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Rechtsphilosophie und Rechtstheorie als Wissenschaften: Eine Standortbestimmung

  • Author: Günther Kreuzbauer
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2011
  • Citation: Günther Kreuzbauer, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie als Wissenschaften: Eine Standortbestimmung, in: Jusletter IT 24 February 2011
Dieser Beitrag befasst sich mit der wissenschaftlichen Einordnung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie im Kanon der Wissenschaften. Dabei wird zuerst auf die Frage eingegangen, was Wissenschaft und was Philosophie sind. Dann wird versucht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie damit in Beziehung zu setzen und gegeneinander abzugrenzen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Vorbemerkung
  • 2. Wissenschaft
  • 3. Philosophie
  • 4. Rechtsphilosophie
  • 5. Rechtstheorie
  • 6. Zusammenfassung
  • 7. Literatur

1.

Vorbemerkung ^

[1]
Wissenschaftliche Disziplinen und Fächer benötigen von Zeit zu Zeit eine Standortbestimmung. Dies dient der «Scientific Community» zur Evaluierung des Stands und der Richtung der Disziplin bzw. des Fachs, und das gilt insbesondere auch für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, über deren Status und Zielrichtung nach wie vor relativ wenig Klarheit herrscht. Auch heute stellt sich vor allem die Frage, was Rechtsphilosophie und Rechtstheorie überhaupt sind, bzw. wie sie im Kontext der Wissenschaften bzw. der Rechtswissenschaften zu verorten sind. Beim Versuch der Antwortfindung werden hier zunächst die Wissenschaften im Allgemeinen, dann die Philosophie und dann Rechtsphilosophie und Rechtstheorie kurz beschrieben und diskutiert.

2.

Wissenschaft ^

[2]
Was Wissenschaft ist1 , ist nicht ganz einfach zu definieren, jedoch ist es wichtig, sie von den Nichtwissenschaften, insbesondere von den Künsten aber auch von den Pseudowissenschaften, abzugrenzen: Hier wirdWissenschaft als eine Technologie betrachtet, die (in modernen Gesellschaften) die Funktion hat, hochqualitative Informationen über spezifizierte Gegenstandsbereiche zu produzieren, und die ein Lege-Artis-Gebot und die Leitung durch eine Scientific Community beinhaltet.
[3]
Unter einerTechnologie wird hier ein kulturell generiertes, normiertes und dynamisches System für die Produktion, Anwendung und Organisation von Techniken und den Kompetenzen dazu verstanden. Dass die Wissenschaft eineFunktion hat, bedeutet, dass sie die Standardmethode zur Erreichung eines Standardziels ist. Dass dies in derProduktion von hochqualitativen Informationen liegt, bedeutet, dass sie dazu dient, Daten über die Welt zu generieren, die reliabel (d.h. verlässlich), instrumentell effektiv (d.h. geeignet, damit das gesetzte Ziel zu erreichen) und applikabel (d.h. anwendbar) sind. Das Lege-Artis-Gebot beinhaltet einallgemeines Lege-Artis-Gebot , was heißt, dass alles Vorgehen gemäß der vorgegebenen Regeln zu erfolgen hat, und einspezielles Lege-Artis-Gebot , was aus zwei Teilen besteht: demMethodengebot , was besagt, dass die etablierten Methoden einzuhalten sind und demRationalitätsgebot , welches fordert, dass für alles was innerhalb der Wissenschaft getan und gesagt wird, eine rationale Rechtfertigung erforderlich ist. Die materielle Ausgestaltung dieser Gebote und die Überwachung ihrer Einhaltung obliegt derScientific Community , also der Gesamtheit der beteiligten Wissenschaftler/-innen, die das im Wege der offenen diskursiven Selbstorganisation zu organisieren hat.
[4]
Es gibt unzählige wissenschaftliche Disziplinen und viele Möglichkeiten, diese zu kategorisieren. Wir werden hier die einfachstmögliche verwenden, die einerseits am Forschungsgegenstand festmacht, und andererseits an der Methode. Beim Forschungsgegenstand gibt es trivialer Weise folgende Möglichkeiten: die unbelebte Natur, die belebte Natur, die menschliche Natur, die Kultur und Gesellschaft des Menschen und spezielle Produkte des Menschen, sofern sie nicht bereits im Kontext mit der menschlichen Kultur sinnvoll erforschbar sind, wozu insb. die Technik zählt. Es lassen sich zweimethodische Paradigmen unterscheiden, nämlich dierein kognitive Methode (hochqualitatives und regelgeleitetes «Nachdenken») und dieempirische Methode (Forschung durch Auswertung von Daten über die Welt). Die empirische Methode wiederum lässt sich in dieempirische Methode im engeren Sinn und in dieempirisch-hermeneutische Methode unterteilen. Die hermeneutische Methode arbeitet mit Interpretation von textlichen oder textähnlichen Daten, alles andere wird durch die empirische Methode im engeren Sinn erfasst, wobei man hier zwischen reiner Beobachtung, Experiment, human-empirischer Methode (Befragung) und der Analyse vorhandener (nicht-hermeneutischer) Daten (wie z.B. Wirtschaftsdaten) unterscheiden kann. Durch die Kombination von Gegenstand und Methode lässt sich, ohne dies hier näher ausführen zu können, folgendeSystematik der Wissenschaften aufstellen:

