Jusletter IT

Anforderungs-Assessment in der öffentlichen Verwaltung Deutschlands

  • Authors: Maika Büschenfeldt / Margit Scholl
  • Category: Short Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Wissensbasiertes Prozessmanagement in Verwaltungsnetzwerken
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Maika Büschenfeldt / Margit Scholl, Anforderungs-Assessment in der öffentlichen Verwaltung Deutschlands, in: Jusletter IT 29 February 2012
Eine umfassende Anforderungsermittlung ist bekanntlich entscheidend, um die Zielsetzungen von IT- und E-Government-Projekte zu erfüllen. Die Anforderungsanalyse stellt sich jedoch i.d.R. als komplex veränderbar und kaum generell erfüllbar dar. Aus systemtheoretischen Überlegungen heraus liegt der Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs von Anforderungen und Entwicklungsprozess im leitenden Organisationsmodell. Damit werden die Organisationsstrukturen ein wichtiger Anhaltspunkt für die Ermittlung von Anforderungen. Mit Bezug auf die bislang bekannten Vorgehensmodelle und Methoden bedeutet es, dass ihr Wert erst in der Passung zu dem Projektkontext liegt. Anforderungsassessment bedeutet, diese Rahmenbedingungen und Besonderheiten in adäquater Weise zu erfassen. Ansätze und Erkenntnisse der Organisationstheorie werden als idealtypische Modelle für die Beurteilung und Einschätzung der Umweltangemessenheit von Entwicklungsmodellen genutzt und es werden zur Beurteilung Grenz-, Struktur- und Revisionsindikatoren abgeleitet, die auf die aktuelle nationale E-Government-Zielsetzung angewendet werden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Das Koordinationsmodell als Grundlage des Anforderungsassessments
  • 2.1. Hierarchie und Heterarchie als leitende Koordinationsmodelle
  • 2.2. Indikatoren zur Ermittlung des leitenden Koordinationsmodells
  • 2.3. Koordinationsmodell, Umweltbeschaffenheit und Anforderungen
  • 3. Die Projektwirklichkeit der öffentlichen Verwaltung als Umweltbezug
  • 4. Ausblick: Readiness in der öffentlichen Verwaltung
  • 5. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Die Nutzung elektronischer Medien zur Verbesserung der verwaltungsinternen Zusammenarbeit und der Einbindung von Bürgern und Unternehmen in das Verwaltungshandeln wird als Electronic Government (kurz: E-Government) bezeichnet. E-Government umfasst weltweit die Entwicklung und Einführung elektronisch gestützter Dienstleistungen und Onlineservices mit dem Ziel, die Prozesse der öffentlichen Willensbildung, der Entscheidung und der Leistungserstellung in Politik, Staat und Verwaltung modern und kundenorientiert zu gestalten. Die Modernisierung von Staat und Verwaltung ist durch den Einsatz moderner Informationstechnologien angetrieben und geprägt. Die Gestaltung, der Einsatz und die Umsetzung von IT-Anwendungen sind damit Kernbestandteil des Wandels und der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland (Luck u.a., 2005).
[2]
Die Anforderungsermittlung ist der Dreh- und Angelpunkt von IT-Projekten: Hier wird festgelegt, was benötigt wird, um die angestrebten Ziele mit den vorgesehenen Mitteln innerhalb des gesetzten Zeitraumes überhaupt erreichen zu können. Für die Entwicklung von IT-Systemen in der öffentlichen Verwaltung im Rahmen von E-Government-Projekten bedeutet dies, dass die Anforderungsermittlung nicht nur für den weiteren Projektverlauf, die Vertragsgestaltung, die benötigten Ressourcen und den Budgetrahmen bestimmend ist, sondern auch darüber entscheidet, ob als Projektergebnis ein spezifiziertes IT-System entwickelt werden kann, dass den Projektzielen und den allgemeinen Zielsetzungen des E-Governments überhaupt entspricht.
[3]
Eine exakte Anforderungsanalyse ist jedoch alles andere als trivial und stellt sich in der Regel als komplexes und von vielen Unwägbarkeiten begleitetes Unterfangen heraus. Zu den typischen Problemen der Anforderungsanalyse zählen u.a. unklare Zielvorstellungen, die Komplexität der zu entwickelnden Systeme und veränderliche Anforderungen. Diese Probleme haben ihren Ursprung in der Umwelt- und Problembeschaffenheit des Entwicklungskontextes und sind im Entwicklungsprozess zu managen. Die Entwicklung von Vorgehensmodellen und eines reichhaltigen Methodenrepertoires des IT-Projektmanagements soll helfen, diesen Problemen zu begegnen. Vorgehensmodelle und Methodenrepertoire sind in ihrer Gesamtheit jedoch keinesfalls homogen und werfen die Frage auf, welchem dieser Ansätze in den IT-Projekten der öffentlichen Verwaltung der Vorzug zu geben sei. Den Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs von Anforderungen und Entwicklungsprozess sehen wir im leitenden Organisationsmodell, das sich nicht nur im umgebenden Kontext dieser Systeme verbirgt, sondern auch in den Vorgehensmodellen der IT-Entwicklung und ihrerseits eine Quelle von Anforderungen sind. Mit Bezug auf die bislang bekannten Vorgehensmodelle und Methoden des IT-Projektmanagements bedeutet dies, dass die Bandbreite der Ansätze vom schwergewichtigen Phasenmodell bis hin zu agilen und verteilt agilen Vorgehensmodellen in ihrer Unterschiedlichkeit nicht als grundsätzlich geeignet oder ungeeignet anzusehen sind, sondern ihr Wert erst in der Passung zu den Rahmenbedingungen und Besonderheiten des Projektkontextes liegt. Den Begriff Assessment verwenden wir in Anlehnung an die Steuerungstheorie Helmut Willkes im Sinne der Einschätzung, Beurteilung und Abwägung angemessener Vorgehensstrategien in Abhängigkeit zur Problem- und Umweltbeschaffenheit des Einsatzkontextes von IT-Projekten.

