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Innovationen in der Rechtsinformatik

  • Author: Clemens Wass
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Innovationen-in-der-Rechtsinformatik
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Clemens Wass, Innovationen in der Rechtsinformatik, in: Jusletter IT 29 February 2012
Der Begriff der "Innovation" wurde in den Wirtschaftswissenschaften durch Joseph A. Schumpeter geprägt. Jeder Markt unterliegt Veränderungen, die beispielsweise durch Änderungen in der Gesellschaft oder auch durch technologische Entwicklungen hervorgerufen werden. Die Wirtschaftswissenschaften untersuchen das Thema in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität und zeigen gewisse Muster, Entwicklungen und Chancen auf. Die Rechtsinformatik und das Recht im Allgemeinen können von diesen Erkenntnissen ebenfalls profitieren. Beispiele für innovative rechtliche Services, die den Markt verändern sind rocketlawyer.com und fairplane.de, aber auch Facebook und YouTube Communities als solche haben unmittelbare Auswirkungen auf die etablierte Rechtsordnung.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Recht und Innovation – ein Paradoxon?
  • 2. Definition Innovation
  • 3. Warum Innovation?
  • 4. Der „rechtliche Markt“
  • 4.1. B2C (Business-to-Consumer)
  • 4.2. B2B (Business-to-Business)
  • 4.3. G2C (Government-to-Consumer)
  • 4.4. C2x
  • 5. Quellen der Innovation
  • 5.1. Unerwartete Ereignisse
  • 5.2. Unstimmigkeit zwischen „Ist“ und „Soll“
  • 5.3. Neue Prozessbedürfnisse
  • 5.4. Änderungen in der Industrie- oder Marktstruktur
  • 5.5. Demographische Änderungen
  • 5.6. Änderungen in der Wahrnehmung
  • 5.7. Neues Wissen
  • 6. Chancen für die Rechtsinformatik
  • 6.1. Open Innovation
  • 6.2. User Innovation
  • 6.3. Technological Competence Leveraging
  • 7. Beispiele
  • 7.1. Rocket Lawyer
  • 7.2. FairPrivacy.net
  • 7.3. Der Fall „KitKat“
  • 7.4. Der Fall „United Breaks Guitar“
  • 7.5. Fairplane
  • 7.6. RIS:App
  • 8. Schlussfolgerung
  • 9. Literatur

1.

Recht und Innovation – ein Paradoxon? ^

„Wer ständig glücklich sein möchte muss sich oft verändern.“

Konfuzius

[1]
„Innovationen kommen im Recht nicht vor – jedenfalls nicht so wie man sich das landläufig vorstellt.“ war eine bezeichnende Aussage, die mir auf der Suche nach Innovationen im Recht untergekommen ist. Hört man sich unter Juristen um, bekommt man subjektiv den Eindruck, dass Recht und Innovation im Widerspruch stünden. Doch ist dem tatsächlich so? Und wenn ja, wie können Juristen, Unternehmer, Regierung, Rechtsprechung und Bürger im Bereich der Rechts innovativer werden und ist das überhaupt nötig? Dabei stellt sich die erste Frage: Was bedeutet eigentlich Innovation?

2.

Definition Innovation ^

[2]
Der österreichisch-ungarische Ökonom Joseph Alois Schumpeter (1883 bis 1950) hat den Begriff der Innovation in den Wirtschaftswissenschaften geprägt wie kein anderer. Nach seiner Definition bedeutet Innovation die Einführung neuer Produkte, neuer Produktionsmethoden, die Eröffnung neuer Märkte, die Suche nach neuen Bezugsquellen sowie die Umsetzung neuer Organisationsformen [Schumpeter 2009, 30]. Für Peter Drucker (1909 bis 2005), ein anderer weltberühmter österreichischer Ökonom, ist Innovation ein Hilfsmittel für Entrepreneure, die damit Veränderungen als Chance nutzen um neue Produkte und Dienstleistungen einzuführen [Drucker 2010, 18]. Innovation ist nicht mit Erfindung gleichzusetzen. Vielmehr geht es bei Innovationen darum, Erfindungen nutzbar zu machen und diese den Menschen zur Verfügung zu stellen. Innovation wird auch häufig mit neuer Technologie verbunden, wobei dies nur eine mögliche Quelle für Innovation ist, wie wir noch sehen werden. Dies mag auch ein Grund sein warum die Rechtswissenschaften selten mit Innovation assoziiert werden. Mit neuen Technologien befasst sich fast ausschließlich die Rechtsinformatik als Querschnittsmaterie und andere Möglichkeiten für innovative Veränderungen werden im Recht selten in Betracht gezogen.

