bleiben lokal begrenzt. Damit sinken einerseits die Kosten für die Pflege und die Änderung der Anwendungen und es reduziert sich andererseits auch der «Preis» für die Bereitschaft zur interorganisatorischen und intersektoralen Kooperation, da sich die Autonomieverluste in Grenzen halten. Hinzu kommt, dass eine Vereinheitlichung auf Unternehmensseite schon deshalb problematisch ist, weil eine allgemein festgelegte Prozesskette eine Vielfalt von unterschiedlichsten Anforderungen aus unterschiedlichen Branchen und von Unternehmen unterschiedlichster Größen abdecken müsste.

3.2.

Leistungen bzw. (Zwischen-)Produkte abgrenzen ^

[8]
Es ist im Falle der ganzheitlichen Betrachtung notwendig, sich auf das Grundprinzip der Prozessorientierung zu besinnen: die Produktorientierung, aus der dann die Prozessketten abgeleitet werden. Die Produktorientierung ist der Schlüssel zu einer systematischen, ganzheitlichen Betrachtung mehrerer Prozessketten zum Zweck einer prozessketten-übergreifenden Optimierung. Der Zusammenhang wird über die «Verwandtschaft» der Produkte bzw. Leistungen erkennbar, die von den verschiedenen Prozessen erzeugt werden. Er wird gebildet durch gemeinsame Produkte oder Teilprodukte («Baugruppen»); d.h. im Falle von Informationspflichten sind die in den unterschiedlichen Prozessen erzeugten Produkte bzw. Leistungen die jeweiligen Meldungen (Informationen). Die Analyse der in den unterschiedlichen Meldungen enthaltenen Informationen oder Informationsbestandteile oder deren Aggregationen macht die systematische Verbindung zwischen verschiedenen Meldeprozessketten erkennbar. Diese Analyse der in den verschiedenen Meldungen erzeugten «Produkte» eröffnet also die Möglichkeit, zu einer einheitlichen Sicht auf verwandte Prozesse oder Teilprozesse zu gelangen. Prozesse können dann grundlegend verändert und ggf. ganz oder teilweise zusammengefasst werden. Dies gilt besonders auf der Seite des Unternehmens bei der Erstellung der verschiedenen Meldungen, aber auch auf Verwaltungsseite bringt die «Verwandtschaftsanalyse» die Chance, nutzbare Synergien zu erkennen. In einem nächsten Analyseschritt sind die Produkte bzw. Teilprodukte auf Restrukturierungsbedarf hin zu überprüfen. Schließlich werden, ausgehend von den verbleibenden Produkten, die (Teil-) Prozesse neu konzipiert mit dem Ziel, sie unabhängig von den ursprünglichen Einzelprozessen in einer ganzheitlichen Sicht zu optimieren und sie ggf. auch auf unterschiedliche «Produzenten» bzw. «Abnehmer von Teilprodukten» neu zu verteilen.

3.3.

