Jusletter IT

Rechtsinformatik als Integrationswissenschaft

  • Author: Erich Schweighofer
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Theory of Legal Informatics
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Erich Schweighofer, Rechtsinformatik als Integrationswissenschaft , in: Jusletter IT 29 February 2012
Der Methodenstreit der Rechtsinformatik hat eine lange Tradition. Während zu Beginn der Integrationscharakter des Fachs betont wurde, sind nunmehr Vertreter der Methodeneinheit prominent, entweder als Informatiker (Bindestrich-Informatik) oder als Juristen (IT-Recht, Informationsrecht etc.). Der Integrationsansatz lebt, muss aber als Mangel an Ressourcen Zwischenschritte in Form des pragmatischen Ansatzes einlegen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Methodische Ansätze der Rechtsinformatik
  • 2. Rechtsinformatik als Integrationswissenschaft
  • 3. Schlussfolgerungen

1.

Methodische Ansätze der Rechtsinformatik ^

[1]
Untersuchungsgegenstand der Rechtsinformatik1 sind die technischen wie rechtlichen Aspekte des Rechts in der Wissensgesellschaft. Rechtsinformatik ist eine interdisziplinäre Wissenschaft an der Schnittstelle von Informatik und Recht, wobei aber auch informationswissenschaftliche, philosophische, soziologische und ökonomische Aspekte eine wichtige Rolle spielen. Die Bezeichnungen des Faches Rechtsinformatik sind vielfältig: Computer & Recht, Informationsrecht, Informatikrecht, IT-Recht, IKT-Recht, Multimediarecht, Telekommunikationsrecht, Datenschutzrecht, E-Commerce-Recht, E-Government, E-Justiz etc. Viele Teilbereiche haben sich zwischenzeitlich (fast) selbstständig gemacht und damit eine Integration erschwert.
[2]
Bedingt durch den Umfang des Fachs und die interdisziplinären Sichtweisen ergibt sich naturgemäß eine Methodenvielfalt. Schon ob diese begrüßt werden soll (in der Form einer „wissenschaftlichen Blumenwiese“ – bestes Beispiel ist das Internationale Rechtsinformatik Symposion IRIS) oder im Interesse einer methodischen Exaktheit reduziert werden muss, ist Thema des Methodenstreits.
[3]
Es gibt vier methodische Ansätze. Der pragmatischer Ansatz sieht Rechtsinformatik als wissenschaftliche Plattform aller jener, die sich – bei Methodenvielfalt – wissenschaftlich mit Fragen von IT und Recht in der Wissensgesellschaft beschäftigen: juristisch (IT-Recht), informatorisch (IT-Anwendungen im Recht), philosophisch-theoretisch-soziologisch (Wissensgesellschaft) oder ökonomisch (Wissen als wichtigster Produktionsfaktor).2 Die methodische Einheit wird – vorübergehend – zu Gunsten einer umfassenden Bearbeitung des Themas aufgegeben, um die nötigen Grundlagen für das Fach zu schaffen. Alle schon länger bestehenden Rechtsinformatik-Institute verfolgen praktisch diesen Ansatz, wenn auch (derzeit) mit Schwerpunkt IT-Recht. Die sehr erfolgreichen Internationalen Rechtsinformatik Symposien IRIS unter der Hauptleitung des Autors3 zeigen, dass mit diesem Ansatz die kritische Masse für eine tiefgehende Behandlung des Untersuchungsgegenstands erreicht werden kann, auch wenn eine ausreichende Forschungsfinanzierung nicht gegeben ist. Die Integration der verschiedenen Ansätze bleibt ein Ziel und wird durch interdisziplinäre Zusammenarbeit in Forschungsprojekten gelebt. Als sehr schwierig hat sich die Systematisierung des Forschungsgebiets herausgestellt; die bisher letzten deutschen interdisziplinären Lehrbücher sind bereits mehr als 30 Jahre alt4 .
[4]
Der informatorische Ansatz sieht Rechtsinformatik als anwendungsorientierte Informatik (vergleichbar mit anderen „Bindestrich-Informatiken“ wie Wirtschaftsinformatik oder Verwaltungsinformatik). Zuletzt hat sich Maximilian Herberger für diesen Ansatz ausgesprochen.5 Von Seiten der Informatik wird dieser Ansatz weitgehend einheitlich verfolgt.
[5]
Der juristische Ansatz sieht Rechtsinformatik als rechtswissenschaftliche Disziplin mit den vorherrschenden Themen des IT-Rechts (bzw. Informationsrechts) bzw. der Rechtstheorie. Informationsrechtler wie Thomas Hoeren vertreten nachhaltig diesen Ansatz und unterstreichen dies durch griffigere Bezeichnungen der jeweiligen Fächer (wie Multimediarecht). Rechtstheoretiker wie Friedrich Lachmayer oder Giovanni Sator sehen in der Rechtsinformatik eine potentielle Methodenerweiterung im Recht.
[6]
Der integrative Ansatz sieht Rechtsinformatik als interdisziplinäre eigenständige Disziplin mit den Hauptkomponenten Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften, Informationswissenschaften, Linguistik und Informatik als notwendige Ergänzung der Rechtswissenschaften. Hauptvertreter sind seit den späten 1960er Jahren Herbert Fiedler und Wilhelm Steinmüller. Zuletzt hat Herbert Fiedler seinen Ansatz auf die Anwendung formaler Methoden im Recht verfeinert („Wiener Thesen“).6