3.

Warum Innovation? ^

[3]
Warum sollten die Rechtswissenschaften Gedanken an „Neues“ – abseits von neuen Gesetzen und neuer Rechtsprechung verschwenden? Ist es nicht ausreichend den status quo aufrecht zu erhalten? Frei nach dem Motto: „Veränderung ist gut! Fang du damit an!“ kann es doch auch ausreichend sein sich zurückzulehnen, abzuwarten und gegebenenfalls zu reagieren. Und tatsächlich ist die Strategie des „Followers“ oft erfolgreich. In anderen Märkten, die dynamischer und weniger geschützt sind als jene im Bereich des Rechts, gilt jedoch häufig: „Innovate or Die“ und ein „First Mover Advantage“ ist meist vorteilhaft. Nur wer sich ständig neu erfindet, kann auf Dauer überleben. Hier zeigt sich jedoch auch das „Innovator’s Dilemma“: Innovationen sind häufig nicht erfolgreich, doch ohne Innovation geht das Unternehmen früher oder später am Markt unter [Christensen 1997, 3].
[4]
Im Bereich des Rechts gelten zum Teil eigene Regeln wie es aussieht. Den „perfekten Markt“, bei dem sich Angebot und Nachfrage treffen und somit zu „dem Preis“ führen, gibt es im Bereich des Rechts wohl noch weniger als in anderen Märkten. Gesetzliche Regulierungen, Informationsgefälle, nationalstaatliche Grenzen aber auch Vertrauen und langjährige Bindungen, die zu einem „Locked-In“ Effekt führen, schotten hier Märkte voneinander ab und führen dazu, dass Kunden gerne im gewohnten Umfeld bleiben. Dadurch mag Innovation hier weniger überlebensnotwendig sein als in anderen Bereichen. Vielleicht vermittelt diese Tradition und Beständigkeit sogar ein Sicherheitsgefühl, nach dem viele Kunden suchen. Dennoch: Wer seine bestehende Situation verbessern möchte, kommt schwer darum herum, etwas Neues auszuprobieren. Lediglich dasselbe zu tun wie alle anderen wird dem Unternehmen keine Vorsprung verschaffen.

4.

Der „rechtliche Markt“ ^

[5]
Von „dem“ rechtlichen Markt zu sprechen erscheint schwierig, dennoch gibt es verschiedene Bereiche mit Bezug zum Recht, bei denen Angebot und Nachfrage aufeinander treffen, wobei die nachfolgende Auflistung keinesfalls als abschließend zu betrachten ist.

4.1.

B2C (Business-to-Consumer) ^

[6]
Der Klassiker ist klarerweise die traditionelle Rechtsberatung. Kunden konsultieren den befugten Rechtsanwalt oder Notar, der seine Leistung nach bestimmten Tarifen, Stundensätzen oder – soweit nach nationalem Recht zulässig – nach Erfolg verrechnet (vgl. Bestimmungen der österr. Rechtsanwaltsordnung).
[7]
Steuerberater sind eine weitere Berufsgruppe, die aufgrund intensiver Befassung mit dem Recht wohl auch in den rechtlichen B2C Bereich fallen, auch wenn diese oft nach gesetzlichen Vorschriften keine „Rechtsberatung“ durchführen dürfen (vgl. Bestimmungen der österr. Winkelschreiberverordnung). Doch auch wenn das Gesetz eine Trennung vorsieht, zeigen der Markt und die Praxis jedoch, dass hier sehr wohl gelegentlich Wettbewerb vorliegt.
[8]
Kunden steht es selbstverständlich auch offen sich selbst zu informieren, wofür es Verlage, Datenbankhersteller und Fortbildungsinstitutionen wie Universitäten oder Seminaranbieter gibt, die diesen Bedarf decken. Durch den Grad an Komplexität und durch den regelmäßig vorhanden standesrechtlichen Schutz der rechtsberatenden Berufe, konzertiert sich der B2C Markt allerdings auf die erstgenannte Rechtsberatung.

4.2.

B2B (Business-to-Business) ^

[9]
In den B2B Bereich mit rechtlichem Bezug fallen zu einem guten Teil die Anbieter von Produkten und Dienstleistungen für Experten, wie juristische Verlage und Datenbankanbieter. Darüber hinaus kann auch der Anwalt, der einen anderen Anwalt vertritt, dem B2B Bereich zugeordnet werden.

4.3.

G2C (Government-to-Consumer) ^

[10]
Im Verhältnis Staat und Bürger im rechtlichen Bereich über einen „Markt“ im klassischen Sinn zu sprechen erscheint nicht passend, insbesondere wenn der Staat mit Hoheitsgewalt auftritt. Allerdings „bietet“ der Staat selbstverständlich ebenfalls Dienstleistungen und gelegentlich auch Produkte mit rechtlichem Bezug an. Eine seit Jahrhunderten bestehende „Leistung“ besteht darin, die Bürger über das geltende Recht zu informieren. Datenbanken wie das Rechtsinformationssystem des Staates Österreich (RIS), in dem Gesetze authentisch kundgemacht werden, haben den Zugang zum Recht auf innovative Art und Weise erleichtert. Ebenso informieren Datenbanken der EU in den verschiedensten Bereichen immer transparenter über rechtliche Angelegenheiten, wie z.B. das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt mit Datenbanken über Gemeinschaftsmarken.

4.4.

C2x ^

[11]
Der direkte Einfluss der Konsumenten auf Angebote und Leistungen von Unternehmen und Staat wächst nicht zuletzt aufgrund von Web 2.0 und Social Media enorm. Konsumenten befassen sich selbst mit rechtlichen Themen und nutzen dafür neue Möglichkeiten. Der Konsument mag zwar als juristischer Laie seitens Experten oft belächelt werden und vom Recht (und gelegentlich auch „für“ das Recht) wenig Verständnis haben. Jedoch hat jeder Mensch ein Gerechtigkeitsempfinden und schließlich dient das Recht der Gerechtigkeit. Ob solche Communities die „richtigen“ Entscheidungen vor dem Hintergrund rechtsstaatlicher Grundsätze treffen (können), soll hier nicht diskutiert werden. Es wird ausschließlich auf die Entwicklung hingewiesen. Betrachten wir die aktuellen Trends auf anderen Märkten hinsichtlich der Involvierung der Massen („Crowdsourcing“), dann dürfen wir auch im juristischen Bereich hinsichtlich C2x die eine oder andere Veränderung erwarten.

5.

Quellen der Innovation ^

[12]
Neue Technologien werden häufig als erstes mit Innovation in Verbindung gebracht. Zudem gibt es noch viele weitere Quellen, die Möglichkeiten für neue Produkte und Dienstleistungen bieten und dem Entrepreneur neue Geschäftsfelder eröffnen. Peter Drucker nennt sieben Quellen für Innovation [Drucker 2010]:

5.1.

