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Der Beitrag der Wirtschaftsinformatik zur Neugestaltung der bundesdeutschen Rechtsinformatik

  • Authors: Erich Ortner / Matthias Fischer
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Theory of Legal Informatics
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Erich Ortner / Matthias Fischer, Der Beitrag der Wirtschaftsinformatik zur Neugestaltung der bundesdeutschen Rechtsinformatik, in: Jusletter IT 29 February 2012
In diesem Beitrag wird eine Neuausrichtung der deutschen Rechtsinformatik vorgeschlagen. Dazu wird zunächst geklärt, was unter der mit dem Begriff „Rechtsinformatik“ verbundenen Disziplin heutzutage in weiten Teilen der bundesdeutschen Wissenschaft verstanden wird, wie sich das deutsche Verständnis vom internationalen Verständnis unterscheidet und welche Konsequenzen dies für die juristische Praxis in Deutschland hat. Dabei wird festgestellt, dass in Deutschland unter dem Begriff „Rechtsinformatik“ hauptsächlich eine Befassung mit den gesetzlichen Regelungen für die Anwendung von Informations-Technologie (IT) stattfindet. Es wird aufgezeigt, dass es große Themenblöcke gibt, in welchen Deutschland deutlichen Aufholbedarf im Bereich der Rechtsinformatik hat. Dieser Aufholbedarf wird durch die Angabe von Forschungsfragen und Thematiken näher bestimmt. Er resultiert daraus, dass die Entwicklung von Anwendungen der juristischen Praxis bisher drastisch vernachlässigt wurde. Schließlich wird aufgezeigt, welchen Beitrag die Wirtschaftsinformatik zu einer Neuausrichtung der deutschen Rechtsinformatik leisten kann und warum sie eine besondere Eignung für diese Aufgabe aufweist.
Ein erster Anschub zur Neuausrichtung der Rechtsinformatik in Deutschland wird durch den Lehrstuhl für Rechtsinformatik und Strafrecht an der neu gegründeten Law School der EBS Universität für Wirtschaft und Recht (EBS) geleistet. Ausgehend vom Lehrstuhl für Rechtsinformatik an der EBS wurde das Forschungsprojekt GAIUS ins Leben gerufen. Neben der EBS Law School sind von juristischer Seite die hessische Justiz und der hessische Anwaltsverein am Projekt beteiligt. Die technische Expertise wird durch die Normfall GmbH , die SINC GmbH und das Steinbeis- Transferzentrum für Prozesstechnologie TECHNUM in die Forschung im Rahmen des Projektes GAIUS eingebracht. Zur theoretischen Fundierung und Absicherung der Ergebnisse wirkt das Fachgebiet „Wirtschaftsinformatik 1 – Entwicklung von Anwendungssystemen“ der Technischen Universität Darmstadt am Projekt GAIUS mit.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Die Disziplinen Wirtschafts- und Rechtsinformatik
  • 3. Forschungsfragen
  • 4. Forschungsplan und Beitrag der Wirtschaftsinformatik
  • 5. Fazit und Ausblick
  • 6. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Eine Suche nach Veröffentlichungen unter dem Stichwort „Rechtsinformatik“ fördert zahlreiche Publikationen zu Tage. Der weitaus größte Teil dieser Publikationen befasst sich mit gesetzlichen Regeln für die Anwendung von IT oder mit E-Government. Beide Themenbereiche sind ohne Frage von großer Wichtigkeit für das Funktionieren der Wirtschaft bzw. der Verwaltung. Die thematische Befassung mit der IT-Unterstützung für die Handelnden im Bereich der Justiz ist jedoch äußerst unausgeprägt und nur schwer aufzufinden [Haft 2010, 99–101].
[2]