2.

Das Koordinationsmodell als Grundlage des Anforderungsassessments ^

2.1.

Hierarchie und Heterarchie als leitende Koordinationsmodelle ^

[4]
Vorgehensmodelle strukturieren und koordinieren den Entwicklungsprozess von IT-Systemen. Sie sind ebenso wie die formalen Strukturen der Organisation das Ergebnis bewusster Planung und sie sind ebenso wie die klassische Organisation durch formale Strukturen gekennzeichnet, die sich als Aufbauorganisation und Ablauforganisation (Prozesse) beschreiben lassen. Das Grundprinzip formaler Strukturen ist die Entkopplung von Personen und ihren Handlungen, ihre Grundfunktion ist das Lenken und Koordinieren bzw. das Steuern von Handlungen. Der Umstand, dass die Entkopplung von Person und Aktion nicht nur Merkmal der Organisation, sondern auch des im Entwicklungsprozess verwendete Vorgehensmodells ist, legt den Schluss nahe, die Ansätze und Erkenntnisse der Organisationstheorie auch für die Beurteilung und Einschätzung der Umweltangemessenheit (d.h. dem Assessment) von Entwicklungsmodellen zu nutzen.
[5]
Die klassischen Organisationsansätze sind am Maschinenmodell orientiert und finden sich nicht nur in der industriellen Produktion, sondern auch in den Funktionsmechanismen moderner Bürokratien, die bereits der Soziologe Max Weber als maschinenhaften Mechanismus beschrieben hat und auf logisch-deduktiven Regeln mit dem Zweck aufbaut, den Aufwand der Kommunikation und der praktischen Arbeit in Verwaltungen auf ein handhabbares Maß zu reduzieren (Weber 1976). Dass die Handlungskoordination durch formale Organisationsstrukturen nicht zwangsläufig dem Maschinenmodell folgen muss, verdeutlicht Helmut Willke in der Unterscheidung von Hierarchie als „Modell der ungleichrangigen, fremdbestimmten und zentralisierten Koordination“ und Demokratie als Gegenmodell der gleichrangigen, selbstorganisierten und dezentralen Koordination (Willke 1998:89 f.). Die besonderen Merkmale beider Koordinationsmodelle – wir nennen sie Hierarchie und Heterarchie – lassen sich über Willkes Definition hinaus über die Aspekte der Grenzziehung, der Aufbaustruktur, Kopplung und Steuerungsform präzisieren und erweitern.
  • Grenzziehungen bestimmen über die Abgrenzungsmechanismen eines Koordinationsmodells, die eher durch Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit (Offenheit) gekennzeichnet sein können.
  • Die Aufbaustruktur steht für die Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems, die im hierarchischen Koordinationsmodell aus über- und untergeordneten Elementen bestehen können, oder im heterarchischen Koordinationsmodell aus einem Netzwerk gleichrangiger, vollständig miteinander verknüpfter Elemente.
  • Der Kopplungsgrad der Handlungsketten gibt an, wie stark der Handlungsablauf (Prozesse) durch Vorgaben und Festlegungen reglementiert ist bzw. wie groß oder wie gering die Handlungsspielräume der Akteure sind.
  • In der Aufbaustruktur und im Kopplungsgrad offenbart sich der Aspekt der Steuerung. Steuerung erfolgt über Strukturen, Prozesse, Zielvorgaben, die ihrerseits Ausdruck der Vorwegnahme durch Planung sind. Sie können Arbeitsabläufe effektiver und effizienter machen, sind für die Akteure aber auch mit Zwang verbunden.
[6]
In Anlehnung und Präzisierung von Helmut Willkes Unterscheidung in Hierarchie und Demokratie möchten wir in den weiteren Überlegungen von den nachfolgenden Modelltypen ausgehen:
  • Der Hierarchie als Modell der Verregelung mit starkem Steuerungsanspruch. Die wichtigen Merkmale sind klare Grenzziehungen, Zentralität, Ungleichrangigkeit, Fremdsteuerung und ein hoher Kopplungsgrad (feste Kopplung) der Prozesse.
  • Der Heterarchie als zurückhaltendes Organisationsmodell mit einem geringen Steuerungsanspruch. Merkmale sind Offenheit, Dezentralität, Gleichrangigkeit, Selbststeuerung und ein geringer Kopplungsgrad (lose Kopplung) der Prozesse.
[7]
Beide Koordinationsmodelle kommen in der Realität nicht in Reinform vor und stehen als Idealtypen für einen zielgerichteten und konstruierten Begriff, der die wesentlichen Aspekte der (sozialen) Realität durch bewusste Überzeichnung heraushebt. Die idealtypische Begriffsbildung oder Modellbildung dient nicht einer „realitätsnahen“ Beschreibung der Empirie, sondern dient vielmehr als gedankliche „Messlatte“, an der das reale Geschehen gemessen werden kann (Weber 1968:190 ff.). Die Nutzung idealtypischer Modelle bietet den Vorteil, dass ein konsistenter Idealtyp mit all seinen Voraussetzungen und Problemen eine größere Trennschärfe bietet als wirklichkeitsnähere, aber diffusere Modelle (Reihlen 1998:42).

2.2.