Unerwartete Ereignisse ^

[13]
So banal es klingen mag: Der unerwartete Erfolg oder der unerwartete Rückschlag können Ausgangspunkte für Innovation darstellen. Die Aufmerksamkeit auf solche Ereignisse zu lenken und diese Ereignisse nicht zu ignorieren kann hilfreich bei der Gestaltung eines neuen Produktes oder einer neuen Dienstleistungen sein. Beispielsweise könnte eine erfolgreiche datenschutzrechtliche Beratung dazu führen, dass ein Anwalt als „externer Datenschutzbeauftragter“ engagiert wird. Ein solcher Erfolg kann ein Indiz dafür sein, dass andere Mandanten ebenfalls solche Leistungen in Anspruch nehmen wollen.

5.2.

Unstimmigkeit zwischen „Ist“ und „Soll“ ^

[14]
Oftmals bestehen Unstimmigkeiten zwischen dem, wie die Welt sein sollte und wie sie wirklich ist. Steuerberater dürfen in Österreich keine Rechtsberatung durchführen und österreichische Rechtsanwälte dürfen kein Erfolgshonorar verrechnen (Quota Litis Verbot). Und dennoch gibt es immer wieder Berichte und Streitigkeiten in diese Richtung. Eine innovative Lösung kann beispielsweise der Zusammenschluss von einem Rechtsanwalt und einem Steuerberater sein.

5.3.

Neue Prozessbedürfnisse ^

[15]
Oftmals ergeben sich Bedürfnisse für neue Prozesse. Gerade im Dienstleistungsbereich spielt eine optimale Gestaltung von Abläufen eine wichtige Rolle um keine kostbare Zeit zu verschwenden (wobei zugegebenermaßen bei einer Abrechnung nach Zeiteinheit eine Optimierung sogar für den Berater kontraproduktiv sein kann). Ein Rechtsanwalt mit einem international tätigen Konzern als Mandanten kann sich beispielsweise mit anderen Kanzleien abstimmen, um diese neue Anforderung zu meistern.

5.4.

Änderungen in der Industrie- oder Marktstruktur ^

[16]
Mechanismen in der Industrie- oder Marktstruktur werden häufig als „gottgegeben“ wahrgenommen. Doch auch diese können sich ändern. Seit erlaubt wurde, dass sich Rechtsanwälte in Kapitalgesellschaften zusammenschließen dürfen, kann statistisch gut nachvollzogen werden, welche finanziellen Vorteile Großkanzleien gegenüber einzelnen Rechtsanwälten haben. In sehr vielen Märkten kommt es zu einem „End Game“, bei dem der Markt letztlich zwischen wenigen Unternehmen aufgeteilt ist. In der Wirtschaftsprüfung kann dieser Effekt mit den „Big Four“ gut beobachtet werden.

5.5.

Demographische Änderungen ^

[17]
Demographische Änderungen in der Bevölkerungsstruktur sind verlässliche Informationsquellen mit langen Vorlaufzeiten. Die zunehmende Überalterung in Mittel- und Westeuropa ist kein Geheimnis und wird beispielsweise Auswirkungen auf die Pensionssysteme haben. Ein Berater, der sich auf die rechtlichen Bedürfnisse von älteren Menschen spezialisiert, wird in Zukunft vermutlichen keinen Mangel an Mandanten erleben.

5.6.

Änderungen in der Wahrnehmung ^

[18]
Fällt Ihnen auf, dass seit den letzten Jahren plötzlich alles möglichst umweltverträglich, ökologisch und „grün“ sein muss? Auch wenn es sich oftmals leider nur um „Greenwashing“ handelt, haben sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung und die Stimmung in der Bevölkerung verändert und neue Chancen für Innovationen hervorgebracht. Wie ist die Stimmung gegenüber Rechtsanwälten und wie positionieren sich diese? IBM wurde immer mit Anzügen und Krawatten assoziiert, Microsoft und Apple mit T-Shirts und Jeans... Gewagt? Vielleicht...

5.7.