Aus diesem Grund wird im vorliegenden Beitrag angeregt, den Begriff „Rechtsinformatik“ in Deutschland wieder ernster zu nehmen und nicht wie bisher auf ein „Informatik-Recht“ zu beschränken. Eine Rechtsinformatik im Sinne einer angewandten Informatik vergleichbar mit der in Deutschland sehr stark vertretenen und produktiven Wirtschaftsinformatik, könnte allen Akteuren im Justizbereich zahlreiche Hilfestellungen anbieten und die Arbeit vereinfachen und somit einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung der Gesamtsituation in der deutschen Justiz – gerade angesichts der mehr und mehr zunehmenden Sparmaßnahmen – leisten. Um diese Ziele erfüllen zu können, wird in Abschnitt 2 zunächst dargestellt, wie der neue Begriff der Rechtsinformatik hergeleitet werden kann. In Abschnitt 3 werden die Forschungsfragen und Themenstellungen beschrieben, mit denen sich eine Rechtsinformatik befasst, und in Abschnitt 4 wird ein grober Zeitplan für die Befassung mit diesen Themen vorgestellt sowie der Beitrag aufgezeigt, den die Wirtschaftsinformatik mit ihren inzwischen entwickelten Methoden und Konzepten für die Gestaltung der Rechtsinformatik leisten kann

[3]
Einen ersten Anschub erhält die deutsche Rechtsinformatik im Sinne dieses Beitrages durch den Lehrstuhl für Rechtsinformatik und Strafrecht1 an der neu gegründeten Law School der EBS. Ausgehend vom Lehrstuhl für Rechtsinformatik an der EBS wurde das Forschungsprojekt GAIUS ins Leben gerufen. Neben der EBS-Law School sind von juristischer Seite die hessische Justiz und der hessische Anwaltsverein am Projekt beteiligt. Die technische Expertise wird durch die Normfall GmbH, die SINC GmbH und das Steinbeis-Transferzentrum für Prozesstechnologie TECHNUM sowie den Lehrstuhl für Entwicklung von Anwendungssystemen an der Technischen Universität Darmstadt in die Forschung am Projekt GAIUS eingebracht [Haft 2011]. Das Forschungsprojekt GAIUS befasst sich mit den Möglichkeiten einer IT-Unterstützung von gerichtlichen Verfahren, insbesondere mit den Aspekten der Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien und dem Gericht im Rahmen des One-Text-Approach [Haft 2010, 125]. Ziel ist allgemein ein Effizienzgewinn für alle Beteiligten, wobei in einem ersten Schritt die Sachverhaltsklärung in typischerweise gleichförmig verlaufenden, in der Praxis häufig geführten Klageverfahren oder in komplexen kontradiktorischen gerichtlichen Verfahren dadurch gefördert werden soll, dass Parteivertreter und Gericht auf Grundlage des elektronisch verfügbaren Akteninhalts gemeinsam IT-Medien und IT-Methoden mit dem Ziel einer einheitlichen Strukturierung des Streitstoffes nutzen.

2.

