Jusletter IT

Transformation des Menschenbildes

  • Authors: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer
  • Category: Short Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Visualisation
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Marie-Theres Tinnefeld / Friedrich Lachmayer, Transformation des Menschenbildes, in: Jusletter IT 29 February 2012
Das Menschenbild ist eine virtuelle Entität, den Memen vergleichbar. Der moderne Begriff der Privatheit kann als virtuell-territorialer Ausdruck des Menschenbildes interpretiert werden. Der Bezug zur Rechtsinformatik findet sich bei den Hybridformen, in der Antike etwa die Tiermenschen, heute sind es Maschinenmenschen und Menschmaschinen. Derzeit sind Maschinen noch nicht als juristische Personen rechtlich anerkannt, bei dem Computer könnte es geschehen. Das Thema der Transformation des Menschenbildes kann daher auf Transformationen der Person ausgeweitet werden, wobei das Wort „Person“ schon selbst wiederum Transformationen in sich birgt, von der etruskischen Maske hin zu dem heutigen Status- und Identitätssymbol der Lebenden und schließlich zu AI-kompetenten Rechtsmaschinen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Kontext der Maschinenkultur
  • 2. Wer ist der Mensch?
  • 3. Personalität von Maschinen – Maschinen mit Menschenbild
  • 4. Menschensprache - Maschinensprache
  • 5. Hardware – Software – Illusionware
  • 6. Von den Anfängen
  • 7. Persönlichkeitsschutz
  • 8. Freiheit auf Gegenseitigkeit
  • 9. Grundrechtsschutz
  • 10. Das Tier in Kafkas Bau
  • 11. Subsumption als Zentrum
  • 12. Subsumption des geänderten Menschenbildes
  • 13. Methodischer Ausblick: Multisensorisches Recht
  • 14. Fazit

1.

Kontext der Maschinenkultur ^

[1]
Es hat den Anschein, dass die Rechtinformatik vor Allem technisch ausgerichtet ist. Dabei geht es um die Konstruktion von Maschinen, welche das Recht entweder zeichenmäßig repräsentieren oder welche in der Lage sind, die Produktion des Rechts oder dessen Anwendung zu unterstützen. Zu dieser Aufgabenstellung zählen auch die rechtlichen Ontologien, welche ebenfalls von einem logischen und technischen Verständnis an dieses Thema herangehen.
[2]
Nehmen wir an, dass diese Zielsetzungen der Rechtsinformatik und damit die strukturelle Transformation der Produktion des Rechts als auch der Repräsentation der Rechtsinhalte gelingen kann, so stellt sich dennoch die Frage, was damit erreicht ist.
[3]
Wahrscheinlich sind wir mitten in der Phase, in der das Recht von einer Maschinen- bzw. von einer IT- Kultur bestimmt wird. Die Rechtsinformatik und ihre Forderungen sind Ausdruck dieser technisch bestimmten Kultur.
[4]
Die Themen der Rechtsinformatik können von Innen, von den eigentlichen Zielfunktionen her gesehen werden, und von außen, nämlich von den Kontexten her, unter anderem von den Perspektiven des Mainstreams.
[5]
Bei der Maschinenkultur wiederholen sich Denkformen, welche am Anfang der Menschheitsgeschichte stehen, nämlich des Schaffens nach dem eigenen Ebenbilde. In der Theologie wurde dies als Imago- Lehre bezeichnet. Die damit beschriebene Situation soll es möglich machen, Gott personal anzusprechen, etwa als „Unser Vater“. Nikolaus von Kues nimmt in seinem Text „Über die Schau Gottes“ (1453) eine Gegenposition ein. Er kontrastiert den unendlichen Blick (visus) Gottes mit dem endlichen Blick seiner Geschöpfe.1 Er macht damit auf subtile Art die Grenzen deutlich, die den Blick des Schöpfers von dem des Geschöpf unterscheiden.
[6]
In dem Schaffen der Maschinen durch den Menschen taucht großflächig die ursprüngliche Versuchung des Menschen wieder auf, sich ihm partiell ähnliche Wesen zu schaffen und damit die Imago-Situation zu duplizieren, was nicht nur in der Perspektive des Cusaners problematisch sein dürfte.
[7]
Damit kommen wir zu der Frage wie das Bild (Imago, Image) des Menschen zu deuten ist und welche Transformationen durch den Vorgang der Maschinenkreation auftreten. Es ist dies einer der maßgeblichen Kontexte, in deren Rahmen Rechtsinformatik stattfindet.