Neues Wissen ^

[19]
Die „Superstars“ in der Innovation, wie Drucker es nennt, sind jene, welche auf neuem wissenschaftlichen, technischen oder sozialem Wissen basieren. Diese Innovationen sind oft bekannt und können radikale Veränderungen herbeiführen. In der Welt der Rechtswissenschaften haben wohl Rechtsdatenbanken und Expertensysteme enorme Veränderungen bewirkt. Welcher Wirtschaftstreibende kann sich heute noch vorstellen in die Bibliothek zu gehen?
[20]
Die Rechtsinformatik als interdisziplinäre Wissenschaft zwischen Recht und Informatik kann wohl als Zentrum der Innovationsquelle „Neues Wissen“ bezeichnet werden. Im Bereich der Rechtswissenschaften spielen festkörperliche Produkte eine untergeordnete Rolle. Am „greifbarsten“ sind allenfalls noch Verkehrszeichen, die das Recht dem Bürger auf anschauliche Weise näher bringen – auch diese waren bei ihrer Einführung eine Innovation.

6.

Chancen für die Rechtsinformatik ^

[21]
Pablo Picasso meinte „Gute Künstler kopieren. Großartige Künstler stehlen.“ Kaum eine Erfindung beruht auf der Leistung eines einzelnen, beinahe alles das wir kennen, beruht in der einen oder anderen Form auf den Vorarbeiten anderer. Wir sind eben „Zwerge auf den Schultern von Giganten“, wie es Sir Isaac Newton ausdrückte. Wie anfangs erwähnt geht es bei Innovation nicht um neue Erfindungen, sondern darum Neues anwendbar zu machen. Aus diesem Grund braucht die Rechtsinformatik nicht zwangsläufig neues zu Erfinden, es reicht oftmals schon aus bestehendes Wissen für eigene Zwecke nutzbar zu machen. Es gibt verschiedene Ansätze um zu neuem Wissen zu gelangen.

6.1.

Open Innovation ^

[22]
Henry W. Chesbrough hat den Begriff „Open Innovation“ bekannt gemacht [Chesbrough 2003]. Dabei geht es vereinfacht gesagt darum a) Wissen von außerhalb in die eigene Organisation einfließen zu lassen, um zu besseren eigenen Produkten und Dienstleistungen zu gelangen; und b) eigenes Wissen zu verwerten indem dieses selbst oder durch andere auf neuen Märkten angewendet wird.
[23]
Um zu diesem Wissen zu gelangen kann einerseits selbst aktiv nach dem jeweiligen Experten gesucht werden, der vermutlich über die beste Lösung verfügt. Je mehr Befragte zu demselben Experten verweisen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser auch der ultimative Experte ist („Pyramiding“). Der andere Ansatz besteht darin, das jeweilige Problem zu publizieren und dieses bekannt zu machen und anstatt einer einzelnen Person eine breitere Masse zu befragen, die für dieses Problem eventuell eine Lösung hat („Broadcasting“). Mit einem solchen Broadcasting Ansatz arbeiten beispielsweise auch Innovationsplattformen.

6.2.

User Innovation ^

[24]
Kunden aktiv in den Innovationsprozess miteinzubeziehen ist ebenfalls eine Ausgestaltung von Open Innovation. Was bringt die schönste Erfindung wenn sie am Ende von dem Kunden und dem Markt nicht angenommen wird und in der Schublade verschwindet? Möglichkeiten sich nach den Kundenbedürfnissen zu orientieren sind die Etablierung von User Innovation Communities, die Ausschreibung von User Idea Generation Contests, das Bereitstellen von Toolkits, bei den sich die Nutzer quasi ihre eigene Lösung zusammenstellen sowie die Lead User Methode. Die Lead User Methode beruht auf der Annahme, dass gewisse Gruppen von Nutzern Bedürfnisse vor der breiten Masse verspüren und selbst an eigenen Lösungen basteln, die am Markt noch nicht von professionellen Herstellern angeboten werden. Dabei muss es sich bei einem Lead User nicht unbedingt um einen Kunden im bestehenden Markt handeln, es kann auch ein Kunde in einem analogen, vergleichbaren Markt vor solchen Problemen stehen. Mitunter ist das Problem im analogen Markt bereits sogar gelöst [vgl. Franke, von Hippel, Schreier, 2005]. Legisten stehen beispielsweise vor ähnlichen Herausforderungen wie Zeitungen und Verlage, die mit professionellen Redaktionssystemen arbeiten, um Versionierung, Durchgängigkeit, Zusammenarbeit mit Kollegen etc. in den Griff zu bekommen. Anbieter einer Lösung für den einen Markt haben oft schon ein Produkt für einen analogen Markt, ohne es selbst zu wissen.