Die Disziplinen Wirtschafts- und Rechtsinformatik ^

[4]
Bei der Rechtsinformatik handelt es sich wie bei der Wirtschaftsinformatik um eine der „Bindestrich“-Informatiken. Es bleibt festzuhalten, dass es sich in beiden Fällen um eine spezielle Informatik handelt [Ortner 2005, 6]. Beide Disziplinen können als Spezialisierung der angewandten Informatik aufgefasst werden [Schubert 2011, 8]. Während bei der Wirtschaftsinformatik eine Spezialisierung der angewandten Informatik in Hinblick auf die Wirtschaftswissenschaften stattfand, ist die Spezialisierung bei der Rechtsinformatik auf die Rechtswissenschaften ausgerichtet. Unter einer „angewandten Informatik“ wird eine Disziplin verstanden, welche Abläufe in einem Fachgebiet (z.B. der Wirtschaft oder dem Recht) auf Automatisierungs- und Unterstützungspotential untersucht [Schubert 2011, 8].
[5]
Da es sich also bei der Wirtschafts- und der Rechtsinformatik um Schwesterdisziplinen handelt [Kurbel 2010, 6], kann im ersten Schritt eine Untersuchung der Aufgaben der Wirtschaftsinformatik Rückschlüsse auf die Aufgaben der Rechtsinformatik erlauben. Die Wirtschaftsinformatik ist als anwendungsorientierte Disziplin an der Praxis orientiert. Ihre Erkenntnisse sollten derart gestaltet sein, dass sie Eingang in Produkte und Konzepte finden können, die in der Praxis ihrerseits Wirkung entfalten [Scheer 2009, 88]. Da die Wirtschaftsinformatik eine konstruktive, also gestaltend tätige Wissenschaft ist, gilt hier das Motto „Aus der Praxis für die Praxis“ [Ortner 2005, 271–272]. Das Ziel ist daher die Anwendung der Konzepte der Informatik auf die Praxis der Wirtschaft. Die Informatik selbst befasst sich mit der automatisierten und systematischen Verarbeitung von Informationen [Tabakow 2009, 13]. Die Wirtschaftsinformatik befasst sich also mit der Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologie in wirtschaftlichen Unternehmungen und der Verwaltung [Winter 2009, 225]. Im deutschen Sprachraum hat sich die Wirtschaftsinformatik als eigenständige Disziplin im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Informatik durchgesetzt [Winter 2009, 223].
[6]
Wird nun die Rechtsinformatik als Schwesterdisziplin der Wirtschaftsinformatik und „Bindestrich“-Informatik analog zur Wirtschaftsinformatik interpretiert, so ergeben sich die folgenden Schlüsse. Wie die Wirtschaftsinformatik muss die Rechtsinformatik ihre Motivation in der Praxis finden. Dabei handelt es sich um diejenige Praxis, mit welcher sich die Rechtswissenschaften beschäftigen. Dies ist der größte Unterschied zwischen der Wirtschafts- und der Rechtsinformatik im Sinne dieses Beitrages. Dabei müssen in der Praxis Themenfelder gefunden werden, welche durch wissenschaftliche Methoden bearbeitet werden können. Weiterhin muss der Schwerpunkt einer Rechtsinformatik im Sinne einer angewandten Informatik auf der Informationsverarbeitung und Informationsstrukturierung liegen. Die Informationsverarbeitung darf nicht nur innerhalb abgeschlossener Einheiten wie z.B. Gerichten betrachtet werden, es muss auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Einheiten in die Betrachtungen einbezogen werden. Dies spiegelt sich in den in Abschnitt 3 angeführten Forschungsfragen wieder. Eine weitere Gemeinsamkeit der Rechts- und der Wirtschaftsinformatik ist, dass es sich bei beiden Fächern um interdisziplinäre Wissenschaften handelt. Ein qualifizierter Rechtsinformatiker muss sowohl über adäquate Kenntnisse in der Disziplin Informatik als auch in der juristischen Disziplin verfügen. Die rechtswissenschaftlichen Kenntnisse sind nicht nur nötig, um die Sprache der späteren Anwender eines von ihm gestalteten Anwendungssystems verstehen zu können, sondern auch, um die entwickelten Systeme – im Sinne des aktuellen Verständnisses einer Rechtsinformatik – rechtssicher gestalten zu können.

3.