2.

Rechtsinformatik als Integrationswissenschaft ^

[7]
Unabhängig vom Methodenstreit hängen die Lebenszyklen einer Wissenschaft vom Bedarf und Interesse der Gesellschaft ab. Ohne solide Methodik geht es natürlich nicht; ohne Leistung auch keine langfristige Finanzierung. Die Rechtswissenschaft ist eine sehr alte Wissenschaft mit starker Tradition, deren Forschung derzeit durch aktuelle Themen (wissenschaftliche Beiträge bzw. Gutachten) und systematische Strukturierung immer größerer Textkorpora gekennzeichnet ist. Die Quantität und Dynamik der Materialien – Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsentscheidungen, Judikate, Literatur etc. – ist fast schon beängstigend. Für tiefgehende rechtsdogmatische Analysen ist keine und nur eine geringe Förderung vorhanden, was die Rechtswissenschaft in eine gewisse Krise geführt hat.7 Der handwerkliche Charakter der Jurisprudenz wird dadurch verstärkt; die Rechtsretrievalsysteme tragen ihren Beitrag dazu bei.
[8]
Die Rechtsinformatik ist eine sehr junge Wissenschaft. An sich als interdisziplinäre Wissenschaft der Jurisprudenz und der Informatik vorgesehen, sind seit den 1990er Jahren starke Strömungen zu beobachten, die eine Fokussierung einerseits auf die Rechtswissenschaft (als IT-Recht oder Informationsrecht) bzw. andererseits auf die Informatik (als Bindestrich-Informatik)8 betonen, um die methodische Einheit zu gewährleisten. Ich habe mich stets dagegen ausgesprochen, weil der wissenschaftliche Beitrag der Rechtsinformatik gerade in der interdisziplinären Durchdringung der rechtsinformatorischen Themen liegt; ansonsten droht das wenig wissenschaftlich wenig attraktive Schicksal einer angewandten Disziplin, deren Thema sich auf die Bearbeitung der vorgegebenen Aufgaben beschränkt.
[9]
Das Bündel der Faktoren – Ziele und Energie der Wissenschaftler, gesellschaftliche Zielsetzungen und finanzielle Mittel – bestimmt entscheidend, wie eine Wissenschaft organisiert wird. Im deutschen Sprachraum ist Rechtsinformatik ein Provisorium; ein wenig ein Universitätsfach, kaum ein Akademiefach9 , oft ein starkes Projektfach und immer auch ein Zivilgesellschaftsfach. Die Rechtsinformatik lebt, aber ein ständiges Merkmal dieses Zustands ist der Mangel an ausreichenden Ressourcen für das Fach. Verantwortlich für diese Situation sind in erster Linie die Rechtsfakultäten, die sich zu einer ausreichenden institutionellen Einrichtung wie finanzieller Ausstattung noch nicht durchgerungen haben. Trotz dieser Feststellung ist es erstaunlich, wie viele Aktivitäten in der Rechtsinformatik existieren. Der Mainstream der Informations- und Wissensgesellschaft mag als Motivator zumindest teilweise dafür verantwortlich sein.
[10]
„Wissenschaft ist die Erweiterung des Wissens durch Forschung, dessen Weitergabe durch Lehre, der gesellschaftliche, historische und institutionelle Rahmen, in dem dies organisiert betrieben wird, sowie die Gesamtheit des so erworbenen Wissens. Forschung ist die methodische Suche nach neuen Erkenntnissen sowie deren systematische Dokumentation und Veröffentlichung in Form von wissenschaftlichen Arbeiten. Lehre ist die Weitergabe der Grundlagen des wissenschaftlichen Forschens und die Vermittlung eines Überblicks über das Wissen eines Forschungsfelds, den aktuellen Stand der Forschung.“10 Um von einer Wissenschaft sprechen zu können, bedarf es einer kritischen Menge „besonderer Menschen“ mit intensiver Energie und Freude an Beherrschung und Vermehrung des Wissens.11 Die Wissenschaftsfreiheit garantiert, dass diese Wissenschaftler alleine, in Gruppen, im nationalen, europäischen oder internationalen Rahmen tätig sind. Heutzutage ist erfolgreiche Wissenschaft aber nur möglich, wenn die kritische Menge von Wissenschaftlern mit ausreichender Zeit und Mitteln gegeben ist. Vielfach wird dies heutzutage nur mehr auf globaler Ebene erreicht; lokale Gruppen – und einzelne – müssen sich entsprechend spezialisieren. Finanzielle Mittel waren und sind ein entscheidender Faktor jeder Wissenschaft.
[11]
Rechtsinformatik als Projektfach bzw. Zivilgesellschaftsfach ist per se schon ein integratives Fach, weil die notwendigen Ressourcen für die Lösung einer bestimmten Forschungsaufgabe nur interdisziplinär erzielt werden können. Viele Projekte, aber auch die Internationalen Rechtsinformatik Symposien IRIS zeugen davon.
[12]
Die systematische Durchdringung des umfangreichen Materials fehlt jedoch, weil sich nur wenige daran wagen, mit methodischer Kompetenz in mehrere Disziplinen die Forschungsfragen anzugehen. Hier ist ein teilweises Versagen der Rechtsfakultäten zu konstatieren, weil eine derartige Mammutsaufgabe ohne ausreichende Unterstützung der Universitäten oder Akademien unmöglich wird.

3.

Schlussfolgerungen ^

[13]
Die Rechtsinformatik ist ein (schwaches) Universitätsfach, im dichten Gras der Rechtsdogmatik nur als Orchidee am Rande geduldet und gelegentlich auch geschätzt. Wie die Orchidee soll die Rechtsinformatik ohne viele Ressourcen blühen.12 Die wesentlichen Mittel für die Rechtsinformatik finden sich daher in der Verwaltung, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft, vornehmlich als Projekte definiert.
[14]
Mit diesen Mitteln sind daher nur „Blumenwiesen der Wissenschaft“ möglich, wo zwar die verschiedenen Ideen und Ansätze präsentiert, aber zumindest nicht ausreichend systematisiert werden können. Mit Konferenzen wie dem IRIS sowie der Publikation in Tagungsbänden bzw. Jusletter IT13 wird die Möglichkeit geschaffen, hier „echte Integrationswissenschaft“ zu betreiben.
[15]
Die Rechtsinformatik hätte das Zeug dazu, in der Wissensgesellschaft integrative Aufgaben zwischen den IKT als wichtigste Technologie und dem Recht als wichtigstem Werkzeug des Menschen zu schaffen. 14 Dazu bedarf es aber auch einer entsprechenden Engagements und Finanzierung der Rechtsfakultäten.
  1. 1 Vgl. dazu die wesentlich umfangreicheren Ausführungen: Schweighofer, E., Rechtsinformatik als Universitätsfach. In: Forgó, N., Holzweber, M., Reitbauer, R. (Hrsg.), Informationstechnologie in Recht und Verwaltung, Anfänge und Auswirkungen des Computereinsatzes in Österreich, Linde Verlag, Wien, S. 99-116 (2011).
  2. 2 Als Ansatz formuliert vom Autor zur wissenschaftlichen Reflexion erfolgreicher Rechtsinformatik-Institutionen als auch der IRIS-Konferenzen. Vgl. zu den Ansätzen Schweighofer, E. Rechtsinformatik und Wissensrepräsentation. Springer, Wien, S. 3 ff. (1999).
  3. 3 Nächste Konferenz: http://www.univie.ac.at/RI/IRIS2012 (zuletzt aufgerufen 5.2.2012).
  4. 4 Haft, F., Einführung in die Rechtsinformatik. Alber Kolleg Rechtstheorie, Freiburg/München (1977); Reisinger, L., Rechtsinformatik. Berlin/New York (1977).
  5. 5 Herberger, M., Rechtsinformatik: Anmerkungen zum Verständnis von Fach und Forschungsgebiet. In: Schweighofer E. et al., Effizienz von e-Lösungen in Staat und Gesellschaft, Tagungsband des 8. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2005, Boorberg, Stuttgart, S. 29 ff. (2005).
  6. 6 Fiedler, H., Modell und Modellbildung als Themen der juristischen Methodenlehre. In: Schweighofer, E. et al., e-Staat und e-Wirtschaft aus rechtlicher Sicht, Tagungsband des 9. Internationalen Rechtsinformatik Symposions IRIS 2006, 275 ff. (2006).