  1. Grundlagenwissenschaften: Philosophie und Mathematik;
  2. Naturwissenschaften: Physik, Chemie, Lebenswissenschaften (wozu hier die biologischen Humanwissenschaften [wie z.B. Medizin und Sportwissenschaften] und die Bio-Wissenschaften gezählt werden), Geowissenschaften und Astrowissenschaften;
  3. Kultur- und Sozialwissenschaft: Kulturwissenschaften (was praktisch mit den Geisteswissenschaften identisch ist, und wozu beispielsweise die Geschichtswissenschaft aber auch die Kunstgeschichte zählen) und Sozialwissenschaften (wozu natürlich die Soziologie und die Politikwissenschaft aber etwa auch die Wirtschaftswissenschaften und die Rechtswissenschaften zählen);
  4. Technische Wissenschaften: z.B. Montanwissenschaften, Agrarwissenschaften, Hydrologie;
  5. Beliebige Querschnittswissenschaften: wie insbesondere die Rechtsphilosophie, welche hier aber nicht aufgezählt werden können.
[5]
Wie ersichtlich, werden die Rechtswissenschaften2 in diesem Beitrag als Sozialwissenschaften aufgefasst. Das bezieht sich jedoch nur auf die rechtswissenschaftlichen Leitdisziplinen, die so genanntendogmatischen Fächer , also Bürgerliches Recht und Öffentliches Recht mit ihren jeweiligen Unterdisziplinen inklusiver der dem Öffentlichen Recht zuzuordnenden beiden international orientierten rechtswissenschaftlichen Fächer, Völkerrecht und Europarecht. Sozialwissenschaften sind diese deshalb, weil ihr Gegenstand, also das Recht, ein soziales Phänomen ist. DieMethode der dogmatischen Rechtswissenschaften folgt dabei demempirisch-hermeneutischen Paradigma . Das Forschungsziel liegt in erster Linie in der Erforschung der geltenden Rechtslage, d.h. dass das Forschungsobjekt also Normen sind. In wie weit es hier um bloße deskriptive Modellierung, um Erklärung oder auch um die Evaluierung der Rechtslage geht, ist für die Einordnung der Rechtswissenschaften nicht relevant. Da die Rechtswissenschaften, wie gerade erwähnt, Normen erforschen, werden sie öfters als normative Wissenschaften aufgefasst. Das ist aber nicht berechtigt, weil sie zwar Normen untersuchen, aufgrund mangelnder Rechtssetzungsbefugnis aber selbst keine Normen erzeugen können. Sie sind und bleiben deshalb empirische Wissenschaften.
[6]
Das Bemühen, Wissenschaften in arbeitsfähige Organisationseinheiten zu gliedern, bringt es mit sich, dass an vielen Forschungseinrichtungen bestimmte Leitdisziplinen mit Neben- und Grundlagendisziplinen zusammengefasst werden, so wie beispielsweise an praktisch allen technischen Universitäten bzw. Fakultäten Einheiten (Fachbereiche, Institute usw.) für Mathematik installiert sind. Dies ist auch sinnvoll, weil es die mathematische Kompetenz auf der Ebene zur Verfügung stellt, wo sie benötigt wird und sinnvoll produziert werden kann. Das macht aber aus dem Grundlagenfach der Mathematik noch keine technische Wissenschaft. Genauso ist an Rechtswissenschaftlichen Fakultäten sehr oft auch die Gerichtsmedizin vertreten, ohne dass diese damit eine Sozialwissenschaft werden würde. Ein analoger Fall liegt auch bei der Rechtsphilosophie vor, die praktisch ausschließlich an den Rechtswissenschaftlichen Fakultäten betrieben wird und zum traditionellen Fächerkanon der Rechtswissenschaften gehört. Rechtsphilosophie ist damit aber kein dogmatisches Fach geworden, sondern auf Grund der Tatsache, dass sie philosophische Probleme des Rechts mit philosophischen Methoden erforscht, gehört sie zur Philosophie.
[7]
Man beachte, dass die Rechtswissenschaften hier bis jetzt ohne nähere Begründung als Wissenschaften angesehen wurden. Da dies bekanntlich eine umstrittene Frage ist, soll kurz erwähnt werden, dass sich die Rechtfertigung für diese Einordnung daraus ergibt, dass die Rechtswissenschaften alle hier aufgestellten Kriterien für Wissenschaften erfüllen: Die Rechtswissenschaften sind eine Technologie im Sinne der oben angegebenen Definition und erfüllen ihre Funktion, hochqualitative Informationen über den spezifizierten Gegenstandsbereich «Recht» zu produzieren. Außerdem existiert ein Begriff davon, was lege artis ist und dass dazu Methodengeleitetheit und Rationalität gehören. Schließlich existiert eine Scientific Community, die über all dem wacht. Dass die rechtswissenschaftliche Methode nicht rein empirisch und schon gar nicht quantitativ, sondern empirisch-hermeneutisch funktioniert, ist genauso unproblematisch wie dies etwa auch bei der Geschichtswissenschaft, den Literaturwissenschaften und den Sprachwissenschaft usw. der Fall ist. Dass die rechtswissenschaftliche Rationalitätsauffassung dabei eine andere ist, wie insbesondere in den stark mathematisierten Natur- und Sozialwissenschaften, und dass sie insbesondere stärker topisch orientierte arbeitet3 , ist ebenfalls unproblematisch, denn sonst wären auch weite Teile der organismischen Zoologie, der Botanik und der Geografie keine Wissenschaften und am Ende würde als Wissenschaft nur mehr die Physik übrig bleiben.

3.

Philosophie ^

[8]
Unter den Begriff «Philosophie» lässt sich vieles subsumieren. Uns geht es hier vor allem um die heutigePhilosophie als einer wissenschaftlichen Disziplin , was sich insbesondere auch von der gegenwärtig nicht wissenschaftlich betriebenen Philosophie abgrenzt, welche wohl als eine Art literarischer Kunst anzusehen ist. Philosophie im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin beschäftigt sich mit derErforschung grundlegender, relevanter4 Phänomenenmittels derspezifisch philosophischen (wissenschaftlichen) Methode . Zum Verständnis der gegenwärtigen Philosophie sind ein paar historische Anmerkungen notwendig: Philosophie hat sich ca. 600 v. Chr. in den griechisch besiedelten Gebieten des Mittelmeerraums entwickelt. Ihr zentrales Kennzeichen war die Idee, die Welt mit rationalen Mitteln zu erklären, womit das rein kognitive methodische Wissenschaftsparadigma geboren war. Wie Magie und Religion, die beiden wichtigsten Welterklärungsparadigmen der Menschheit, kennt auch die Philosophie transzendente Phänomene. Im Gegensatz zu ersteren geht die Philosophie aber davon aus, dass die Phänomene der Welt durch Naturgesetze bestimmt werden – was in ihrer Gesamtheit oder einzeln auch als νόμος, λόγος oder lex aeterna bezeichnet wurde. Diese Gesetze sind nicht-kontingent sondern regelmäßig aufgebaut und dem Menschen erkennbar und mittels Rationalität auch verstehbar. Die Magie und Religion innewohnende Idee der relevanten, kontingenten Transzendenz, die davon ausgeht, dass es übersinnliche Phänomene gibt, die mit der menschlichen Lebenswelt willkürlich interagieren können, existiert in der Philosophie nicht. Die hier angenommenen transzendenten Phänomene sind in der Regel abstrakt und allesamt nicht zur direkten Interaktion mit der menschlichen Lebenswelt fähig. In der Tendenz gelangt man so zu einem viel positivistischeren Weltbild und deshalb bedeutet Philosophie gegenüber Magie und Religion auf dem Wege zum heute durchaus einen kulturellen Quantensprung.
[9]
Auch die Philosophie der Antike ist zu einem gewissen Teil bereits als Wissenschaft im heutigen Sinne zu bezeichnen, insb. wenn man an Teile des Werkes vonAristoteles denkt. Viele andere Arbeiten sind zumindest protowissenschaftlich. In der Antike beinhaltete Philosophie viele andere Wissenschaften. Die wichtigste mögliche Ausnahme davon ist die Mathematik, mögliche weitere Ausnahmen, wie Astronomie, Geschichtsschreibung, Rhetorik, Technik usw. können hier nicht weiter diskutiert werden. Damit hatte die antike Philosophie einen wesentlich größeren Gegenstandsbereich als heute. Ab dem Aufkommen der christlichen Theologie wanderten einige Bereiche in diese ab. Der große Einschnitt kam aber erst, als sich ab der Zeitenwende die empirische Methode im engren Sinne entwickelte, und sich praktisch alle Wissenschaftsdisziplinen, die sich dieser Methode zuwandten, von der Philosophie abspalteten. Heute befasst sich die Philosophie nur mehr mit den grundlegendsten Aspekten der Phänomene, alles andere wird von den Einzelwissenschaften erforscht.
[10]
Die rein-kognitiveMethode der Philosophie wiederum hat sich seit der Antike kaum geändert. Ihre wichtigsten Charakteristika sind: (1)Lege-Artis-Erlaubnis der reinen Kognition: Für das Philosophieren ist regelgeleitetes, rationales Nachdenken hinreichend, empirische Forschung beispielsweise ist nicht notwendig (aber auch nicht verboten). (2)Spezifische Spekulationserlaubnis: Bei derFindung philosophischer Erklärungshypothesen ist beim Philosophieren ein höherer Grad an Spekulation erlaubt als bei allen anderen Wissenschaften. Wie weit das gehen kann und muss, ist Gegenstand der Diskussion. Man beachte jedoch, dass diese Spekulationserlaubnis nur für die Findung von Erklärungshypothesen gilt, nicht aber für deren Überprüfung. (3)Verbot der Annahme relevanter, kontingenter Transzendenz: In der wissenschaftlichen Philosophie ist die Annahme von übersinnlichen, willkürlich mit der menschlichen Lebenswelt interagierenden Phänomenen verboten, denn das wäre Magie oder Religion. Die Annahme definitionsgemäß unerklärlicher Phänomene ist nur auf der grundlegendsten Ebene (also nur in Metaphysik und Logik) erlaubt, ansonsten verboten. Schließlich ist es auch verboten, im Moment unerklärte Phänomene a priori (d.h. ohne weitere Nachforschung) als prinzipiell unerklärlich anzusehen, was auch für die abstrakteste Ebene gilt. A posteriori ist das natürlich offen. Die Annahme von Strings ist deshalb philosophisch erlaubt, die Annahme von Hexen und Zauberern nicht. (4)Umfassendes Rationalitätsgebot: Die Regeln der Rationalität, der Logik und der Mathematik sind bei allen Denk, Rechen- und anderen Operationen einzuhalten. Im Speziellen gilt das Gebot der Systematisierung der Erklärungshypothesen durch Theoriebildung und Abstrahierung und das Gebot zur rationalen Überprüfung der Erklärungshypothesen.

4.

Rechtsphilosophie ^

[11]
Rechtsphilosophie lässt sich zwanglos als die philosophische Erforschung des Phänomens «Recht» auffassen. «Recht» ist dabei als «Recht im objektiven Sinn» gemeint, worunter hier ein Normensystem zur Regulierung menschlichen Verhaltens gemeint ist, das folgende Eigenschaften aufweist: (1) es enthält es einen hoch sanktionierten Kernbereich, der die im betreffenden sozialen System relevanten Regelungen der grundlegendsten Lebensbereiche enthält, und (2) es wird von einer hoch institutionalisierten sozialen Instanz gehandhabt.5 Institutionen wiederum werden hier als verbandsmäßige, soziale Organisation verstanden, die sich durch mehr oder weniger hierarchische Gliederung und sozioökonomische Ausdifferenzierung (=Aufteilung von Aufgaben) auszeichnen.6 Wissenschaftstheoretisch gehört die Rechtsphilosophie zur Philosophie, organisatorisch wird sie meist den Rechtswissenschaften zugeordnet. Da Recht als soziales Phänomen anzusehen ist, ist die ebenso übliche Bezeichnung ‚Rechts- und Sozialphilosophie’ eigentlich wesentlich zutreffender, aus Gründen der Vereinfachung wird diese hier aber nicht verwendet.
[12]
Man kann davon ausgehen, dass die Rechtsphilosophie folgende Fächer umfasst:

1. Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft

a) Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft im engeren Sinne (z.B. die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft)
b) Methodologie der Rechtswissenschaft (z.B.: Juristische Interpretation)
2. Rechtstheorie
a) Sozialität des Rechts (inkl. Metaphysik sozialer Phänomene)
b) Normativität des Rechts (=Juristische Normtheorie)
c) Sprachphilosophie des Rechts (inkl. Rechtslogik und Juristische Argumentation)
d) Ideengeschichte der Rechtsphilosophie
e) Spezielle Probleme der Rechtsdogmatik aus rechtsphilosophischer Sicht
3. Rechtsethik
a) Theoretische Rechtsethik
b) Praktische Rechtsethik

5.

Rechtstheorie ^

[13]
In der eben vorgestellten Fächereinteilung findet sich die Rechtstheorie als Teil der Rechtsphilosophie.7 Ob die Rechtstheorie in der Tat eher als Teilsdisziplin der Rechtsphilosophie (Inklusionsthese) oder als eigenständige Disziplin (Trennungsthese) aufzufassen ist, wird kontrovers diskutiert. Für die Beantwortung dieser Frage gibt es drei Anhaltspunkte: (1) die Meinung der Scientific Community, (2) die korrekte materielle Einordnung und (3) die korrekte organisatorische Einordnung der beiden Fächer.

(1) Meinung der Scientific Community: Den ersten Anhaltspunkt gewinnt man, indem man die betroffene Scientific Community befragt. Dabei sind zunächst die beiden wichtigsten Einführungswerke in die Rechtstheorie zu nennen, die gleichzeitig Gesamtdarstellungen der Rechtstheorie sind, nämlich Bernd Rüthers’ und Christian Fischers «Rechtstheorie»8 und Peter Kollers «Theorie des Rechts»9 . Rüthers und Fischer beschränken die Rechtsphilosophie im Wesentlichen auf Fragen der Geltung und Gerechtigkeit des Rechts10 , während sie für die Rechtstheorie einen unfangreichen Themenkanon (siehe dazu unten) angeben, was wohl eher im Sinne einer Fächertrennung zu werten ist. Koller geht auf die Frage des Verhältnisses nicht ein, auch sein Themenkanon (siehe ebenfalls weiter unten) deutet jedoch eher auf Fächertrennung hin. Unter den Einführungen bzw. Gesamtdarstellungen der Rechtsphilosophie gibt es ebenfalls eine nicht geringe Anzahl, in denen zu der hier interessierenden Frage nicht Stellung genommen wird.11 Nach Thomas Hoeren und Christian Stallberg «gibt es keine sachlich begründeten Kriterien, die eine genau Abgrenzung der Rechtstheorie von der Rechtsphilosophie erlaubten».12 Norbert Horn wiederum sieht in der Rechtstheorie «mehr oder weniger eine ihrer philosophischen Grundfragen beraubte Rechtsphilosophie»13 . Arthur Kaufmann findet den Unterschied vor allem im Motiv: «Es geht [der Rechtstheorie] um die «Emanzipation» von der Philosophie, der Jurist will die philosophischen Fragen des Rechts in eigener Regie als eine Art «Juristenphilosophie» selbst beantworten.»14 . Rechtstheorie versteht er letztlich als einen Abwanderungsvorgang aus der Rechtsphilosophie.15 Stephan Kirste wiederum lässt beide Möglichkeiten gelten, da Rechtstheorie bei ihm einerseits als Teil der Rechtsphilosophie und andererseits als eine «bestimmte wissenschaftliche Perspektive auf das Recht» und dabei vor allem als eine «metaphysikfreie, grundsätzliche Analyse des Rechts» angesehen werden kann.16 Daneben ist auch hier auf die allgemein bekannte Tatsache hinzuweisen, dass die Titel der beiden wichtigsten deutschsprachigen einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften, nämlich dem «Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie» und der «Rechtstheorie» keinen Hinweis auf eine materielle fachliche Trennung ergeben, da die Artikel der einen Zeitschrift, wie Arthur Kaufmann schreibt, genauso in der jeweils anderen erscheinen könnten.17 Schließlich ist jedoch auch zu sagen, dass sich bei der Lektüre der Eindruck ergibt, dass der Frage der Fächerinklusion oder Fächertrennung in der Literatur keine große Aufmerksamkeit gewidmet wird.

(2) Korrekte materielle Einordnung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass eine Disziplin A genau dann als Teildisziplin einer Disziplin B aufzufassen ist, wenn gilt: (a) B ist umfangreicher als A und (b) A erforscht mit denselben Methoden einen Teil des Gegenstandbereichs von B oder A erforscht mit anderen Methoden denselben oder einen Teil des Gegenstandsbereichs von B, kann aber theoretisch und wissenschaftsökonomisch von B nicht sinnvoll getrennt werden. Gemäß dieser letzteren Möglichkeit ist etwa die Theoretische Physik als Teildisziplin der Physik anzusehen.

Mit welchem Forschungsgegenstand sich die Rechtstheorie beschäftigt, ergibt sich aus der Analyse der beiden bereits erwähnten wichtigsten Einführungswerke: Bernd Rüthers und Christian Fischer teilen ihre «Rechtstheorie» in folgende vier (mehrfach unterteilte) Großkapitel ein: (1) Grundfragen, (2) Das Recht und seine Funktionen, (3) Geltung des Rechts18 , (4) Rechtsanwendung. Peter Kollers «Theorie des Rechts» enthält die Kapitel: (1) Begriff und Funktionen des Rechts, (2) Aufbau und Dynamik des Rechts, (3) Theorien des Rechts, (4) Rechtsanwendung und juristische Argumentation, (5) Recht, Moral und Gerechtigkeit19 . Darunter findet sich nun aber kein Thema, das nicht auch von der Rechtsphilosophie untersucht würde und die Themen sind auch generell von Themen der Rechtsphilosophie praktisch kaum zu unterscheiden – man denke insbesondere an Rechtsgeltung und Gerechtigkeit. Wenn man der oben dargelegten Auffassung von der philosophischen Methode folgt, sind die Methode der Rechtsphilosophie und die der Rechtstheorie einander weitestgehend ähnlich bzw. sogar völlig deckungsgleich. Materiell gesehen spricht also mehr für die Inklusionsthese als für die Trennungsthese.

(3) Organisatorische Einordnung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: Aus diesem Anhaltspunkt lassen sich keine Argumente gewinnen. Beide Fächer sind nämlich (bedauernswerter Weise) nicht in einer so großen Anzahl von wissenschaftlichen Institutionen vertreten, dass sich daraus irgendwelche Aussagen für die eine oder andere These ableiten lassen würden.

Im Ergebnis ist festzustellen: In der Scientific Community gibt es über die Frage Fächerinklusion oder -trennung keinen Konsens, wenngleich der Rechtstheorie von einigen Vertreter(inne)n der Rechtsphilosophie die Unabhängigkeit abgesprochen wird. Bezüglich der materiellen Ebene ist festzustellen, dass eine eindeutige Trennung der Rechtstheorie von der Rechtsphilosophie nicht existiert, weil alle etwaig unterschiedlichen Aspekte – wenn man sie überhaupt findet – bestenfalls gradueller Natur sind. Der Aspekt der organisatorischen Einordnung ist unergiebig.

[14]
Letztlich ist Arthur Kaufmann beizupflichten, dass die Rechtstheorie vor allem als Emanzipationsbewegung von der Rechtsphilosophie verstanden werden muss. Dabei spielt das Selbstverständnis der beteiligten Wissenschaftler/-innen wahrscheinlich die größte Rolle und in der Tat ging es dabei eher darum, der Rechtsphilosophie eine weniger philosophische (insbesondere metaphysikfreie), sondern juristischere Alternative entgegen zu setzen. Heute und gegenüber einer (Rechts-) Philosophie, wie sie in den Kapiteln davor skizziert wurde, ist diese Abgrenzung aber weder notwendig, noch möglich oder sinnvoll. Die Frage ist dabei allerdings so sehr mit wissenschaftlichen Biografien und persönlichen Emotionen verbunden, dass man sie am besten durch Ignorieren löst.

Egal ob man nun der Inklusionsthese oder der Trennungsthese anhängt, kann man davon ausgehen, dass die Rechtstheorie folgende Themen umfasst:

(1) Sozialität des Rechts (inkl. Metaphysik sozialer Phänomene): Hierbei geht es darum, dass Recht ein soziales Phänomen ist, welches in die Theorie der menschlichen Sozialität, d.h. des menschlichen sozialen Lebens, eingebettet werden muss. Dabei spielen etwa sozialanthropologische und sozialtheoretische Faktoren eine Rolle, was auch ein Ansatzpunkt für eine sozialphilosophische Sichtweise ist. Hier soll dezidiert die Meinung vertreten werden, dass darin auch eine moderne, analytische Metaphysik des Sozialen ihren Platz hat.20

(2) Normativität des Rechts (=Juristische Normtheorie): Das umfasst die philosophische Erfassung des Phänomens der (Rechts-)Norm sowohl als Einzelnorm als auch im Kontext von (Rechts)Normsystemen.

(3) Sprachphilosophie des Rechts (inkl. Rechtslogik und Juristische Argumentation): Damit ist die philosophische Erforschung der gesamten sprachlichen Aspekts des Rechts gemeint, was sowohl die juristische Argumentationstheorie, die Rechtslogik, die sprachwissenschaftliche Erforschung rechtlicher Phänomene, die Frage der juristischen Fachsprache als auch die «juristische Sprachtheorie» im Zusammenhang mit der juristischen Methode umfasst.

(4) Ideengeschichte der Rechtsphilosophie: Diese gehört zur Philosophiegeschichte und meint die historische Erfassung der Abfolge rechtsphilosophischer Konzepte und Theorien.

(5) Spezielle Probleme der Rechtsdogmatik aus rechtsphilosophischer Sicht: In den dogmatischen Fächern ergeben sich immer wieder Fragen von rechtsphilosophischer Relevanz, wie etwa die Einordnung des Immaterialgüterrechts, Eigentum, Willensfreiheit usw. Auch dies ist ein wichtiges Forschungsgebiet der Rechtstheorie.


6.

Zusammenfassung ^

[15]
In diesem Beitrag wurde eine kurze Darstellung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie geboten. Der Schwerpunkt lag dabei in der Verortung der beiden Disziplinen im Kanon der Wissenschaften und in der Abgrenzung voneinander. Dies sollte etwas Licht in ein teilweise unübersichtliches System von Verhältnissen bringen und der weiteren Forschung (aber auch der Lehre) als Orientierungsraster dienen.

7.

Literatur ^

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Hoeren, Thomas & Stallberg, Christian (2001):Grundzüge der Rechtsphilosophie , LIT-Verlag, Münster et al.
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Kreuzbauer, Günther (2006):Die Norm im Völkerrecht: Eine rechtsphilosophische und rechtstheoretische Untersuchung , LIT-Verlag, Wien.
Kreuzbauer, Günther (2008):Topics in Contemporary Legal Argumentation: Some Remarks on the Topical Nature of Legal Argumentation in the Continental Law Tradition , Informal Logic 28/1, 71-85.
Mayer-Maly, Theo (2001):Rechtsphilosophie , Springer, Wien et al.
Meixner, Uwe (2001):Theorie der Kausalität: Ein Leitfaden zum Kausalbegriff in zwei Teilen , Mentis Verlag, Paderborn.
Rüthers, Bernd & Fischer, Christian (2010):Rechtstheorie: Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts , 5. Aufl., Beck, München.
Schurz, Gerhard (2008): Einführung in die Wissenschaftstheorie, 2. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
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Searle, John R. (2006):Social Ontology: Some Basic Principles , in: Anthropological Theory 6,12-29.
Seelmann, Kurt (2010):Rechtsphilosophie , 5. Aufl., Beck, München.
Simons, Peter (2000):Parts: A Study in Ontology , Clarendon Press, Oxford.
Zippelius, Reinhold (2007):Rechtsphilosophie: Ein Studienbuch . 5. Aufl., Beck, München.



Günther Kreuzbauer, Assistenzprofessor, Universität Salzburg, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Churfürststraße 1, 5020 Salzburg, AT,guenther.kreuzbauer@sbg.ac.at, www.uni-salzburg.at


  1. 1 Zur Wissenschaftstheorie vgl. insb. Schurz 2008.
  2. 2 Dass hier von Rechtswissenschaften i.d.R. im Plural gesprochen wird, hat keine tiefere Bedeutung, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass die einzelnen Disziplinen mittlerweile ein so hohes Ausmaß an Ausdifferenziertheit erreicht haben, dass sie eher eigenständigen wissenschaftlichen Disziplinen als Unterdisziplinen gleichen.
  3. 3 Vgl. Kreuzbauer 2008.
  4. 4 Eine Relevanzbedingung ist notwendig, um z.B. eine Philosophie des Schachspiels auszuschließen.
  5. 5 Vgl. Kreuzbauer 2006, 227.
  6. 6 Fuchs-Heinritz et al. 1994, 302.
  7. 7 Wir werden im Folgenden keinen Unterschied zwischen «Rechtstheorie» und «Theorie des Rechts» machen, vgl. dazu aber Dreier 1975, 6.
  8. 8 Rüthers & Fischer 2010.
  9. 9 Koller 1997.
  10. 10 Rüthers & Fischer 2010, 15.
  11. 11 Vgl. etwa Gröschner et al. 2000, Hofmann 2008, Mayer-Maly 2001, Seelmann 2010, Zippelius 2007.
  12. 12 Hoeren & Stallberg 2001, 14.
  13. 13 Horn 2007, 41, mit weiteren Verweisen.
  14. 14 Kaufmann 2004, 9 [Hervorhebung im Original], mit weiteren Verweisen.
  15. 15 Kaufmann 2004, 9.
  16. 16 Kirste 2010, 19f. und passim.
  17. 17 Kaufmann 2004, 8.
  18. 18 Man beachte, dass Rüthers und Fischer Fragen der Rechtsgeltung wie erwähnt auch zum Forschungsgegenstand der Rechtsphilosophie zählen (Rüthers & Fischer 2010, 15).
  19. 19 Dies ist ein Problemkomplex, der beispielsweise von Rüthers und Fischer aber auch vielen anderen Autor(inn)en der Rechtsphilosophie zugerechnet wird.
  20. 20 Mustergültig ausgeführt findet man moderne Metaphysik etwa bei Simons 2000 (Mereologie) und bei Meixner 2001 (Kausalität). Zur Metaphysik sozialer Phänomene vgl. Searle 1995 und Searle 2006.