Forschungsfragen ^

[7]
Aus den Ausführungen der vorherigen Abschnitte, insbesondere der Betrachtung der Disziplin Rechtsinformatik in Abschnitt 2, lässt sich auf einige grundlegende Forschungsfragen schließen. Aus diesen grundlegenden Fragen lassen sich nach deren Klärung weitere Forschungsfragen ableiten.
[8]
Da die Rechtsinformatik als (re-)konstruktive Wissenschaft in der Praxis verwurzelt ist und somit die Praktiker bei ihrer Arbeit unterstützen soll, muss zunächst grundlegend geklärt werden, wer die zu unterstützenden Praktiker sind. Es geht also darum, die Stakeholder der Disziplin Rechtsinformatik zu bestimmen und festzulegen, um die Grenzen der Disziplin abzustecken. Unter einem „Stakeholder“ wird eine Person verstanden, die vom entwickelten Ergebnis direkt betroffen ist [Thommen 2001, 46], [Versteegen 2002, 211], die also beispielsweise eine entwickelte Software nutzt oder eine bestimmte Methodik anwenden soll. Dass zu den Praktikern der Rechtswissenschaften Staats- und Rechtsanwälte sowie die Richter gehören, liegt auf der Hand. Gehören aber auch die anderen Mitarbeiter einer Kanzlei dazu? Was ist mit den Rechtsabteilungen von Unternehmen? Und schließlich sind auch die „normalen Menschen“ ggf. als Beklagte, Gutachter oder Zeugen an gerichtlichen Verfahren beteiligt. Welche Rolle spielen diese für die Themensetzung der Rechtsinformatik? Hier ist eine ausführliche empirische Analyse der Praxis, bzw. der in ihr faktisch stattgefundenen Normierung von Rollen, vorzunehmen, um die Stakeholder der Rechtsinformatik zu bestimmen.
[9]
Basierend auf der Feststellung, dass sich verschiedene Stakeholder für die Ergebnisse der Rechtsinformatik unterscheiden lassen, lässt sich auf unterschiedliche Anwendungssystemtypen schließen, mit welchen die Rechtsinformatik befasst ist. Als „Anwendungssystemtypen“ im Spannungsfeld der Rechtsinformatik ließen sich unter anderen Produkte zur Beherrschung der Relationentechnik (z.B. [Haft 2010]), zur Rechtsvisualisierung (etwa [Bergmans 2009] oder [Mielke 2009]), zur Kanzleiverwaltung oder auch zur elektronischen Akteneinsicht sowie juristische Expertensysteme nennen. Auch Mischtypen müssen in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Auf diesem Feld bietet sich zunächst ebenfalls eine empirische Studie an, welche in Zusammenhang mit der Feststellung der Stakeholder die vom jeweiligen Nutzer benötigten Anwendungssystemtypen feststellt. Auf diese Weise wird festgestellt, welche Anwendungssystemtypen im Bereich der Rechtsinformatik bereits im Einsatz sind. Im Rahmen dieser Untersuchungen ist über die empirische Studie hinaus selbstverständlich auch auf die bereits vorliegenden Erfahrungen aus dem Ausland (z.B. [Schweighofer 2011]) zurückzugreifen. Bei der Übertragung existierender ausländischer Anwendungssystemtypen der juristischen Praxis ist jedoch darauf zu achten, dass diese nur dann für die juristische Praxis in Deutschland geeignet sein können, wenn das Rechtssystem des entsprechenden Landes mit dem deutschen kompatibel ist. So muss man sich beispielsweise den Unterschieden zwischen der angloamerikanischen „commonlawtradition“ und der kontinentalen „civillawtradition“ (z.B. [Melin 2005, 1]) bewusst sein, wenn man Anwendungssysteme zwischen zwei Rechtsräumen unterschiedlicher Tradition austauschen möchte, aber auch Unterschiede auf niedrigerer Detailstufe betrachten. Darüber hinaus ist zu erheben, in welchem Maße die jeweiligen eingesetzten Anwendungen ihren Zweck erfüllen. Wird dieser Zweck nicht vollständig erfüllt, so ist festzustellen, warum dies der Fall ist. Weiters soll geprüft werden, welche Anwendungssysteme von den Stakeholdern gewünscht werden, aber noch nicht vorhanden sind. Auch hier ist festzustellen, warum die gewünschten Systeme bisher nicht verfügbar sind. Ein Grund könnte etwa sein, dass der Mehrwert der Systeme so gering ist, dass sich eine Vermarktung nicht lohnen würde. Es könnte allerdings auch daran liegen, dass es ungelöste technische oder fachliche Probleme bei der Erstellung einer IT-gestützten Lösung gibt.