Prozessorientierung mit Datensicht verbinden ^

[9]
Der Fokus des PKA auf die Auswahl und Priorisierung zu optimierender Prozessketten wird auch durch die Produktorientierung nicht zwangsläufig überwunden. Die Analyse und Gestaltung der B2G-Transaktionen muss zielbezogen und ganzheitlich, d.h. nicht mit einer Verengung des Blickes auf die einzelne Prozesskette, thematisiert werden. Aus der Interessenperspektive des Unternehmens darf sie vor allem nicht auf eine einzelne Sender-Empfänger-Beziehung verengt werden, sondern muss alle Prozessketten zu allen Prozesspartnern berücksichtigen, soweit sie «Verwandtschaften» hinsichtlich Inhalt (Datenbasis) oder Fachgebiet aufweisen. Dies gilt insbesondere für im Unternehmen verfügbaren Daten; diese sind die Produktionsressourcen, die zur Durchführung der Prozessschritte erforderlich sind, die im Ergebnis zur Erstellung einer Meldung führen. Diese Ressourcen werden aber häufig mehrfach für verschiedene Meldungen benötigt.10 Das gesamte Modernisierungspotenzial in den B2G-Interaktionen lässt sich unseres Erachtens daher nur dann erschließen, wenn der den diversen «Produkten» bzw. Leistungen zugrunde liegende «Daten-Rohstoff» analysiert wird.
[10]
Möglich wäre über die reine Datenanalyse hinaus auch eine Verwandtschaftsanalyse auf der Grundlage verwandter Zielsetzungen, die sich nicht unbedingt in Datenähnlichkeit äußern muss. Allerdings wird dieser Aspekt schwerer festzustellen sein, da eine systematische übergreifende Dokumentation der Zielstellungen der einzelnen Vorschrift nach unserer Kenntnis derzeit nicht vorhanden ist.11 Nur die Zielbetrachtung im Kontext aller inhaltlich verwandten Prozesse kann zu einer Gesamtoptimierung führen. D.h., nicht mehr der einzelne Prozess, sondern die Zielerreichung aller verwandten Prozesse wird optimiert; u.a. dadurch, dass einzelne Prozesse ganz überflüssig werden und ihre Ziele ggf. mit anderen Prozessen mit erreicht werden.

4.

Fazit ^

[11]
Die Nutzung der Vorteile des Prozesskettenansatzes setzt voraus, dass man dessen Grenzen kennt und seine Risiken bei der Anwendung vermeidet. Diese bestehen zum einen vor allem in der Überbetonung oder gar Verabsolutierung der Prozessorientierung und -integration. Zum anderen assoziiert bereits der Begriff der (Prozess-)«Kette» Autonomieverluste durch Abhängigkeit und enge Verflechtung. Vor diesem Hintergrund betrachten wir den PKA im hier diskutierten Kontext als ein wichtiges «Übergangsleitbild», das im Rahmen einer Strategie des kooperativen und föderalen E-Government jedoch zunehmend durch Aspekte der Gesamtoptimierung und Zielerreichung, wie sie hier skizziert werden, ersetzt werden sollte. Das ökonomische und verwaltungspolitische Potenzial einer organisations-, verwaltungsebenen- und sektorübergreifenden, elektronisch vernetzten Zusammenarbeit kann unseres Erachtens nur dann optimal erschlossen werden, wenn eine Infrastruktur entsteht, über die eine Akteurs-, Prozess- und Informationsintegration12 aufautonomieschonende Weise erfolgen kann. Das Leitbild des Netzwerks13 und das Prinzip der losen Kopplung erscheinen uns dafür erfolgversprechender und damit zukunftsweisender zu sein als das der «Prozesskette».



Martin Brüggemeier, Professor, Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, Professur für Betriebswirtschaftslehre und Public Management, Treskowallee 8, 10318 Berlin, DE,martin.brueggemeier@htw-berlin.de ,www.f3.htw-berlin.de/Professoren/Brueggemeier/index.html

Peter Schilling, Professor, Hochschule für Verwaltung und Finanzen (HVF) Ludwigsburg, Informationsmanagement der öffentlichen Verwaltung und Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS),Kaiserin-Augusta-Allee 31, 10589 Berlin, DE,schilling@moderne-verwaltung.de ,http://prof-schilling.moderne-verwaltung.de/index.html

Sirko Schulz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, IfG.CC – The Potsdam eGovernment Competence Center, c/o Universität Potsdam August-Bebel-Straße 89, 14482 Potsdam, DE,sschulz@ifg.cc ,www.ifg.cc


