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Baroco - die schräge Perle der Logik

  • Author: Lothar Philipps
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Lothar Philipps, Baroco - die schräge Perle der Logik, in: Jusletter IT 29 February 2012
Pascal lehnte die scholastische Logik ab, wobei er auf die Syllogismen Baroco und Baralipton hinwies: „Barbarische Namen, die jene in Erstaunen versetzen, die sie vernehmen.“ Das ist gut gesagt, ist aber keineswegs richtig, wie hier am Beispiel von Baroco gezeigt wird.
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Die Schlussweisen der Syllogistik sind seit der Scholastik mit eigentümlichen Namen versehen: Cesare, Camestres, Festino, Baroco... Baroco ist ein besonders wichtiger Modus; bemerkenswert ist auch sein Bruder Bocardo, die beiden arbeiten Hand in Hand. Ein Beispiel dazu: Florian, ein Gymnasiast, entdeckt bei Facebook das Foto einer hinreißend schönen jungen Frau. Sie heiße Helena, stellt sie sich vor, und sie sei Griechin. Vor Florians innerem Auge zieht eine schier endlose Reihe edler Frauen vorbei: auf Homers Helena folgen Penelope, Nausikaa, Ariadne, Iphigenie, Lysistrata, Kassandra ... und schließlich Nana Mouskouri. Florian ist überzeugt: „Alle Griechinnen sind edel.“ Es gelingt ihm, Helena zu einem Abendessen und einem Konzertbesuch einzuladen. Doch dann ist er enttäuscht: Helena ist nicht edel, ganz und gar nicht. Wie ist das möglich?
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Die Syllogistik sagt dazu Folgendes: Auf Grund der Prämissen „Alle Griechinnen sind edel“ und „Helena ist eine Griechin“ erwartet man die Konklusion: „Helena ist edel.“1 Das ist Barbara, der Modus, der im Zentrum der Syllogistik steht. Wie aber, wenn die Barbara-Erwartung von der Wirklichkeit enttäuscht wird, wenn also Helena nicht edel ist? Die Unwahrheit der Konklusion schlägt auf die Prämissen zurück: mindestens eine der beiden muss unwahr sein. So entstehen die beiden Syllogismen Baroco und Bocardo.
  1. Aus “Alle Griechinnen sind edel“ aber „Helena ist nicht edel“ folgt „Helena ist keine Griechin“. Baroco
  2. Aus „Helena ist eine Griechin“ aber „Helena ist nicht edel“ folgt „Manche Griechinnen sind nicht edel“. Bocardo
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Alle Griechinnen sind edel und Helena ist eine Griechin. Mindestens eine dieser beiden Annahmen muss falsch sein: Fragen wir zunächst, welche von ihnen die gewagtere ist. Die Antwort liegt wohl auf der Hand: kühner ist die Annahme, dass alle Griechinnen edel sind. Auf so einen Gedanken muss man erst einmal kommen! Psychologisch naheliegend ist aber auch dieses: Wer einen so großen Gedanke gefasst hat, wird ihn so schnell nicht wieder aufgeben. Florian wird sein enttäuschendes Erlebnis wohl fürs erste damit erklären, dass Helena keine Griechin sei; gemäß Baroco also. Die Konklusion, die sich aus Bocardo ergibt, ist demgegenüber trivial: „Manche Griechinnen sind nicht edel.“ Ein Mann wie Florian wird sich damit nicht abspeisen lassen.
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Mit dem Modus Baroco hat es eine besondere Bewandtnis. Wenn man Baroco gemäß zu dem Ergebnis kommt, dass Helena keine Griechin ist, wird man unwillkürlich weiterfragen: Was ist sie dann? Florian wird vielleicht erwägen, dass sie eine Albanerin sein könnte. Oder gar eine „Mazedonierin“ in Anführungszeichen! Offensichtlich geht von Baroco etwas Dynamisches aus, man begnügt sich nicht mit der Konklusion, sondern fragt unwillkürlich weiter. Bei Bocardo ist das nicht der Fall, bei Barbara erst recht nicht. Barbara, mit rein affirmativen Sätzen, ruht in sich selbst, hat einen klassischen Charakter. Man vergleiche unter diesem Gesichtspunkt die drei Formen, die in unserem Beispiel eine Rolle spielen:
Barbara Baroco Bocardo
Alle Griechinnen sind edel.Helena ist eine Griechin.Helena ist edel. Alle Griechinnen sind edel.Helena ist nicht edel.Helena ist keine Griechin. Helena ist nicht edel.Helena ist eine Griechin.Manche Griechinnen sind nicht edel.
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Der italienische Philosoph Benedetto Croce nimmt an, dass der Name Barock, für einen Stil, der sich mit dynamischen Effekten von der klassischen Haltung der Renaissance abhob, von dem Syllogismus Baroco herkomme. Er weist darauf hin, dass man die Redensart parlare in baroco für geschwollenes Reden schon zu einer Zeit benutzte, als der Barock in der Kunstgeschichte noch gar nicht sichtbar war.2

 

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Croces These ist freilich sehr umstritten. Herrschend ist die Auffassung, dass sich der Name Barock von „Baroco“, dem portugiesischen Wort für eine schiefe, unregelmäßig gewachsene Perle, herleite. Allerdings scheint mir diese Antwort die Frage nur zu verschieben. Es kann sein, dass sich zwar der Stil Barock von dem scholastischen Schluss herleitet, aber dann wiederum fragt es sich, warum die Scholastiker dem Leitbild der schiefen Perle folgten. Die Namen der Modi sind keineswegs sinnlos und nur mnemotechnisch gemeint.

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Es gibt nach traditioneller Zählung 24 unterschiedliche Syllogismen.3 Jeder Syllogismus besteht aus drei Sätzen. Diese können affirmativ oder negativ sein, und sie können sich auf “alle ...“ oder auf “einige ...“ richten. Die Namen der Syllogismen deuten dabei ihre Struktur an. Dafür gibt es die Merksätze affirmo und nego. Ein affirmativer Universalsatz ist durch ein a angedeutet, für einen affirmativ-partikulären Satz steht ein i. Der negierte Universalsatz wird durch ein e gekennzeichnet und der negierte Partikularsatz durch ein o.

 

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In Barbara treffen drei affirmative Universalsätze zusammen, also dreimal a im Namen. Die Scholastiker hätten auch amanda wählen können; doch gab es wohl keine heilige Amanda. Was Baroco anlangt, so beginnt er mit einem affirmativen Universalsatz: „Alle Griechinnen sind edel.“ Also a. Als nächstes ein negierter Partikularsatz, also o. Als drittes ebenfalls wieder ein o.

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Außerdem ist in den Namen der Syllogismen angedeutet, wie ihre Gültigkeit zu beweisen ist. In Baroco (ebenso in Bocardo) steht ein c für contradictio. Das weist auf eine reductio ad absurdum hin: wenn Baroco ungültig wäre, müsste auch Barbara ungültig sein. Das aber wäre absurd, denn die Gültigkeit von Barbara gilt als evident.

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Hätte man für Baroco einen anderen Namen wählen können? Vermutlich ja, es hätten wohl noch andere Ausdrücke finden lassen, in denen ein a, gefolgt von zweimal einem o vorkommt, und in denen dann noch ein c steht. Besonders plausibel ist dieser, der aus dem Arabischen stammt:

ba ← al
ro ← co
co ← hol
 

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Doch die geistlichen Herren, die durch die Pflege des Weinbaus Gewaltiges für die europäische Kultur geleistet haben, konnten diesen Namen wohl nicht unchiffriert verwenden.4 Gibt es aber eine bessere Chiffre für Alkohol als Baroco, die “schräge Perle“?

 

  1. 1 Erst im Mittelalter hat man Eigennamen in die Syllogistik eingeführt. Das klassische Beispiel war das vom sterblichen Sokrates: ein treffliches Beispiel, weil Sokrates ein Mensch war, der seine Sterblichkeit in bleibender Weise vorgelebt hat. Hierzu, wie auch sonst zu allen Fragen, die die traditionelle Syllogistik betreffen, vgl. Theodor Bucher, Einführung in die angewandte Logik, 1. Aufl. Berlin 1987.
  2. 2 Benedetto Croce, Problemi di Estetica, Bari 1954. Dem schließt sich Gustav René Hocke an: Manierismus in der Literatur, Hamburg 1959, und neuerdings Camelia Elias, The Fragment – Towards a History and Poetics of a Performative Genre, Bern 2004.
  3. 3 Nach moderner, mehr asketischer Zählung sind es 15. Askese ist aber nicht in jeder Hinsicht ein Vorzug; in der Logik vergibt man damit rhetorische Möglichkeiten. (Auf den Zusammenhang von Logik und Rhetorik weist vor allem G. R. Hocke hin, a.a.O. S. 143 ff. und passim.) Man rezitiere einmal einen Syllogismus im Modus Baralipton: Alle Griechen sind scharfsinnig - Alle Athener sind Griechen – Und dann kommt: Einige Athener sind scharfsinnig. Welch eine Überraschung! Man hätte erwartet: Alle Athener sind scharfsinnig. Was Baralipton und Baroco gemein haben, ist eine enttäuschte Barbara-Erwartung. Seit Montaigne und Pascal werden die beiden Namen immer wieder zusammen zitiert, mit antischolastischer Tendenz. „Barbarische Namen, die jene in Erstaunen versetzen, die sie vernehmen.“ So Pascal, Betrachtungen über die Geometrie, in „Kleine Schriften zur Religion und Philosophie“, Hamburg 2005. Weil Baralipton eine logische Abschwächung von Barbara ist, wird der Modus in neueren Listen der gültigen Syllogismen nur mit Vorbehalt geführt.
  4. 4 Im Arabischen lautet es „al ku hul“. Aber selbst bei Usama bin Laden hat man im Abendland das u durch ein o ersetzt, außer in der sehr genauen Frankfurter Allgemeinen.