[10]
Aufgrund des diskursiven Wesens der juristischen Praxis ist die Kommunikation zwischen den Beteiligten von hoher Wichtigkeit. Den verschiedenen Anwendungssystemtypen im Rahmen der Rechtsinformatik ist daher gemein, dass sie eine Komponente zur digitalen Kommunikation der Ergebnisse besitzen müssen. Diese Komponente dient zur Realisierung des elektronischen Rechtsverkehrs [Haft 2011]. Somit ist die digitale Kommunikation im Rahmen juristischer Anwendungssysteme als orthogonale Problemstellung zu betrachten, die bei jedem Systemtyp anfällt. Bevor eine derartige Basiskomponente geschaffen werden kann, gilt es jedoch, die anfallende Kommunikation zu analysieren und in ein Modell zu gießen. Anhand dieses Modells kann schließlich eine einheitliche Kommunikationskomponente geschaffen werden. Erste Ansätze in diesem Bereich gibt es etwa im Rahmen des LEXML-Netzwerkes2 [Sartor 2011] oder des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfaches3 . Die Wichtigkeit der elektronischen Kommunikation wird unter anderem dadurch deutlich, dass momentan eine rege Debatte über die Regelungen des elektronischen Rechtsverkehrs stattfindet (vgl. z.B. [Köbler 2011]).
[11]
Eine weitere zu beachtende Besonderheit im Bereich der juristischen Praxis ist, dass die Arbeitsabläufe – im Gegensatz zu zahlreichen wirtschaftlichen Prozessen – nur teilweise festgeschrieben sind. So gibt es zwar für bestimmte Bereiche Prozessordnungen (z.B. [Meyer-Goßner 2011]), in welchen Abläufe beschrieben und festgelegt sind, andererseits gibt es aber auch viele Bereiche, in welchen keine vordefinierten Abläufe gefunden werden können (beispielsweise aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit, vgl. [Bader 2011, 2]). Daraus resultiert, dass unterstützende Anwendungssysteme der juristischen Praxis im Gegensatz zu zahlreichen wirtschaftlichen Systemen nicht streng prozessorientiert sein können, sondern sich an den Voraussetzungen und Ergebnissen (z.B. in Form von Dokumenten) dieser „Black-Box-Prozesse“ ausrichten müssen. Bei einem „Black-Box-Prozess“ ist ausschließlich das Ein- und Ausgabeverhalten bekannt, während der eigentliche Prozessablauf unbekannt ist [Hoffmann 2008, 173–174].
[12]
Aufgrund der Erkenntnisse über die vorhandenen und benötigten Anwendungssystemtypen kann untersucht werden, ob es bestimmte Basisfunktionalitäten gibt, welche von allen oder vielen dieser Systemtypen genutzt werden könnten. Für diese Funktionalitäten können ggf. „Basissysteme“ geschaffen werden, welche von den juristischen Teilsystemen verwendet werden können. Ein „Basissystem“ stellt eine generische Funktionalität bereit (z.B. Datenbank- oder Workflow-Management-Systeme) [Ortner 2005, 37]. Sollen für die Anwendungssysteme des juristischen Bereichs Basissysteme verwendet werden, so ist eine entsprechende Architektur für juristische Anwendungssysteme zu definieren, welche die Wiederverwendung dieser Systeme unterstützt.
[13]
Schließlich ist die Frage zu klären, welche Entwicklungsmethode eine optimale Einbindung der Stakeholder ermöglicht. Diese umfasst auch die Frage nach der zur Erfassung der Anforderungen genutzten Sprache. Sie muss es zum einen den Stakeholdern ermöglichen, ihre Bedürfnisse exakt mitzuteilen, dabei aber auch von den Technikern verstanden werden können. Darüber hinaus sollte die angewandte Methode agil genug sein, um sich ändernde Anforderungen der Stakeholder oder veränderte Rahmenbedingungen mit möglichst geringem Aufwand in laufende Projekte integrieren zu können. Eine Methode, die sich in diesem Kontext anbieten könnte, ist etwa die Vorgehensweise Scrum unter der Integration von User Stories [Wirdemann 2009].

