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Sprache und Recht (Strukturierung einiger offener Fragen)

  • Author: Friedrich Lachmayer
  • Category: Short Articles
  • Region: Slovenia
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Conference proceedings IRIS 2012
  • Citation: Friedrich Lachmayer / , Sprache und Recht (Strukturierung einiger offener Fragen), in: Jusletter IT 29 February 2012
Rechtssprache ist der gemeinsame Ausdruck für die Sprache, die von Gesetzgebern (z.B. Gesetzessprache), Rechtsfachleuten, die die Gesetze und andere formelle Rechtsquellen auslegen und anwenden, sowie von der Rechtswissenschaft verwendet wird. Die Rechtssprache basiert auf der allgemeinen Umgangssprache, die sie jedoch durch Fachausdrücke ausbaut und ergänzt, sodass es sich, ganzheitlich gesehen, um eine besondere Fachsprache handelt. In einer weiteren Bedeutung soll durch die Sprache des Rechts auch die alltägliche Rechtserfahrung erfasst werden, die bezüglich ihrer Ausdrucksform vielfältig und inhaltlich vielgestaltig ist. Die Rechtsinformatik bringt aber diesbezüglich einen Paradigmenwechsel mit sich, als der Fokus vom pragmatisch-semantischen Verstehen auf die Syntax gelegt wird. Dies führt zur Syntax-Semantik-Äquivalenz, ein Problem, welches von der Rechtsinformatik selbst unter Einbeziehen der AI noch nicht hinlänglich gelöst ist.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Gedanke und Wort
  • 2. Die Sprachlichkeit des Rechts
  • 3. Einige offene Fragen
  • 3.1. Gegenstand der rechtlichen Regulierung
  • 3.2. Bedeutungsmäßige Bestimmbarkeit
  • 3.3. Die Zweidimensionalität der Sprache (A. Kaufmann)
  • 3.4. Hierarchische Beschaffenheit der Rechtssprache
  • 3.5. Der Verstehenskontext
  • 3.6. Bedeutungskern und Zweifelspielraum (Hart)
  • 3.7. Objektivistische Auslegungsmethode
  • 4. Die Sprache der Rechtswissenschaft und die Sprache der rechtlichen Begründung
  • 5. Der Paradigmenwechsel der Rechtsinformatik

1.

Gedanke und Wort ^

[1]
Wenn ich den Gedanken von Rudolf von Jhering paraphrasiere, würde ich sagen, dass der Gesetzgeber wie ein Philosoph denken, jedoch markig und kernig wie ein Bauer reden soll.1 Von Jherings Spruch betrifft den Kern des Problems: er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen dem Gedanken und dem Wort, das den Gedanken ausdrückt und ihn mitteilt. Beide, der Gedanke und das Wort, sind von Bedeutung und unzertrennlich verbunden, beide befinden sich schon seit der Antike im Mittelpunkt der philosophischen Untersuchung und Welterkenntnis. Die Welt, die wir kennen, ist eine Frucht der Sprache und besteht nicht außerhalb der Sprache: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“2
[2]
Das Recht ist ein Phänomen, das ganz mit der Sprache lebt und atmet, insbesondere mit dem Wort; das Wort ist von Bedeutung und hat seine Kraft auch dort, wo sich das Recht auf andere Mitteilungszeichen stützt oder Lebensfälle bewertet, die ebenfalls nonverbale Zustände, Geschehnisse und Handlungen sind. In älteren Rechten und anderen Rechtskulturen gehören zu den bedeutenden nonverbalen Mitteilungszeichen auch Rituale, Symbole, Kleidung, Musik usw. In einem bestimmten, eingeschränkten Umfang sind diese Zeichen auch in modernes Recht eingebunden. Ungeachtet dessen kommt dem Wort durchwegs eine Schwerpunkt- und Hauptrolle zu; das Wort ist der Träger der Verstehens und der Verständigung; das Wort vermittelt (umrahmt, beinhaltet) rechtliche Mitteilungen, drückt Rechtsfolgen aus oder erklärt sie wenigstens bezüglich ihres Inhalts, wenn es sich um Rechtsfolgen handelt, die auf konkludenten oder irgendwelchen anderen nonverbalen Handlungen beruhen.3

2.