2.

Wer ist der Mensch? ^

[8]
Seit dem Beginn der Menschheit gehört die Frage „Wer ist der Mensch?“ zu ihren Urthemen. Angesichts der digitalen Bilderflut, die in endlosen Wellen die Welt überzieht, stellt sich auch die Frage nach dem Wert dieser Bilder, die die menschliche Selbstwahrnehmung, Selbst und Fremddarstellung entscheidend mitbestimmen. Das Menschenbild ist eine virtuelle Entität, gestalthaft, besteht nicht aus Texten, kann aber mit Texten beschrieben werden. Menschbilder sind kulturell geprägt und werden durch Sozialisation und Kommunikation vermittelt. Wie sind sie gestaltet, wenn sie zu einer virtuellen Entität werden und von Informationen eingekleidet werden?
[9]
Das Menschenbild tritt in verschiedenen Varianten auf, etwa als Selbstbild oder als Fremdbild. Ein eigenes Thema sind antizipierte Menschenbilder, sei es Selbstbilder oder Fremdbilder. Die Antizipation kann selbst wiederum Gegenstand der Antizipation sein. In der Praxis sind solche mehrfachen Antizipationen durchaus von Bedeutung, oft auch durch kognitive Junktims miteinander verbunden. Menschenbilder können gleich aber auch ungleich konzipiert sein. Dem Streben nach Vorrang tritt kompensatorisch die Vorstellung von Gleichheit entgegen. Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 sind Menschenbilder mit einem bestimmten Wertesystem so verbunden worden, dass sie auch subjektiv von der Menschheit akzeptiert werden konnten. Tatsächlich liegt der Mensch heute durch die digitale Datenverarbeitung an der Kette von Fremdbildern, die als Selbstbilder auferlegt werden, und gleichzeitig entstehen Selbstbilder, die zu Fremdbildern werden.
[10]
Sehr viele Lebewesen sind revierbezogen. Das gilt auch für das Menschenbild, dem ein zumindest virtuelles Revier zugeordnet werden kann. Der moderne Begriff der Privatheit etwa kann als virtuell-territorialer Ausdruck des Menschenbildes interpretiert werden.
[11]
Der Bezug zur Rechtsinformatik findet sich bei den Hybridformen. In der Antike waren die Hybridformen von Tiermenschen und Gottmenschen ein Thema, heute sind es Maschinenmenschen und Menschmaschinen. Das Recht wird derzeit grundsätzlich von institutionellen Entitäten erzeugt, z.B. die Gesetze vom Parlament. In Zukunft werden es immer mehr die Rechtsmaschinen sein, welche in multisensorischer Weise Situationen rechtlich gestalten. Das wirkt sich auf die Kommunikationen aus. Die bisherige Kommunikation zwischen Menschen wird zu einem großen Teil durch Mensch-Maschinen-Kommunikationen abgelöst, welche auch Anteile der Kommunikation mit Institutionen übernehmen werden.

3.

Personalität von Maschinen – Maschinen mit Menschenbild ^

[12]
Derzeit sind Maschinen noch nicht als juristische Personen rechtlich anerkannt. Im Verhältnis zum Computer könnte sich die Situation ändern. Denkbar wäre auch, dass elektronischen Registern rechtliche Behördenqualität verliehen wird und dass dann die Bescheide von dieser e-Behörde direkt in eigenem Namen ausgestellt wird. Das Thema der Transformation des Menschenbildes kann daher auf Transformationen der Person ausgeweitet werden, wobei das Wort „Person“ schon selbst wiederum Transformationen in sich birgt, etwa die von der etruskischen Maske hin zu dem heutigen Status- und Identitätssymbol der Lebenden. Doch ist die Entwicklung des Menschenbildes als auch des Personsbegriffes angesichts der aufkommenden Maschinenkultur und der beginnenden Dominanz virtueller Welten keineswegs abgeschlossen.

4.

Menschensprache - Maschinensprache ^

[13]
Wenn man davon ausgeht, dass das Denken das Ich konstituiert, im Sinne des „cogito ergo sum“ (auch als „cogito ergo ‘ego‘ sum“ zu lesen) und wenn man weiter annimmt, dass das Denken bei den meisten Menschen dominant sprachlich ist, dann hat die Sprache nicht nur eine kommunikative Funktion zwischen den Menschen sondern auch eine Ich-konstituierende für den einzelnen Menschen selbst.
[14]
In der Neuzeit wandte man sich von der Textualität der heiligen Bücher hin zu dem Buch der Natur und entdeckte, dass dieses in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Die Strukturen der Dinge sind gleichsam die Ziffern, hinter dem das Zahlensystem der Natur verborgen ist, das aber von Menschen mit dem neuen Bewusstsein gelesen werden kann.
[15]
Die Menschen zählen mit unterschiedlichen Ziffernsystemen: mit Fingern, mit Würfelaugen, mit lateinischen Ziffern und mit arabischen Ziffern. Das digitale Ziffernsystem ist für die Maschinen gut, nicht für die Menschen. Auch die Logik der Programmierung ist eine Sprache, die dem Menschen im Alltag nicht intuitiv zugänglich ist.
[16]
Wenn aber die Innenwelt der Menschen und der Maschinen strukturell verschieden ist, dann wirkt sich das auch auf die Außenwelt aus. Dieser Themenbereich berührt direkt die Normenlogik, zum Teil auch die Rechtsvisualisierungen, wobei dort wiederum zwischen maschinellen Visualisierungen und intuitiven Visualisierungen zu unterscheiden ist.
[17]
Die Verschiedenheit von Menschensprache und von Maschinensprache ist auch ein rechtliches Thema. Die Rechtstexte sind in der Menschensprache verfasst, sie sind öffentlich und können von den Leuten gelesen werden. JURIS wie RIS unterstützen dies nur. Anders bei der Maschinensprache. Die Programmierung der Rechtsmaschinen ist den Leuten unzugänglich, was aber massive Auswirkungen auf den Rechtsschutz hat. Es gibt derzeit noch kein rechtsförmliches Verfahren, das dem Einzelnen ein Recht auf Änderung der Programmierung von Rechtsmaschinen eingeräumt.

5.

Hardware – Software – Illusionware ^

[18]
Die produzierten virtuellen Welten sind von der Hardware wie von der Software verschieden und können daher auch gesondert begrifflich erfasst und benannt werden. Gerade bei der Illusionware spielen die verschiedenen Menschenbilder mit den diversen Hybridformen zu den Tieren und zu den Maschinen, aber auch zu den Außerirdischen wie zu den Geistern eine große, den Alltag aufhebende Rolle.
[19]
Das Hineinnehmen dieser Menschenbildangebote und sonstigen Projektate der Illusionware in die Innenwelt kann ein Problem sein. Die Bilder können zum inneren Spiegel werden, dem appellativer und normativer Gehalt zukommen kann. Es kann sein, dass diese importierten Innenweltentitäten das Defizit von Persönlichkeitskomponenten auffüllen und insofern komplettierend wirken. Es kann aber auch anders kommen. Es gibt nicht nur Migration und Transmigration in der sozialen Außenwelt sondern diese Bewegungsformen können auch in den Mentalwelten auftreten.
[20]
Auch die Memetik, welche von als Vitalitäten gedachten Universalien handelt, von den Memen in bewusster Analogie zu den Genen, geht in die Richtung, sich die Innenweltentitäten näher anzusehen.
[21]
Ebenso waren die Banner- und Wappentiere, denen die Bewaffneten nachzogen, um ihr Ende zu finden, so eine Art von früherer Illusionware, aber höchst herrschaftsrelevant.

6.

Von den Anfängen ^

[22]
Es gibt zahlreiche rechtliche Ansätze, um über das Finden, Verwerfen, die Wandlung und Verwandlung des Menschenbildes in Friedenszeiten und Revolutionen, in bleiernen Zeiten und ruhelosen Unstetigkeiten, in der physischen und virtuellen Welt nachzudenken. Bei den zahlreichen Ursachen einer Transformation des Menschenbildes ist es naheliegend bei der Ursprungs- und Wesensgeschichte des Menschen anzuknüpfen. In diesem Zusammenhang spielt ein Schlüsseldokument aus der Geschichte der Anthropologie eine Rolle: Kants Essay „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“.2
[23]
Nach Kant lässt sich zwar der Anfang der Menschheitsgeschichte wegen fehlender Fakten und Zeugen nicht erzählen. Trotzdem hält er es für möglich, „Mutmaßungen“ anzustellen, wo die Fiktion Leerstellen des Faktischen ausfüllen kann.. Kant bedient sich dazu einer heiligen Urkunde des Alten Testaments: der Schöpfungs- und Paradiesgeschichte.3 Im Erbfluch des Sündenfalls sieht er vor allem die Chance für den Menschen, sich in die Aufklärung hinein zu bilden. Kant betont, der Mensch habe sich „von allen Übeln, die aus dem Missbrauch seiner Vernunft entspringen, die Schuld gänzlich beizumessen [...], in dem er sich sehr wohl selbst bewusst werden kann, er würde sich in denselben Umständen gerade eben so verhalten, und den ersten Gebrauch der Vernunft damit gemacht haben, sie (selbst wieder den Wink der Natur) zu missbrauchen“.4 Kant kommt so zu einem optimistischen Konzept für das sich aufklärende einzelne Subjekt wie auch für die Menschheit als Ganzes.

7.

Persönlichkeitsschutz ^

[24]
Von zentraler Bedeutung ist für Kant die Vorstellung von „autonomer“ Freiheit. Sie muss letztlich nicht von der Handlung, sondern vom handelnden Menschen und seinen menschenspezifischen Eigenschaften her verstanden werden. 5 So gesehen hat sie Eingang in die Grund- und Menschenrechtserklärungen gefunden, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges den Schutz der Würde des Menschen als obersten Wert an ihre Spitze stellen. Sie ist verbunden mit dem Recht auf Privatheit wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK) und fast wortgleich in der EU Grundrechte Charta (Art. 7 GRC und als Recht auf Datenschutz in Art. 8 GRC) enthalten ist. Es soll dem Einzelnen die Chance geben, sich selbst zu entfalten.6 Im Zentrum der Überlegung steht dabei nicht nur der innere Prozess der Selbstfindung einer Person. Die Entwicklung der Persönlichkeit ist auch ein kommunikativer Vorgang. Desto genauer die Vorstellungen sind, die sich andere von der eigenen Person machen, desto schwieriger kann es sein, dem Anderen ein abweichendes eigenes Selbstbildnis entgegenzuhalten.
[25]
Von großer Relevanz für den menschen- und grundrechtlich verankerten Persönlichkeitsschutz ist die kulturelle Karriere jener technischen Medien, die Menschen und Menschengemeinschaft neu organisieren. Durch die digitalisierten Medien, maßgeblich durch die Informations- und Kommunikationstechnologie herbeigeführt, ist die Neufassung dessen erfolgt, was Niklas Luhmann bereits 1994 als die „Herstellung von Individualität“ bezeichnet hat.7 Der Rechtssoziologe Luhmann hat damit das technische Medium der Kommunikation gemeint, wie es im 20. Jahrhundert durch das Telefon in die Welt kam. Die technische Verbindung zwischen den Menschen ereignet sich im 21. Jahrhundert durch „transportierte“, digitalisierte Texte, Stimmen und multimediale Bilder u.a. auf Facebook oder in anderen sog. sozialen Netzwerken. Die neuen Medien sind ambivalent. Sie dienen nicht nur der Persönlichkeitsentfaltung.

8.

Freiheit auf Gegenseitigkeit ^

[26]
Entfaltung ist ein zwischenmenschlicher Vorgang, der sich in einer Situation abspielt, an deren Figuration regelmäßig mehrere Personen beteiligt sind. Die Entfaltung des Menschen ist „ein bi- und multilateraler Prozess“, eine Freiheit auf Gegenseitigkeit.8 . Dieser Satz bekommt einen anderen Klang und einen anderen Gehalt, wenn der eine nur seine eigene Freiheit durch den Anderen, aber der Andere sich nicht frei durch den einen entfalten kann (Entfaltungsdienerschaft; Erzeugung von Fremdbildern). Diese Vermutung legen Kommunikationsvorgänge in bestimmten Internetbereichen nahe. Einerseits können sie zur Vereinsamung führen, wenn sich die Teilnehmer aus der räumlichen (körperlichen) Privatsphäre im engeren Sinn entfernen, Intimes und Privates medial ausbreiten. Andererseits sind sie „Therapie“ eben dieser Vereinsamung mit der Versuchung, sich in allzu präzise Identitätserwartungen Anderer einbinden zu lassen.9 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber auch, dass der multimediale Informationsaustausch zwei und mehr Lebensläufe der Kommunikationspartner in Gang setzen kann, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen können. So gesehen wird ihnen das eigene Lebenswissen entfremdet. Die veränderte Wahrnehmung kann die freie und selbstverantwortliche Entfaltung der Persönlichkeit privat, familiär oder beruflich zum Scheitern bringen. In seiner Erzählung „Die Strafkolonie“ findet sich bei Franz Kafka10 mit der am Körper des Delinquenten arbeitenden Hinrichtungsmaschine eine Vorstellung davon, wie sich diese Entwicklung anfühlt.