6.3.

Technological Competence Leveraging ^

[25]
Oft wird vorhandenes Wissen nicht verwertet. Technological Compentence Leveraging zielt darauf ab, dieses Wissen anwendbar zu machen. Diese Thematik mag zwar für Pharmaunternehmen, die tausendfach chemische Substanzen entwickeln einschlägiger sein, aber auch in der Rechtsinformatik kann es vorkommen, dass Technologien zur Verfügung stehen, deren volles Potential nicht ausgereizt wird. Betrachtet man etwa die digitale Signatur, so wird man feststellen, dass es diese zwar dem Grunde nach gibt, jedoch dass in der Praxis eine wirkliche Killerapplikation dafür noch fehlt. In Verbindung mit Smartphones und der Handy-Signatur steigt jedoch der Komfort und in Verbindung mit den entsprechenden Dienstleistungen (z.B. eTresor) kann hier eine entsprechende Akzeptanz des Marktes entstehen.

7.

Beispiele ^

[26]
Zugegeben, einem Expertenforum im Bereich der Rechtsinformatik radikale Innovation vorzustellen, die noch gänzlich unbekannt sind, ist beinahe denkunmöglich. Dennoch sei das eine oder andere Beispiel erwähnt, das vielleicht für den Rechtsinformatiker nicht absolut nahe liegt, aber dennoch eine Verbindung aus Recht und Informatik darstellt und innovativen Charakter besitzt.

7.1.

Rocket Lawyer ^

[27]

Rocket Lawyer (www.rocketlawyer.com) ist ein aus den USA stammender Service, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, die Erstellung von Verträgen zu automatisieren und damit einer breiten Masse von Kunden kostengünstig aber dennoch in gewissem Grad personalisiert („Mass Customization“) online zur Verfügung zu stellen. Die Basis sind einfache Standardverträge und die Kunden werden durch simple Abfrageroutinen geführt, wodurch sich der Vertrag entsprechend der Antwort adaptiert. Hier wird deutlich, dass es für eine Innovation nicht unbedingt einer umwerfenden Erfindung bedarf. Vielmehr werden bestehende Faktoren genutzt um eine neue Leistungsdimension zu schaffen. Natürlich entspricht ein solcher Vertrag nicht gänzlich einem manuell erstellten Vertrag, der auf einem Beratungsgespräch beruht. Offenbar hat aber Rocket Lawyer ein Bedürfnis des Marktes entdeckt, denn der Service wird genutzt, wächst und hat über England bereits seinen Weg nach Europa gefunden. Darüber hinaus ist Rocket Lawyer scheinbar auch so erfolgreich, dass sich etablierte Rechtsanwälte leid sehen, denn Rocket Lawyer ist in den USA bereits heftig in Diskussion geraten. Die Zulässigkeit und Qualität soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, das Interesse an diesem Service zeigt jedoch, dass Kunden ein Bedürfnis nach einfach zugänglichen, kostengünstigen Verträgen verspüren.

7.2.

FairPrivacy.net ^

[28]

In eine ähnliche Richtung steuert das Projekt FairPrivacy.net (www.fairprivacy.net), das sich derzeit noch in einer Startphase befindet. Die Plattform möchte im Bereich des Datenschutzes mehr Transparenz erzeugen und Nutzern die Durchsetzung der datenschutzrechtlichen Ansprüche auf Auskunft, Löschung und Richtigstellung nach §§ 26 und 27 DSG 2000 erleichtern. Eine Abfrage kann einerseits standardisiert erfolgen, ähnlich wie bei Rocket Lawyer. Darüber hinaus können generische, allgemeine Informationen über Datenverarbeitung von den Nutzern nach erfolgreicher Abfrage in die Plattform übertragen werden (soweit das datenverarbeitende Unternehmen dem zustimmt) und dadurch Transparenz erzeugen. Es ist quasi ein „umgekehrtes“ Social Network, bei dem nicht die Nutzer von den Unternehmen beobachtet werden, sondern bei dem die Nutzer die Unternehmen beobachten.

7.3.

Der Fall „KitKat“ ^

[29]
Wie stark der Einfluss von Social Media sein kann zeigt der KitKat Fall. Nestlé hat sich trotz Interventionen von Greenpeace & Co nicht aus einem Urwaldgebiet zurückgezogen, das für die Produktion von Palmenöl gerodet wurde, welches für den KitKat Schokoladeriegel verwendet wird. Durch die Zerstörung des Waldes wurde auch eine bedrohte Orang-Utan Art bedroht. Greenpeace hat daraufhin über FaceBook und YouTube Aktionen gestartet, um auf dieses Verhalten aufmerksam zu machen. Nach missglückten Zensurversuchen seitens Nestlé zog sich der Konzern letztlich aus dem Gebiet zurück.
[30]
Was das mit Rechtsinformatik zu tun hat? Dieser Fall veranschaulicht, dass über Social Media (Informatik) heute – und in Zukunft vermutlich noch viel stärker – das Gerechtigkeitsempfinden (Recht) einer breiten Masse durchgesetzt werden kann. Hätte Greenpeace oder einer der hunderttausend User, die den Greenpeace Beitrag auf der Nestlé Facebook Seite mit einem „Like“ versehen haben, einen Rechtsanspruch auf diesen Rückzug gehabt? Wohl kaum.

7.4.

Der Fall „United Breaks Guitar“ ^

[31]
„United Breakes Guitar“ ist ein ähnlicher Fall, der näher an Vertragsbedingungen und somit näher am „Recht“ liegt und gleichzeitig auch einen äußerst hohen Unterhaltungswert bietet. Ein Musiker musste beobachten, wie seine geliebte Gitarre beim Gepäcktransport auf grob fahrlässige Art zu Bruch ging. Die AGB der Fluglinie United Airlines haben selbstverständlich jegliche Haftung ausgeschlossen und auch der Kundenservice zeigte sich wenig kulant. Was macht ein kreativer Musiker an dieser Stelle? Er beauftragt keinen Anwalt, der in Österreich die AGB einer Inhalts- und Geltungskontrolle (vgl. §§ 864a und 879 ABGB) unterziehen würde, sondern schreibt einen Song über die Geschichte und veröffentlicht das dazu passende Video auf YouTube. Die Verkaufszahlen haben ihn vermutlich um ein paar Dollar reicher und United Airlines um ein paar (Millionen) Dollar ärmer gemacht.
[32]
Auch hier zeigt sich die Stärke des C2x Aspekts. Natürlich kann jetzt nicht jeder einen Song über seinen Rechtsstreit schreiben, aber viele Bewertungsplattformen zeigen in eine klare Richtung. Internet Nutzer werden über nationalstaatliche Grenzen verstärkt darüber entscheiden, was aus ihrer Sicht gut und „recht“ ist.

7.5.