  7. 7 Vgl. Hoeren, T., Vom faulen Holze lebend, FAZ Gastbeitrag; online verfügbar: http://www.faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471FA88471AEF0/... 06.08.2009 (2009).
  8. 8 Herberger, a.a.O.
  9. 9 In Italien hat die Wissenschaftsakademie CNR ein bedeutendes Institut eingerichtet: ITTIG Istituto di Teoria e Tecniche dell’Informazione Giuridica des Consiglio Nazionale delle Ricerche; http://www.ittig.cnr.it/ (zuletzt aufgerufen: 5.2.2012).
  10. 10 Deutsche Wikipedia, http://de.wikipedia.org; Wissenschaft (zuletzt aufgerufen 5.2.2012).
  11. 11 Besser als Max Weber kann man die Notwendigkeit einer besonderen Hingabe zur Wissenschaft nicht beschreiben. „Das akademische Leben ist also ein wilder Hasard. Wenn junge Gelehrte um Rat fragen kommen wegen Habilitation, so ist die Verantwortung des Zuredens fast nicht zu tragen. Ist er ein Jude, so sagt man ihm natürlich: lasciate ogni speranza. Aber auch jeden anderen muss man auf das Gewissen fragen: Glauben Sie, dass Sie es aushalten, dass Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben? Dann bekommt man selbstverständlich jedesmal die Antwort: Natürlich, ich lebe nur meinem »Beruf«; – aber ich wenigstens habe es nur von sehr wenigen erlebt, dass sie das ohne inneren Schaden für sich aushielten. Soviel schien nötig, über die äußeren Bedingungen des Gelehrtenberufs zu sagen.“ Weber, M., Wissenschaft als Beruf. Mit e. Nachw. von Immanuel Birnbaum. München/Leipzig 1919, DNB. Online verfügbar: Textlog, div. Neuaufl. 1995, http://www.textlog.de/weber_wissen_beruf.html (zuletzt aufgerufen 5.2.2012).
  12. 12 Die Evaluierung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 2009 ist bezeichnend für die Situation. Man freut sich über die Vielfalt, aber es darf nicht sehr viel kosten.
  13. 13 http://www.jusletter-it.eu.
  14. 14 Mit den Worten von Friedrich Lachmayer: „Früher waren Theologie und Philosophie Integrationswissenschaften. Das hing vom jeweiligen kulturellen Kontext ab und von den Herausforderungen, denen sich die Gesellschaft gegenüber sah. Einige Zeit waren es Logik und Mathematik, als die Schlüssel, mit denen das Buch der Natur sowie das Rezeptbuch der beginnenden Maschinenkultur geöffnet und gelesen werden konnten. Heute ist es vor allem die Informatik, welche die langsam intelligenzbegabten Maschinen gedanklich zu durchdringen vermag. Und damit auch die Rechtsinformatik, denn das Recht ist neben der Sprache einer der ganz wichtigen Rahmenbedingungen der Menschen.“