9.

Grundrechtsschutz ^

[27]
Für autonome Freiheit, gegen Fremdherstellung von Individualität in Form der „Diktatur von Information“11 aus sozialen Netzwerken12 oder eigenen IT-Systemen sprechen das Recht auf Privatsphäre und der Datenschutz in der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK) und der EU-Charta der Grundrechte (Art. 7 und Art. 8 GRC). Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das unter den Bedingungen der neuen Technologien bzw. der digitalen Medien aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) nicht nur das informationelle Selbstbestimmungsrecht bzw. Grundrecht auf Privatheit und Datenschutz,13 sondern auch ein IT-Grundrecht14 geschöpft hat, das die Privatheit gegen die heimliche Durchleuchtung des eigenen IT-Systems schützen soll. Damit erweitert das Gericht den gefährdungsspezifischen technischen Grundrechtsschutz. Es wendet sich gleichzeitig gegen die Grenzenlosigkeit und Maßlosigkeit des einseitig am Sicherheitsideal orientierten Präventionsdenkens im Rahmen der Terrorbekämpfung, etwa durch „Staatstrojaner“.15
[28]
Trojanische Pferde waren schon in mythischen Zeiten bekannt. Damals handelte es sich technisch um ein Holzpferd, mit dem der listenreiche Odysseus die Trojaner mit Lug und Trug dazu brachte, ihre lange vergeblich berannten Mauern eigenhändig einzureißen und die Feinde in die Stadt zu lassen. Heute setzt der Staat „Regierungs-Maleware“ ein, um die IT-Systeme seiner Bürger nach deren Kommunikations- und Nutzungsverhalten zu durchforschen. Ähnliches versuchen auch Dritte erfolgreich, etwa kriminelle Hacker (Cracker). Die Heimlichkeit der Infiltration eines Systems gefährdet dessen Integrität und Vertraulichkeit und ermöglicht die Herstellung von Bildern des Menschen, die zu Fremdbildern geraten, da die betroffenen Personen daran nicht beteiligt sind
[29]
Das deutsche Bundesverfassungsgericht positiviert in seiner Rechtsprechung das Konzept autonomer Freiheit von Kant im Zusammenhang mit dem grund- und menschenrechtlich garantierten Recht auf Privatheit und Datenschutz. Der Schutz der Privatheit und der auf diese bezogenen Daten darf auch in bleiernen Zeiten des Terrors nicht als eine zu rechtfertigende Ausnahme begriffen werden. Ein weitere Entwicklung markiert die unsichtbar agierende Technik im eigenen IT-System und seinen vielfältigen persönlichen Informationen. Die Möglichkeit, das eigene System grundsätzlich selbst steuern zu können, stabilisiert die Autonomie des Einzelnen.
[30]
Schon mit Beginn der Datenverknüpfungen hat sich das Bundesverfassungsgericht16 für eine informationelle Gewaltenteilung und Informationsaskese ausgesprochen. Es hat sich wie alle europäischen Datenschutzgesetze von heute gegen eine rein mechanistische technische Datenakkumulation gewandt und einen Datenschutz durch Technik gefordert. Der Einzelne kann sich selbst gegen den Zugriff auf seine Informationen etwa durch Verschlüsselungsverfahren schützen, weil verschlüsselte Nachrichten nur schlecht oder gar nicht von Polizeibehörden oder Dritten erfasst bzw. überwacht werden können. Zweifel und Kritik am Einsatz von effektiven Verschlüsselungsverfahren gibt es allerdings in vielen Ländern, in denen technischer Selbstschutz auch als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit empfunden wird, ja als die Äußerung krimineller Einstellungen (man hat etwas zu verbergen) und daher als unzulässige Anonymität aufgefasst wird. Die neuen Grundrechte können nur Garant der Privatheit und Kommunikationsfähigkeit der einzelnen Menschen sein, solange weder sie selber noch Staaten oder Dritte sie gefährden oder gar unterhöhlen.

10.

Das Tier in Kafkas Bau ^

[31]
Franz Kafka beschreibt in seinem Text „Der Bau“ die Geschichte eines einzelnen Tieres, das sich zur Abwehr gegen potenzielle Feinde einen unterirdischen vermeintlich „vollkommenen“ Lebensraum konstruiert.17 Das Tier spricht von seinen technischen Überlegungen: „Zuviel beschäftigt mich der Bau. Schnell bin ich vom Eingang fortgelaufen, bald aber komme ich zurück. Ich suche mir ein gutes Versteck und belaure den Eingang meines Hauses – diesmal von außen – tage- und nächtelang [...]. Mir ist dann als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst.“18 Dann stellt das Tier anhand von fremden Geräuschen fest, dass es nicht in seinem eigenen System lebt, sondern in einem fremden Bau. Ähnliches erleben Menschen, wenn sie „allzu kleinliche, des Gesamtbaus nicht würdige Basteleien“ anstellen.19 An dieser Schnittstelle zeigt sich, dass Selbstschutz nur dann funktionieren kann, wenn er menschenrechtlich im realen und virtuellen Leben verankert ist und von den Staaten respektiert wird. So können die Vorteile eines „Baus“ nur greifen, wenn die sehr realen Datenschutz- und Sicherheitsanforderungen einbezogen werden. Das gilt für soziale Netzwerke, das „Live Web“ und Cloud Computing. 20

11.

Subsumption als Zentrum ^

[32]
Die Subsumption gehört zum klassischen Repertoire der juristischen Methodenlehre und man könnte meinen, dass diese Denkfigur im den Zeiten der Rechtsinformatik seine Bedeutung verloren hat. Das ist aber keineswegs der Fall, doch haben sich die Perspektiven geändert. Einerseits ist es leichter, andererseits ist es schwerer geworden.
[33]
Leichter ist die Subsumption bei den Formularverfahren geworden, wo die Maschine die Begriffe vorgibt und die Partei selbst die Begriffsfelder auszuwählen oder auszufüllen hat. Die Aufgabe der Subsumption wird von rechtskundigen, häufig sachverhaltsfremden Behörden auf den Nutzer überwälzt, der in der Regel rechtsunkundig und sachverhaltsnahe sein wird und der sich überdies in seiner Welt der Alltagssprache (layman-language) bedient. Für die Maschine wird die Subsumption leichter bzw. ist gar kein Problem, weil sie extern und ex ante vorgenommen wird.
[34]
Schwerer wird die Subsumption bei komplizierten Fällen, den hard cases, die von der Maschine derzeit nicht lösbar ist. Die Situation bleibt gleich: Die Subsumption ist in den schwierigen Fällen nach wie vor von den Menschen zu bewältigen.

12.