Fairplane ^

[33]
Auch das letzte Beispiel spielt sich am Flughafen beim Warten auf den nächsten Flieger ab. Die Plattform Fairplane (www.fairplane.net) verhilft Passagieren auf einfache Art zu dem Schadenersatz, der diesen gesetzlich bei Flugverspätungen zusteht. Damit unterstützt die Plattform die Rechte nach der europäischen Verordnung EG Nr. 261/2004. Bei Verspätung hilft ein Blick auf die Website von Fairplane und durch die Anbindung an verschiedene Flugdatenbanken scheinen dort bereits die schadenersatzberechtigten Flugverbindungen auf. Der Passagier kann sich einfach anmelden und seinen Anspruch geltend machen, Fairplane leitete diesen dann an die Fluglinie weiter. Der Passagier trägt kein Risiko, da Fairplane sich nur im Erfolgsfall eine Provision abzieht.
[34]
Dieser Service hat eindeutig einen rechtlichen Charakter und nutzt zu einem großen Teil bestehende Strukturen wie die Datenbanken. Der Passagier freut sich über einen innovativen Service, der ihn nur einen geringen Prozentsatz seines Schadenersatzanspruches kostet (den er ansonsten vermutlich gar nicht geltend gemacht hätte) und das Unternehmen freut sich über die Erfolgsprovisionen. Weniger glücklich werden die Fluglinien sein, doch diese finden sicherlich andere Wege für Innovation, wie etwa die gut bekannte Preisdifferenzierung. Fluglinien sind Spezialisten dafür. Oder haben Sie schon einmal einen Sitznachbarn im Flugzeug gehabt, der denselben Preis bezahlt hat wie Sie?

7.6.

RIS:App ^

[35]
Gemeinsam mit den Computerwissenschaften der Universität Salzburg und mit Genehmigung durch das österreichische Bundeskanzleramt entwickelt right2innovation eine mobile Applikation („App“) für das Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS). Die Entwicklung befindet sich zum Zeitpunkt der IRIS 2012 in einem finalen Prototypenstatus. Die RIS:App steht im Frühjahr 2012 zum Download bereit und wird einen noch einfacheren Zugang zum österreichischen Recht ermöglichen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Innovation oft in kleinen und durchaus naheliegenden Schritten geschieht.

8.

Schlussfolgerung ^

[36]
Innovation steht für die Einführung neuer Produkte und Dienstleistungen. Es bedarf nicht unbedingt einer neuen Erfindung um innovativ zu sein. Die Verbindung und neue Kombination von bestehendem Wissen ist ausreichend um den Rechtswissenschaften neue Möglichkeiten zu eröffnen. Gerade für die Rechtsinformatik ist es sinnvoll, mit bestehenden Mitteln Lösungen zu schaffen, die den Rechtsanwendern neue Möglichkeiten eröffnen. Vorrangiges Ziel ist dabei die Kundenorientierung. Nur Produkte und Dienstleistungen, die von den Kunden auch tatsächlich angenommen und genutzt werden, können auf Dauer bestehen. Oder zumindest bis sie von der nächsten Innovation abgelöst werden.

9.

Literatur ^

Chesbrough, Henry W., A Better Way to Innovate, Harvard Business Review, July 2003 (2003).

Chesbrough, Henry W., The Era of Open Innovation, MIT Sloan Management Review, Spring 2003 (2003).

Chesbrough, Henry W., A, Garman, Andrew R., How Open Innovation Can Help You in Lean Times, Harvard Business Review, December 2009 (2009).

Christensen, Clayton M., The Innovator’s Dilemma, Harvard Business School Press, Boston, MA, USA (1997).

Drucker, Peter, Innovation and Entrepreneurship, Butterworth-Heinemann, Burlington, MA, USA (2010), Erstveröffentlichung Butterworth-Heinemann (1985).

Drucker, Peter, The Discipline of Innovation, Harvard Business Review (1998).

Franke, Nikolaus, von Hippel, Eric, Schreier, Martin, Finding Commercially Attractive User Innovations: A Test of Lead User Theory, MIT Sloan School of Management, http://ssrn.com/abstract=721182 aufgerufen: 6.1.2012 (2005).

Schumpeter, Joseph A., Essays: On Entrepreneurs, Innovations, Business Cycles, and the Evolution of Capitalism, Transaction Publishers, New Brunswick, NJ USA, 11. Auflage (2009), Erstveröffentlichung Addison-Wesley Press (1951).