  1. 1 Vgl.Brüggemeier, M./Lenk, K. (Hrsg.), Bürokratieabbau im Verwaltungsvollzug. Better Regulation zwischen Go-Government und No-Government, edition sigma, Berlin (2011) (im Erscheinen).
  2. 2 Vgl.Autorenteam Los 3 , Entwicklung von Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung – Los 3: Informations- und Meldepflichten für Arbeitgeber, Machbarkeitsstudie, Kaiserslautern u.a., zum Folgenden insbesondere Abschnitt 9.1.1, S.183ff.www.cio.bund.de/SharedDocs/Publikationen/DE/E-Government/090213_machbarkeitsstudie_ arbeitgebermeldungen_download.pdf (abgerufen am 08. Januar 11) (2009).Schilling, P./Brüggemeier, M./Eckert, K.-P./Knopp, M./Steffens, P., FRESKO – die effiziente Prozessketten-Verbindung zwischen Unternehmen und Verwaltungen, in:Wimmer, M. et al. (Hrsg.) , Vernetzte IT für einen effektiven Staat, Köllen Verlag, Bonn, S.40-52 (2010); Animation zu FRESKO (7,5 Min.):www.f3.htw-berlin.de/Professoren/Brueggemeier/pdf/CeBIT_FRESKO-Animation_de.swf ;Brüggemeier, M./Schulz, S., Datenpointernetzwerk: Informationsintegration für eine vernetzt arbeitende, transparentere und weniger spürbare Verwaltung der Zukunft, in:Wimmer, M. et al. (Hrsg.): Vernetzte IT für einen effektiven Staat, Köllen Verlag, Bonn, S. 17-28 (2010).
  3. 3 Vgl. z.B. auchWolf, P./Jurisch, M./Krcmar, H. , Analyse und Design von Prozessketten, in:Wimmer, M. et al. (Hrsg.), Vernetze IT für einen effektiven Staat, Köllen Verlag, Bonn, S. 30 (2010).
  4. 4 Rombach, D./Tschichholz, M./Jeswein, T. , Technologische Grundlagen des E-Government, in:Wirtz, B.W. (Hrsg.), E-Government, Gabler Verlag, Wiesbaden, S. 23 (2010).
  5. 5 Im Unterschied beispielsweise zum Konzept «Collaborative E-Government», vgl.Wolf, P./ Krcmar, H. , Collaborative eGovernment, TU München, München (2007); zur Diskussion vgl. auchAutorenteam Los 3 , a.a.O. (Fn.2), S. 183 ff.
  6. 6 Zu einschlägigen Optimierungszielen: vgl.Autorenteam Los 3 , a.a.O. (Fn.2), S. 73ff. u.S. 88 ff.
  7. 7 Vgl. auchWolf, P./Krcmar, H ., a.a.O (Fn. 5), S.2.
  8. 8 Müller, W. , Entkoppelte Prozesse – Maßnahmen zur Stützung der lokalen Autonomie im Zeitalter der elektronischen Zusammenarbeit, in: eGov Präsenz, H. 2, S. 46 (2010).
  9. 9 Vgl. hierzu auchStaehle, W. H ., Redundanz, Slack und lose Kopplung in Organisationen. Eine Verschwendung von Ressourcen?, in:Staehle, W.H./Sydow, J. (Hrsg.), Managementforschung 1, de Gruyter, Berlin/New York, S. 313-345 (1991).
  10. 10 Vgl.Autorenteam Los 3, a..a.O (FN 2), S. 149, S. 283.
  11. 11 Im Umkehrschluss wäre es aber als Nebenprodukt durch die Datenanalyse möglich, Ansatzpunkte für eine systematische Dokumentation der Ziele zu erhalten.
  12. 12 Vgl. hierzuBrüggemeier, M./Dovifat, A./Kubisch, D./Lenk, K./Reichard, C./Siegfried, T., Organisatorische Gestaltungspotenziale durch E-Government. Auf dem Weg zur vernetzten Verwaltung, edition sigma, Berlin, S.75ff. (2006).
  13. 13 Vgl. bezogen auf den Bereich G2G:Lenk, K./Schuppan, T./Schaffroth, M ., Vernetzte Verwaltung. Organisationskonzept für ein föderales E-Government Schweiz, eCH-White Paper, o.O.www.ech.ch (abgerufen am 07. Januar 2011) (2010).