Subsumption des geänderten Menschenbildes ^

[35]
Ein anderes Thema ist die Transformation des Menschenbildes mit dem Ziel, die Subsumption zu verlagern, einzuschränken oder zu verweigern. Das Menschenbild ist die begriffliche Subsumptionsgrundlage für die Menschenrechte. Als Relation hat die Subsumption zwei Ankerpunkte, einerseits Tatbestand und Rechtsfolgen der Menschenrechte und andererseits das Menschenbild, welches aus dem Sachverhalt angewandt, diesen für die Subsumption aufbereitet.
[36]
Das global dominante Menschenbild entspricht mit seinen Ausprägungen des Politischen den Interessen der nordatlantischen Kultur, weniger den Ressourcensehnsüchten der Hungerzonen. Wurde um 1500 ein nicht uneigennütziger Export des Gottesbildes betrieben, so geht es um 2000 um den Export des Menschenbildes. Es gibt auch stigmatisierte Rollen als Teilaspekte des Menschenbildes, welche die Subsumption einschränken, davon dispensieren. So etwa die Rolle der Verdächtigen, unter welchem Generalverdacht die Bürger und Bürgerinnen alle stehen.
[37]
Interessant auch die menschenrechtlichen Subsumptionsdefizite von Intensivverdächtigen, etwa von Terroristen, welche dank ihrer spezifischen Eigenschaften nicht mehr unter die vollen Menschenrechte subsumiert werden und somit zentraler Menschenrechte verlustig gehen, so des Rechts auf einen fairen Prozess und des Rechtes auf Leben, da sie gleichsam auf Vorrat getötet werden können. Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit mit Rechtsfiguren des Mittelalters, etwa der Verhängung der Acht und des Erklärens als vogelfrei. Vogelfreie Menschen haben das Menschenbild eigentlich schon verloren, dann Vögel sind Tiere und keine Menschen. Tiere und damit auch die Vögel können auch nicht unter die Menschenrechte subsumiert werden. Das Betonen der Freiheit ist bei den Vogelfreien euphemisch; denn diese Art der Freiheit kann wohl kaum als Gewinn angesehen werden, bedeutet eher generelle Privation im Gegensatz zur Privatheit.
[38]
Die vierte Reise von Lemuel Gulliver, erzählt von Jonathan Swift, führt diesen in das Land der Houyhnhnms, der weisen und dominanten Pferde, in dem die Menschen nur als Yahoos dahindämmern. Diese Yahoos sind nicht durch unser Menschenbild geschützt und es mangeln ihnen auch unsere Menschenrechte. Swift wird nicht müde, die Konsequenzen daraus dazulegen. Ein interessanter Text und keineswegs nur ein Kinderbuch.

13.

Methodischer Ausblick: Multisensorisches Recht ^

[39]
Das Menschenbild kann von außen und von innen her gesehen werden, als Produkt, als Projektat und als Illusionsware ebenso wie als appellative Innenentität, welche das Ich mitkonstituiert. Der Wandel des Menschenbildes ist in beiden Richtungen von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
[40]
Die bisherigen Entwicklungen auf dem Gebiet der Maschinenkultur zeigen aber auch, dass ein Trend in die Richtung der Übernahme beziehungsweise zur Nachahmung des Menschenbildes durch die Maschinen vorhanden ist. Indem die Maschinen zunehmend eine Prothesenfunktion erfüllen - was schon mit der Kleidung begonnen hat, welche das abhanden gekommene Fell ersetzte, bis hin zum Computer, der gewisse Gehirnfunktionen21 nachzubilden vermag - kommt es zur imitatio hominis, ein theologisches Thema, hier säkularisiert
[41]
Für die den Menschen substituierenden Maschinen wird damit aber auch die Art und Weise, wie die Menschen die Umwelt wahrnehmen und interpretieren interessant, aktiv wie passiv.
[42]
Es ist das Verdienst von Colette R. Brunschwig, den Stellenwert des Multisensorischen für das Recht herausgearbeitet zu haben, unmittelbar für die mit dem Recht konfrontierten Menschen, mittelbar auch für die in rechtlichen Situationen aktiv wie passiv auftretenden Maschinen.22 Das gilt für die Handlungsebene genauso wie für die Metaebenen der rechtstheoretischen wie rechtsinformatorischen Modellbildung. Dieser Paradigmenwechsel entspricht vom Stellenwert her gesehen etwa dem Aufkommen der Normenlogik am Beginn der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts.

14.

Fazit ^

[43]
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bewahrt ein Echo von der Vorstellung, dass alle Menschen von Natur aus frei und gleich sind. Freiheit und Gleichheit sind jedoch keine Tatsache, sondern ein Wert, eine Verpflichtung für die Menschheit. Die Forderung nach Menschenrechten ist Ausgangspunkt für die Errichtung eines entsprechenden Rechtssystems. Gerade unter den Bedingungen neuer Technologien kommt hier der Rechtsprechung eine große Bedeutung zu. Sie weist den Übergang von der Theorie zur Praxis, wenn sie etwa Persönlichkeitsrechte nicht statisch fasst, sondern weiterentwickelt.
[44]
Andererseits gibt es stigmatisierte Rollen und ungleiche Menschenbilder. In solchen Fällen wird der Einzelne in seiner Freiheit durch gesellschaftliche Mächte irritiert, in Extremfällen sogar existentiell bedroht. Die Erklärungen von Grund- und Menschenrechten sind der Beginn eines langen Prozesses, der nie aufhören wird, aber die Chance eröffnet, dass Menschen durch juristische Normen grundsätzlich geschützt werden.
[45]
Doch das Recht ist auch ein Ausdruck der Macht, ein Schatten der Mächtigen auf der Platonischen Höhlenwand der Informationsgesellschaft. Die kognitive Herrschaft geht der normativen Herrschaft voraus. Die Menschenrechte beruhen auf den Menschenbildern und auch diese können ebenso wie das Recht hinterfragt werden.
[46]
In der Antike war es bekannt, dass neben den Naturgesetzen auch der Frevel eine Grenze der Macht ist. Das Menschenbild kann die Linien aufzeigen und Tabubereiche kennzeichnen wie das absolute Folterverbot. Das gilt für die Menschenwelt ebenso wie für ihre funktionalen „Stellvertreter“, für Maschinen, mit deren Hilfe Menschen Tabubereich verletzen, etwa den Kernbereich der Privatheit durchleuchten.
[47]
Im Zentrum der Rechtsinformatik steht zwar die Anwendung von formalem Denken und Technik auf das Recht, doch erst die Kontexte machen den Stellenwert aus.
  1. 1 Nikolaus von Kues, De visione Dei, hrsg. v. Helmut Pfeiffer (Trier 1983).
  2. 2 Mutmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte, in Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hrsg. V. Wilhelm Weischedel, Bd. VI. Schriften zur Anthropologie, Glaubensphilosophie, Politik und Pädagogik. Darmstadt 1964, S. 85–102.
  3. 3 Ebd. S. 85 f.
  4. 4 Ebd., S. 101 f.
  5. 5 Zum grundrechtlichen Freiheitsverständnis Gabriele Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung, Tübingen 2007, S. 7 ff.; s.a. Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution, 5. Auflage, Berlin 2009, 3. Kap.
  6. 6 Marie-Theres Tinnefeld, Privatheit als Voraussetzung menschenrechtlicher Freiheiten, DuD 2011, S. 598–601.
  7. 7 Niklas Luhmann, Copierte Existenz und Karriere. Zur Herstellung von Individualität, in: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. Main 1994, S. 191–200.
  8. 8 Dieter Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, Berlin 1978, S.106; S.a. BVerfGE 65, 1 (44), in dem die personenbezogenen Daten als „Abbild sozialer Realität“ charakterisiert werden, „das nicht ausschließlich den Betroffenen allein zugeordnet werden kann“.
  9. 9 Zu den vielschichtigen Problemen vgl. John Palfrey/Urs Gassner, Generation Internet, München 2008.
  10. 10 Franz Kafka, Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Wolfgang Kittler, Hans Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt a. Main 1994.
  11. 11 Zum Begriff vgl. Angelo Bolaffi, zitiert nach Erhard Denninger, Recht in globaler Unordnung, Berlin 2005, S. 232.
  12. 12 Grundlegend zum Problem Silke Jandt/Alexander Rossnagel, Datenschutz in Social Networks. Kollektive Verantwortlichkeit für die Datenverarbeitung, ZD 2011, S. 160–166.
  13. 13 BVerfGE 65,1, ständige Rechtsprechung.
  14. 14 BVerfGE 120, 274 .
  15. 15 Dazu Hendrik Skistims/Alexander Roßnagl, Rechtlicher Schutz vor Staatstrojanern?, ZD 2012, S. 3–7.
  16. 16 BVerfGE 65, 1, so schon BVerfGE 27, 1 und BVerfGE 27, 344,
  17. 17 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Dokumente, hrsg. von Jost Schillermeit, Frankfurt am Main 1994, S. 586f.
  18. 18 Ebd., 590f.
  19. 19 Ebd., 586.
  20. 20 Interessante Arbeiten über anonymisierte digitale Zertifikate zur minimalen Datenpreisgabe sind im Projekt IDEMIX (Identy mixing), enthalten unter: http:/www.zürich.ibm.com/pri/projects/idemix.html.
  21. 21 Stephan Schleim, Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, Hannover 2011.
  22. 22 Colette R. Brunschwig, Multisensory Law and Legal Informatics – A Comparison of How these Legal disciplines Relate to Visual Law, in A. Geist/C.R. Brunschwig/F. Lachmayer/G. Schefbeck (Hrsg.), Strukturierung der Juristischen Semantik, Festschrift für Erich Schweighofer, Editions Weblaw, Bern 2011, S. 573.