Indikatoren zur Ermittlung des leitenden Koordinationsmodells ^

[8]
Hinweise auf die leitenden Koordinationsmodelle sowie der Problem- und Umweltbeschaffenheit des Kontextes von IT-Projekten lassen sich entlang der Systemdimensionen der Grenzbildung, der Struktur und des Strukturwandels1 über Indikatoren ermitteln, die sich aus den bereits skizzierten Merkmalen der leitenden Koordinationsmodelle ableiten lassen. Wir unterscheiden drei Indikatorentypen (s. Abbildung 1):
  • Grenzindikatoren beziehen sich auf die Grenzziehungen eines Systems, sie regeln was eingeschlossen ist und was ausgeschlossen bleibt. Praktisch geht es um den Zugriff, die Auswahl und die Erzeugung von Ressourcen, das Abstecken von Grenzen und im Übergang zu den Strukturindikatoren auch um die Regelung von Zuständigkeiten. Indikatoren sind der Grad der Offenheit bzw. Abgeschlossenheit eines Systems.
  • Strukturindikatoren beziehen sich auf den strukturellen Aufbau und auf Prozesse. Praktisch geht es um die Organisation der Arbeitsteilung in der Bearbeitung von Aufgaben oder in der Umsetzung von Zielen. Wichtige Indikatoren sind der Kopplungsgrad in Prozessen (Handlungsketten) oder der Grad der Gleich- bzw. Ungleichrangigkeit in den Aufbaustrukturen. Der Kopplungsgrad gibt Auskunft über Entscheidungsspielräume im Projektverlauf und steht in engem Zusammenhang mit dem Grad der Kommunikation, da eine starke Verregelung den Abstimmungsbedarf minimiert und Kommunikation tendenziell ersetzt.
  • Revisionsindikatoren beziehen sich auf die Anpassungsfähigkeit oder Beständigkeit eines Systems. Praktisch geht es um die Lern- und Innovationsfähigkeit, aber auch um die Fähigkeit eines Systems, stabile Strukturen zu gewährleisten. Indikatoren sind die Stabilität und Flexibilität sowie der Grad und Art der Komplexität.
[9]
Die Einschätzung des leitenden Koordinationsmodells in den Vorgehensstrategien und in den Strukturmerkmalen der Umwelt findet sich in diesen Indikatoren. Hinweis auf die Dominanz hierarchischer Koordinations- und Steuerungsstrukturen findet sich damit in klaren Grenzziehungen, in einer ungleichrangigen Aufbaustruktur und einem hohen Kopplungsgrad der Prozesse. Heterarchische Strukturen finden sich im Umkehrschluss in der Entgrenzung bzw. Offenheit, in der gleichrangigen Aufbaustruktur des Netzwerks und einem eher geringen Kopplungsgrad der Prozesse.

2.3.

Koordinationsmodell, Umweltbeschaffenheit und Anforderungen ^

[10]
Über die im vorangegangenen Abschnitt von uns vorgestellten Grenz- und Strukturindikatoren lässt sich ermitteln, in welchem Maße sich das leitende Koordinationsmodell in den jeweiligen Vorgehensweisen wiederspiegelt. Über die Revisionsindikatoren lässt sich die Umwelt und Problembeschaffenheit einschätzen und bietet die Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen Umweltbeschaffenheit und der Auswahl der angemessenen Steuerungs- und Koordinationsstrategie herzustellen. Die Einschätzung der Angemessenheit von Formalismen und Planung wird damit abhängig vom Grad der Problemkomplexität. In Anlehnung an Helmut Willkes Interventionstheorie lassen sich grob drei Problemtypen unterscheiden (Willke 1996: 211ff.), die in anderem Zusammenhang bereits ausführlich dargestellt wurden (Scholl und Büschenfeldt, 2011):
  • White-box-Probleme sind von einfacher Beschaffenheit, da die Umwelt klar strukturiert, transparent und stabil ist. Vorgehensstrategien des hierarchischen Modells, da Ursache und Wirkung in einem linear-kausalen Zusammenhang und die Reaktion auf Einflussnahmen vorhersehbar (intuitiv) ist.
  • Grey-box-Probleme präsentieren sich als Grauzone durchschaubarer und nicht durchschaubarer Strukturen. Stark formalisierte Vorgehensstrategien sind in Teilbereichen möglich, bleiben aber von Unsicherheiten begleitet.
  • Black-box-Probleme stellen den schwierigsten Fall dar, da die Umwelt komplex und instabil ist. Die klassischen Vorgehensstrategien des hierarchischen Modells sind in diesem Fall extrem risikobehaftet, da diese kontra-intuitiv (Willke 1998) sind, d.h. nicht vorhersehbare Entwicklungen und Reaktionen auslösen können.
[11]
In der Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile der jeweiligen Koordinations- und Steuerungsmodelle lässt sich verdeutlichen, warum es sinnvoll ist, über die gewählte Vorgehensweise zu reflektieren und sich bewusst für eine angemessene Vorgehensstrategie zu entscheiden. Eine am hierarchischen Steuerungsmodell orientierte Strategie bietet eine Reihe von Vorteilen, birgt aber auch Risiken. Dazu zählen u.a.: 2
  • Formale Regeln erleichtern komplizierte Abstimmungsprozesse, machen die Problembearbeitung dadurch effizienter und bieten erhebliches Rationalisierungspotenzial. Sofern die Einzelschritte der Problembearbeitung vollständig operationalisierbar sind, kann die Formalisierung von Arbeitsschritten zur höchsten Form der Rationalisierung führen, der Automatisierung. Doch auch prinzipiell formalisierbare Aufgaben können an die Grenzen des noch Sinnvollen stoßen, wenn der Aufwand und die Kosten einer formalisierten und standardisierten Problemlösung in einem Missverhältnis stehen, da der Aufwand für die Operationalisierung in Teilschritten überproportional zur Komplexität der Aufgaben steigt. In der Umsetzung von IT-Projekten kann das dazu führen, dass Vorgehensmodelle so kompliziert werden, dass diese gar nicht mehr versteh- und lebbar sind. Die Entscheidung für ein zurückhaltendes Koordinations- und Steuerungsmodell erfordert zwar einen höheren Abstimmungsbedarf, ist aber als Modell einfacher gehalten und auch leichter verständlich.
  • Bewährte Vorgehensweisen lassen sich als übertragbares Wissen begreifen, das weitergegeben werden kann und damit lehrbar ist. Formale Regelungen bieten ferner Orientierung und stellen geringe Anforderungen an die Akteure, sodass auch Akteure mit geringer Erfahrung sinnvoll in Projekte eingebunden werden können. Im erhöhten Abstimmungsbedarf und dem Risiko der Überforderung liegen korrespondierend dazu die Nachteile und Risiken des heterarchischen Modells, da hier die fehlenden Vorgaben durch Abstimmung ausgeglichen werden müssen und die Gefahr der Überforderung besteht.
  • Hierarchische Koordination kann Beständigkeit und Stabilität bieten, erweist sich jedoch als problematisch, wenn Wandel und Innovation gefordert sind. Hier liegt der Preis hierarchischer Koordination und der große Vorteil des heterarchischen Modells, wenn instabile Umweltbedingungen Flexibilität sowie Lern- und Innovationsfähigkeit fordern.
[12]
In der Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile beider Koordinationstypen wird auch deutlich, dass das Abwägen unterschiedlicher Vorgehensstrategien wiederum von Anforderungen abhängen, die im Koordinationsmodell ihren Ursprung haben (vgl. Tabelle 1): Diese Anforderungen sind zum einen in der Umweltbeschaffenheit begründet und fordern eine stabile Umwelt und eine Problembeschaffenheit, die Entwicklungen vorhersehbar macht (Intuitivität). Anforderungen sind aber auch in den Problemlösungsstrategien begründet. Im ingenieurswissenschaftlichen Vorgehen wird Komplexität in der Regel durch Spezialisierung, Dekomposition und die strenge Trennung von analytischen und synthetischen Phasen gelöst. Diese Vorgehensweisen sind jedoch nur dann zielführend, wenn die Anforderungen erfüllt sind, die das leitende Koordinationsmodell fordert: Dazu zählen u.a. die Übereinstimmung von Steuerungsstruktur und Aufgabenstruktur, die Dekomponierbarkeit der Aufgaben und das Vorhandensein eines Rationalisierungspotenzials in ausgeprägten Routinen.
Anforderungen (Umwelt) Anforderungen (Methoden) Ziele Koordinations-modell
– Stabilität– Vorhersehbarkeit(Intuivitität) – Übereinstimmung von Steuerungs- und Aufgabenstruktur– Aufgaben müssen dekomponierbar und aggregierbar sein– Wiederholbarkeit in ausgeprägten Routinen Stabilität Hierarchie
– Instabiliät– Unvorhersehbarkeit(Kontra-Intiuitivität) – Selbststeuerungskapazitäten– Erfahrung, Kompetenz Flexibiliät Heterarchie

3.

Die Projektwirklichkeit der öffentlichen Verwaltung als Umweltbezug ^

[13]
Große Investitionen und viele Projekte werden vom Staat und der öffentlichen Verwaltung seit Jahren unter dem Titel „Electronic Government“ (kurz: E-Government) getätigt, um die Nutzung des Internets und seiner Dienste sowie weiterer elektronischer Medien zur Einbindung der Bürger und Unternehmen in das Verwaltungshandeln sowie zur verwaltungs-internen Zusammenarbeit zu bewirken. Damit verbunden sind die Entwicklung und Einführung elektronisch gestützter Dienstleistungen und Online-Services seitens der öffentlichen Verwaltung, um die Durchführung von Prozessen der öffentlichen Willensbildung, der Entscheidung und der Leistungserstellung in Politik, Staat und Verwaltung modern und kundenorientiert zu gestalten. E-Government-Projekte sind ohne Informationstechnologie (IT) nicht denkbar, sind aber keineswegs „nur“ komplexe IT-Projekte, sondern gehen von ihrem Anspruch und ihrer Wirkung weit darüber hinaus – sie bedeuten in letzter Konsequenz einen Umbau der Gesellschaft. Denn das Internet und seine innovativen Dienste verändern die Gesellschaft auf dem Weg zu einer globalen Informations- und Wissensgesellschaft.
[14]
Die Einmaligkeit und Komplexität großer Entwicklungsprojekte stellen hohe Anforderungen an das Projektmanagement, weil nicht nur Innovatives geleistet werden muss, sondern die Komplexität des Vorhabens mit den vielen Teilprozessen viele Unsicherheiten und Projektrisiken bergen. So ist der Projektverlauf trotz dezidierter Projektplanung und sorgsam ausgearbeiteten Vorgehensmodellen in der Regel nicht eindeutig vorhersehbar und die Umsetzung von E-Government-/IT-Projekten gilt als ausgesprochen risikobehaftet. In vielen Projekten gelten schwergewichtige Vorgehensmodelle mit aufwändigen Planungsprozessen als Garant zur Überwindung der Unsicherheiten und für den Projekterfolg, doch Projektevaluationen verdeutlichen immer wieder das Verzögern, das Verteuern oder gar das Scheitern von Projekten. Wir plädieren mit unserem Beitrag für eine fundiertere Reflexion durch Anwendung der modellhaften Schlussfolgerungen auf die Projektwirklichkeit in IT-Projekten der öffentlichen Verwaltung. Dabei ist auch zu bedenken, dass hierarchische Strukturen zwar für Stabilität stehen, aber den Strukturwandel möglicherweise eher bremsen.
[15]

Für Deutschland wurde über den seit April 2010 etablierten IT-Planungsrat3 im September 2010 eine neue nationale E-Government-Strategie beschlossen4, die als Zielsystem der nationalen E-Government-Strategie folgende Aspekte beinhaltet:

 

  • Orientierung am Nutzen für Bürger, Unternehmen und Verwaltungen
  • Wirtschaftlichkeit und Effizienz der (vollständig digitalisierten) Prozesse
  • Transparenz der Gesetzgebung, der Verfahren und der Daten sowie Datenschutz
  • Gesellschaftliche Teilhabe / Mitwirkung von Bürgern und Unternehmen
  • Innovationsfähigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit durch Forschung zu E-Government
  • Standardisierte, modulare IT, gekennzeichnet durch Einfachheit und Wiederverwendbarkeit.
[16]
Die genannten Ziele, die im Einzelfall nicht widerspruchsfrei sind, werden in einer stark dynamischen Umwelt zu verfolgen sein. Zur Umsetzung und Lösungsfindung im gesellschaftlichen Rahmen ist kaum von White-box-Problemen, wenigstens von Grey-box-Problemen und vermutlich eher von Black-box-Problemen auszugehen. Es stellt sich die Frage, mit welcher Strategie – orientiert an welchem Koordinationsmodell – das Zielsystem des nationalen E-Governments erreicht werden und wie Kontextsteuerung dabei helfen kann. Im Spektrum der unterschiedlichen Vorgehensmodelle bietet sich entlang der drei Indikatorentypen (s. Abbildung 1) die Möglichkeit, zwischen tendenziell schwer- oder leichtgewichtigen Modellen zu unterscheiden. Im Übergang von den schwergewichtigen und phasenorientierten Vorgehensmodellen, wie dem deutschen V-Modell mit formalisierten Kommunikationswegen, zu agilen oder sogar den verteilt-agilen Entwicklungsmodellen des Web 2.0 oder der communitybasierten Open-Source-Bewegung zeigt sich ein allgemeiner Entwicklungstrend in Richtung heterarchischer Steuerung mit einer großen Bedeutung von Kommunikation. Es bleibt einem neu zu definierendem Forschungsprojekt vorbehalten, mit dem hier vorgestellten Instrumentarium die zukünftige, praktische E-Government-Umsetzung zu begleiten.

4.

Ausblick: Readiness in der öffentlichen Verwaltung ^

[17]
Grundidee des Anforderungsassessments ist es, die Rahmenbedingungen und Besonderheiten des Projektkontextes und der Strukturmerkmale von Vorgehensmodellen in adäquater Weise zu erfassen, um damit eine solide Grundlage für die Auswahl eines geeigneten Vorgehens im IT-Projektmanagement zu finden. In der Auswahl adäquater Vorgehensmodelle lassen sich analog zu den Vorgehensmodellen der Softwaretechnik zwei Extreme konstruieren: ein völlig mechanisiertes oder ein vollständig selbstorganisiertes Vorgehen in der Umsetzung von IT-Projekten. Grundsätzlich zeigen sich in beiden Ausrichtungen konzeptbedingte Risiken, die sich als Überregelung bei schwergewichtigen Modellen und als Unterregelung bei leichtgewichtigen Modellen umschreiben lassen5 : Von Überregelung kann gesprochen werden, wenn schwergewichtige Verfahren zu tief und unangemessen in den Handlungsraum der Akteure eingreifen oder der Aufwand in keinem angemessenen Verhältnis zum Nutzen steht. Von Unterregelung kann gesprochen werden, wenn leichtgewichtige Ansätze zu wenig eingreifen, die Akteure überfordert und Abstimmungsprozesse zu aufwändig werden. In der bewussten Auseinandersetzung mit den Vorteilen und Risiken beider Koordinationsmodelle bieten sich gute Anhaltspunkte für die Auswahl einer adäquaten Vorgehensstrategie, um die negativen Auswirkungen der Über- und Unterregelung zu vermeiden.
[18]
In der Gegenüberstellung von Hierarchie und Heterarchie deuten sich allerdings auch Dilemmata an, wenn die Voraussetzungen und Anforderungen beider Problemlösungsstrategien nicht mit den Erfordernissen der Umwelt- und Problembeschaffenheit harmonieren. Das ist beispielsweise der Fall, wenn sich die Anforderungen an ein zu entwickelndes System nicht im Vorwege ermitteln lassen, weil die Umweltbedingungen zu komplex und zu instabil sind oder wenn das Projekt selbst zu Innovationen führen soll. Wir sehen dies in vielen Bereichen von E-Government gegeben. Wenn aus diesem Grunde ein dynamischeres Verfahren mit größeren Handlungsspielräumen für die Akteure und einer größeren Offenheit für neue und sich ändernde Anforderungen angebracht sind, aber andererseits die Fertigkeiten, Erfahrungen und Selbstorganisationsfähigkeit der Akteure fehlen. Wenn das Reglement der Organisation – wie Vorschriften des Beschaffungswesens, mangelnde Kommunikationsstrukturen oder fehlende Entscheidungskompetenzen – die adäquate Entscheidungsstrategie verhindern. Für diesen Fall sollte ein Anforderungsassessment durch eine Readiness-Strategie ergänzt werden, die dafür sorgt, dass eine Organisation (die Verwaltung) die nötigen Voraussetzungen für eine problem- und umweltadäquate Vorgehensstrategie überhaupt schaffen kann. Auch angesichts der eigenen Ansprüche heißt Readiness für die öffentliche Verwaltung, sich den Anforderungen einer wachsenden Flexibilisierung stellen zu müssen. Dazu zählt der Abbau der hierarchischer Ebenen und die Verlagerung von Kompetenz und Verantwortung in autonome Arbeits- oder Projektgruppen sowie der Wandel der Leitungsaufgaben zur Stützungsfunktion für selbstorganisierte Prozesse. Es scheint offensichtlich, dass hierbei noch erheblicher Handlungsbedarf in der öffentlichen Verwaltung besteht. Die Verlagerung von Autonomie und Gestaltungsspielräumen in die Projektteams erfordert deutliche Veränderungen in den verwaltungstypischen Aufgabenprofilen und Berufsbildern. Ziel dieser Veränderungen wird sein, die Mitarbeiter so vorzubereiten und zu schulen, dass diese den Anforderungen an Selbstständigkeit, Kompetenz, Flexibilität, Verantwortung, Koordinations- und Kommunikationsfähigkeit gerecht werden können. Zusätzlich muss dafür Sorge getragen werden, dass auch hinreichende Personalkapazitäten zur Verfügung stehen. Nach unseren Erfahrungswerten gelingt es gerade in Zeiten des ständigen Personalabbaus im deutschen öffentlichen Dienst immer weniger, die nötigen, qualifizierten Ressourcen für temporäre Projekte zur Verfügung zu stellen. Projekte werden in öffentlichen Verwaltungen nicht selten „nebenbei“ gemacht, erhalten so vom Management nicht die notwendige Bedeutung und führen bei Engagement der Projektleitung und der Mitarbeiter zu erheblichen Mehrbelastungen des Projektteams, ohne dass dies tatsächlich vom Management honoriert wird.