Die Sprachlichkeit des Rechts ^

[3]
Die Sprachlichkeit des Rechts bezieht sich auf das Recht als ein Ganzes. Im engeren Sinn ist Rechtssprache „der gemeinsame Ausdruck für die Sprache, die von Gesetzgebern (z.B. Gesetzessprache), Rechtsfachleuten, die die Gesetze und andere formelle Rechtsquellen auslegen und anwenden, sowie von der Rechtswissenschaft verwendet wird.“4 Im weiteren Sinn sind Träger der Rechtssprache „alle jene, die Sprachhandlungen ausführen, indem sie die Ausdrucksweisen der Gesetzgeber und Juristen wiederholen.“5 In einer weiteren Bedeutung soll durch die Sprache des Rechts auch die alltägliche Rechtserfahrung erfasst werden, die bezüglich ihrer Ausdrucksform vielfältig und inhaltlich vielgestaltig ist.
[4]
Es wäre falsch, die Sprache des Rechts künstlich vom Leben zu trennen und sie nur auf die Sprache der Gesetzgeber und Rechtsfachleute einzuengen. Haft sagt sehr schön, dass die Sprache des Rechts der Umgangssprache verpflichtet ist.6 Die Sprachlichkeit des Rechts wäre ausgesprochen arm, lebensfremd und verknöchert, wenn sie nicht aus der täglichen Praxis hervorsprießen würde, die ausdrücklich von der Sprache der praktischen Verständigung beeinflusst wird. Ein Schulbeispiel sind Sprüche und Sprichwörter, die „kurz das Wesen dessen zusammenfassen, was man sonst nur auf eine umfangreichere und oft kompliziertere Weise ausdrücken könnte.“7
[5]
Die Rechtssprache (im engeren Sinne des Wortes) baut die Sprache der praktischen Verständigung aus und ergänzt sie durch Fachausdrücke, sodass es sich, ganzheitlich gesehen, um eine besondere Fachsprache handelt. Die Rechtssprache besteht aus Ausdrücken der Sprache der praktischen Verständigung, aus bedeutungsmäßig geänderten Ausdrücken der Umgangssprache, aus besonderen Rechtsausdrücken und möglicherweise auch aus Fachausdrücken anderer Gebiete (insbesondere jenen, die auf eine angemessene Weise aus dem Fachgebiet übernommen worden sind, das im konkreten Fall der Gegenstand der rechtlichen Regulierung ist).8 Für die Rechtssprache sind vor allem bedeutungsmäßig geänderte Ausdrücke der Umgangssprache und besondere Rechtsausdrücke charakteristisch. Kurzum, es ist die Sprache der Juristen oder die juristische Sprache, die als Fachsprache von Rechtsexperten angewendet und weiter entwickelt wird.

3.

Einige offene Fragen ^

[6]
Hier öffnet sich eine Palette an Fragen. Um einigermaßen systematisch vorzugehen, möchte ich zunächst jene berühren, die sich auf die Natur der Gesetzes-(Gesetzgeber-)sprache beziehen, weiter jene, die über das Verstehen und die Auslegung der Rechtssprache sprechen, dann kommen jene, die am Verhältnis zwischen der Gesetzes-(Gesetzgeber-)sprache und der wissenschaftlichen (Fach-)Sprache interessiert sind, und zuletzt die Fragen, die der „Spiegel“ der Juristen sind und somit mit der sprachlichen Qualität der rechtlichen Begründungen übereinstimmen. Die Sprachökonomie verlangt, dass ich auf der Ebene der Rechtsquellen grundsätzlich nur über die Gesetzessprache spreche und damit in Wirklichkeit auf alle Arten der Gesetzgebersprache ziele. