1.
Einführung ^
Die Frage der authentischen Publikation (Kundmachung1) genießt in der schweizerischen Lehre – zu Unrecht – eine untergeordnete Bedeutung, was möglicherweise auch daran liegt, dass die Rechtsunterworfenen dem Staat gegenüber ein Grundvertrauen bzw. eine „Obrigkeitsgläubigkeit“ entgegenbringen, was eine genaue Regelung dieser Problematik als entbehrlich erscheinen lässt. Der Begriff „authentisch“ wird in der Schweizer Publikationsgesetzgebung und -praxis so gut wie nie verwendet; stattdessen spricht man von der „maßgebenden“ Fassung eines Erlasses (Rechtsvorschrift). 2
2.1.
Einige Bemerkungen zur Publikationspraxis ^
In der Schweiz ist jede der drei Staatsebenen, d.h. der Bund, die einzelnen Kantone und die Gemeinden, zuständig für die Publikation ihrer Erlasse. Ordentliches Publikationsorgan ist sowohl im Bund wie auch in den Kantonen die amtliche bzw. chronologische Rechtssammlung3. Darin werden neue Rechtsvorschriften sowie Änderungen (Novellierungen) und Aufhebungen bestehender Rechtsvorschriften chronologisch aufgeführt. Die Aufnahme eines Erlasses in die chronologische Sammlung bewirkt den Eintritt der Rechtsverbindlichkeit (vgl. für den Bund Art. 8 Abs. 1 PublG4). Dies bedeutet auch, dass die in der chronologischen Sammlung veröffentlichten Rechtsvorschriften als bekannt vorausgesetzt werden (Kenntnisfiktion).
2.2.
Überblick über die aktuelle Rechtslage im Bund und in den Kantonen ^
Die Maßgeblichkeit mehrerer „Fassungen“ einer Rechtsnorm ist in der Schweiz nichts Ungewöhnliches: Eine analoge Rechtslage besteht bereits bei Rechtsvorschriften mehrsprachiger Gemeinwesen, namentlich des Bundes, wo die Rechtsvorschriften stets in den drei Amtssprachen Deutsch, Französisch und Italienisch publiziert werden, wobei alle drei Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich sind. Ähnlich ist die Rechtslage in den drei zweisprachigen Kantonen Freiburg, Bern und Wallis10. Bei Differenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen muss der Richter bzw. die rechtsanwendende Behörde durch Auslegung den wahren Sinn der betreffenden Rechtsvorschrift bzw. den Willen des Gesetzgebers ermitteln. Diese Praxis kann problemlos für die Lösung allfälliger Konflikte zwischen der elektronischen und der gedruckten Fassung einer Rechtsvorschrift beigezogen werden, zumal die möglichen Abweichungen bei verschiedenen Publikationsmedien naturgemäß geringer ausfallen sollten als bei unterschiedlichen Sprachfassungen, bei welchen die Gefahr falscher oder unpräziser Übersetzungen hoch ist.
Der erste Kanton, der seine Rechtsvorschriften elektronisch authentisch publizierte, war der Kanton Waadt, wobei die Art und Weise, wie es dazu kam, eher ungewöhnlich war: Gemäß dem waadtländischen Publikationsgesetz ist das amtliche Publikationsorgan der sog. „recueil des lois“11, übersetzt „Gesetzessammlung“. Gemäß einem Beschluss der Staatskanzlei verzichtet sie jedoch auf die Herausgabe dieses Publikationsorgans und veröffentlicht auch sonst keine gedruckten Rechtsvorschriften mehr. Die einzig verfügbare Rechtsquelle bildet in diesem Kanton die im Internet veröffentlichte Erlasssammlung, die mangels Alternativen faktisch zum maßgebenden Publikationsorgan wurde. Mit Blick auf die Rechtssicherheit ist eine derartige Praxis jedoch problematisch. Zu begrüßen wäre deshalb die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage.