5.

Literatur ^

Büschenfeldt, Maika, Die Zukunft elektronischer Demokratie: Die Bedeutung des demokratischen Prinzips in softwaretechnischen Konzepten und der elektronischen Demokratie als Anwendungsdomäne der Softwareentwicklung, Bremen (2011).  

von Lucke, Jörn u.a., E-Government-Forschungsplan: Handlungsfelder für eine neue Strategie in Deutschland, Gesellschaft für Informatik (GI), Fachbereich Rechts- und Verwaltungsinformatik, Fachausschuss Verwaltungsinformatik (VI), Bonn (2005).

Mayr, Herwig, Web-Projektmanagement. In: Kappel, Gerti, Birgit Pröll, Siegfried Reich, Werner Retschitzegger (Hrsg.): Web Engineering: Systematische Entwicklung von Webanwendungen, Dpunkt, Heidelberg, S. 207–237 (2004).

Miebach, Bernhard, Organisationstheorie: Problemstellung-Modelle-Entwicklung, VS Verlag (2007).

Reihlen, Markus, Die Heterarchie als postbürokratisches Organisationsmodell der Zukunft? Köln: Universität zu Köln, (1998), url: http://www.econbiz.de/archiv/k/uk/splanung/heterarchie_organisationsmodell.pdf, abgerufen: 14.5.2010. 

Scholl, Margit und Maika Büschenfeldt, From Planning Process to Self-Organisation: Can context control help ensure the success of IT projects in public administration? EGOV 2011, August/September 2011 in Delft, Niederlande.Joint Proceedings of Ongoing Research and Projects of IFIP EGOV and ePart, Trauner Verlag, S. 117–124 (2011). 

Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen (1976).

Willke, Helmut, Systemtheorie II: Grundzüge einer Theorie der Intervention in komplexe Systeme, Stuttgart (1996).

Willke, Helmut, Systemtheorie III: Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme, Stuttgart, (1998).

  1. 1 Vgl. dazu auch Willkes Unterscheidung in die Systemdimensionen der Grenzbildung, Ressourcen, Systembildung und Revision (Willke 1996b:206 ff.).
  2. 2 Zu den Vor- und Nachteilen der unterschiedlichen Koordinationsmodelle siehe auch (Büschenfeldt 2011).
  3. 3 http://www.cio.bund.de/cln_093/DE/Ueber_uns/IT-Planungsrat/it-planungsrat_node.html, Zugriff: 18.1.2011.
  4. 4 http://www.cio.bund.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Aktuelles/nationale_e_government_strategie_beschluss_
    20100924_download.pdf?__blob=publicationFile
    , Zugriff 8.1.2011
  5. 5 Die Begriffe Überregelung und Unterregelung entstammen der Verrechtlichungsdebatte; zum Zusammenhang von Überregelung und Unterregelung s.a. Büschenfeldt (2011).