4.

Forschungsplan und Beitrag der Wirtschaftsinformatik ^

[14]
In Abschnitt 3 wurden vier Forschungsfragen identifiziert, die in weitere Teilfragen aufgespalten werden können. Dadurch ergeben sich die folgenden vier Hauptaufgaben, deren Bearbeitung sich in folgender Reihenfolge anbietet:
  1. Identifikation und Klassifikation der Stakeholder
    • Welche Stakeholder gibt es?
    • Welche Aufgaben haben diese Stakeholder?
    • Wie können sie bei diesen Aufgaben mittels IT unterstützt werden (z.B. in Hinblick auf Datenspeicherung, Datenübertragung und Datenstrukturierung)?
  2. Kategorisierung der Anwendungssystemtypen im Bereich der Rechtsinformatik
    • Sind bereits Systeme für die Unterstützung der Stakeholder vorhanden?
    • Welche Mängel weisen diese Systeme auf?
    • Was ist Ursache dieser Mängel und können diese beseitigt werden?
    • Welche weiteren Anwendungssystemtypen sind vorstellbar?
    • Über welche Eigenschaften müssen diese verfügen?
  3. Identifikation von Basisfunktionalitäten und Schaffung von Basissystemen
    • Welche Basisfunktionalitäten treten in juristischen Anwendungssystemen auf?
    • Welche Basissysteme sind für die Deckung dieser Basisfunktionalitäten zu nutzen bzw. zu schaffen?
    • Wie kann beispielsweise die elektronische Kommunikation über alle Anwendungen hinweg gewährleistet werden?
  4. Planung des Entwicklungsprozesses
    • Starke Integration der Stakeholder, d.h. grundsätzliche Verfolgung eines Top-Down-Ansatzes.
    • In welcher Sprache können die Stakeholder ihre Anforderungen ausdrücken, damit sie von den Technikern verstanden werden?
    • Welche Modellierungssprachen sollen eingesetzt werden?
[15]
Während der Klärung der genannten Forschungsfragen werden weitere Fragen niedrigerer Granularität auftreten. Diese betreffen insbesondere die zu entwerfenden Basissysteme mit den entsprechenden Architekturen sowie die einzelnen zu entwerfenden Anwendungssysteme der juristischen Praxis. So muss in Hinblick auf die Entwicklung von Anwendungssystemen stets in Betracht gezogen werden, dass gerade in der juristischen Praxis häufig personenbezogene Daten verarbeitet werden, welche eines besonderen Schutzes bedürfen.
[16]
Solange sich keine Rechtsinformatik im Sinne dieses Beitrages hat etablieren können, kann die Wirtschaftsinformatik im Sinne der angewandten Informatik als Vorbild dienen. Diese „Vorbildfunktion“ resultiert aus den Erfahrungen, die in der Wirtschaftsinformatik im Bereich der Forschungsfragen auf wirtschaftswissenschaftlichem Gebiet bereits gesammelt wurden. In Hinsicht auf die Identifikation und Integration von Stakeholdern sind bereits weitreichende Erkenntnisse vorhanden (vgl. z.B. [Freeman 2010]), so dass auf diesen Themenbereich nicht weiter eingegangen werden soll. Die Kategorisierung von Anwendungssystemen und die Ableitung von Basisfunktionalitäten und Basissystemen, die diesen Kategorien als Grundlage dienen können, werden in der (Wirtschafts-)Informatik bereits beherrscht. So gibt es bereits ein breites Spektrum an Systemsoftware, welche generische Funktionalitäten für zahlreiche Anwendungsgebiete zur Verfügung stellt [Lassmann 2006, 158], wie z.B. Datenbank- oder Workflow-Management-Systeme.
[17]
In den vergangenen Abschnitten hat sich gezeigt, dass aufgrund der starken Integration der Stakeholder großer Wert auf die genutzten Sprachen gelegt werden muss. Dies umfasst zum einen die Sprache, in welcher die Anforderungen erfasst werden, als auch die Modellierungssprachen, welche zur Beschreibung der Lösungen der fachlichen Probleme eingesetzt werden. In Hinblick auf die Sprache zur Erfassung der Anforderung ist sicherzustellen, dass diese Sprache sich zum einen so nahe an der Fachsprache der Anwender befindet, dass diese ihre Anforderungen formulieren können. Um dies sicherzustellen, sind die Begriffe vor ihrer Nutzung klar zu definieren und alle Begriffsdefekte sind zu beseitigen [Christ 2003, 78–79]. Besondere Berücksichtigung der Fachanwender und ihrer Fachsprachen findet im Rahmen der sprachbasierten Informatik statt. Die Entwicklung eines Anwendungssystems nach den Methoden der sprachbasierten Informatik hat ihren Ausgangspunkt im jeweiligen Fachgebiet, in dem ein Problem bzw. Mangel aufgetreten ist. In der Sprache dieses Anwendungsgebietes werden Aussagen (der Fachanwender) gesammelt, welche das Problem und eventuelle Lösungsansätze beschreiben. Diese Aussagen werden in einem weiteren Schritt normiert und rekonstruiert, um eine Lösung des Problems methodenneutral – also unabhängig von bei der (Software-)Lösung eingesetzten Techniken – zu beschreiben [Ortner 2005]. Damit ist eine Einbindung der Fachexperten von der Problemerhebung bis hin zur Lösungsfindung möglich. Erst die eigentliche Implementierung einer Lösung findet in einer dem Fachanwender fremden Sprache statt.
[18]
Hinsichtlich der (eher technisch orientierten) Modellierungssprachen ist zu prüfen, inwiefern sich die bestehenden Modellierungssprachen wie z.B. Unified Modeling Language (UML) oder Business Process Model and Notation (BPMN) für die Modellierung von Anwendungssystemen für die juristische Praxis eignen, oder ob hier neue Ansätze benötigt werden. Dies sind Felder, auf welchen die Wirtschaftsinformatik, insbesondere in ihrer sprachbasierten Ausrichtung (vgl. z.B. [Ortner 2005] oder [Zeise 2011]), eine starke Expertise vorweisen und für die Entwicklung der Rechtsinformatik von großer Hilfe sein kann.