Seit dem 1. Januar 2012 verfügt der Kanton Aargau als einziger Kanton über eine gesetzliche Regelung, welche die vollständige elektronisch authentische Publikation der Rechtsvorschriften, unter Verzicht auf die Herausgabe einer gedruckten Rechtssammlung, vorsieht12. Im Gegensatz zu Österreich13, werden auch keine beglaubigten Sicherheitskopien ausgedruckt und archiviert, weil dies die Geltung der elektronischen Fassung zumindest wieder in Frage stellen würde.
2.3.
Die elektronisch-authentische Publikation im Besonderen ^
3.
Ausblick: authentische-konsolidierte Publikation ^
- 1 Der Begriff der „Kundmachung“ ist in der Schweiz nicht gebräuchlich. Stattdessen werden die Begriffe „Publikation“ bzw. „Veröffentlichung“ als Synonyme verwendet.
- 2 Ausführlich zum Thema vgl.: Roth, M., Die Veröffentlichung von Rechtsnormen in der Schweiz, Diss., Bern (2011); der Autor bedankt sich bei Frau Dr.iur. Daniela Ivanov für die kritische Durchsicht des Manuskripts und die wertvollen Anregungen.
- 3 In einzelnen Kantonen ist die chronologische Rechtssammlung Bestandteil des allgemeinen amtlichen Publikationsorgans, dem sog. „Amtsblatt.“ Der Kanton Appenzell Innerrhoden verfügt über kein amtliches chronologisches Publikationsorgan.
- 4 Bundesgesetz über die Sammlungen des Bundesrechts und das Bundesblatt (Publikationsgesetz, PublG), SR 170.512.
- 5 Der Bund und eine Mehrheit der Kantone bemühen sich um eine tagesaktuelle Konsolidierung. Dies bedeutet, dass Rechtsnormen am Tag ihres Inkrafttretens auch in der konsolidierten Sammlung erscheinen. Dies ist bei rückwirkendem Inkrafttreten und ähnlichen Konstellationen naturgemäß nicht möglich.
- 6 Vgl. Roth, M./Ivanov, D., Verbesserungsmöglichkeiten im Bereich der Publikation des interkantonalen Rechts, in: LeGes 2009/2, S. 235 ff., S. 248.
- 7 Die Kantone Obwalden und Waadt verzichten auf eine gedruckte Fassung der systematischen Sammlung. In vielen Kantonen ist die elektronische Fassung der systematischen Sammlung aktueller als die gedruckte Fassung.
- 8 Das Schweizerische Handelsamtsblatt ist das amtliche Publikationsorgan von „Unternehmensanzeigen“, d.h. von Unternehmensgründungen, Mutationen, Konkursen usw.
- 9 Art. 9 Verordnung über das Schweizerische Handelsamtsblatt (Verordnung SHAB), SR 221.415.
- 10 Hingegen wird im dreisprachigen Kanton Graubünden die deutsche Sprache gegenüber dem Italienischen und dem Rätoromanischen bevorzugt.
- 11 Art. 3 Loi sur la législation vaudoise, RSV 170.51.
- 12 § 13 Gesetz über die amtlichen Publikationsorgane, SAR 150.600.
- 13 § 8 Abs. 3 Bundesgesetz über das Bundesgesetzblatt 2004 (Bundesgesetzblattgesetz).
- 14 Botschaft PublG BBl 2003 7716. Diese Überlegungen liegen somit knapp 10 Jahre zurück.
- 15 Dies ist beispielsweise bei der Lösung Österreichs nicht der Fall, weil dort stets ein „Signaturprüfdienst“ in Anspruch genommen wird, der nach einer „Signaturprüfung“ das „authentische“ Dokument jeweils nur anzeigt. Eine Überprüfung der Authentizität eines lokal gespeicherten Dokumentes ist damit nicht möglich. Zudem setzt der „Signaturprüfdienst“ ein Vertrauen in diesen Dienst voraus¨: Der Benutzer des Systems kann nicht nachvollziehen, ob überhaupt eine Signaturprüfung stattfindet und um was für eine Signatur es sich handelt. Er muss somit den Angaben der Webseite des BKA vertrauen.