5.

Fazit und Ausblick ^

[19]
In diesem Beitrag wurde aufgezeigt, dass die Entwicklung von Anwendungssystemen für die juristische Praxis stark vernachlässigt wurde. Daher wurde eine neue Auffassung des Begriffs „Rechtsinformatik“ vorgeschlagen, in welcher neben der Betrachtung des „Rechts für Computer“ auch die Möglichkeiten des „Computers für das Recht“ wieder stärkere Beachtung finden soll. Dazu wurden die Parallelen zwischen der Rechts- und der Wirtschaftsinformatik als angewandte Informatiken betrachtet. In Abschnitt 3 wurden aus den zuvor gemachten Betrachtungen erste Forschungsfragen abgeleitet, welche in Abschnitt 4 näher aufgeschlüsselt wurden. Weiterhin wurde gezeigt, warum sich die Wirtschaftsinformatik als Ausgangspunkt für die Neugestaltung der Rechtsinformatik eignet und welchen Beitrag sie leisten kann.
[20]
Für die Gestaltung der Rechtsinformatik sollte ein besonderes Augenmerk auf die Erfahrungen der Wirtschaftsinformatik im Bereich der Integration der Stakeholder sowie der Gestaltung von Modellierungssprachen gelegt werden. So empfehlen die Autoren eine strikte Top-Down-Vorgehensweise4 , welche ihren Ursprung in den Bedürfnissen der Stakeholder hat.
[21]
Schließlich bietet sich neben der Orientierung an der Wirtschaftsinformatik eine Untersuchung der Rechtsinformatik außerhalb Deutschlands (so z.B. in Österreich) an, um von den dort erzielten Fortschritten profitieren zu können.

6.

Literatur ^

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Lassmann, Wolfgang, Wirtschaftsinformatik. Nachschlagewerk für Studium und Praxis, Gabler Verlag, Wiesbaden, (2006).

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Schubert, Sigrid; Schwill, Andreas, Didaktik der Informatik. 2. Auflage, Spektrum Verlag, Heidelberg (2011).

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Wirdemann, Ralf, Scrum mit User Stories, Hanser Verlag, München (2009).

Zeise, Nicole; Fischer, Matthias; Link, Marco, Anwendungsorientierte Organisationsgestaltung: Prozessmanagement Systementwicklung Modellierung. Baar-Verlag, Schwarzenbek (2011).

  1. 1 http://www.ebs.edu/index.php?id=11501.
  2. 2 http://www.lexml.de.
  3. 3 http://www.egvp.de/index.php.
  4. 4 Zur „Top-Down-Vorgehensweise“ vgl. etwa [Heinold 2002, 195–196].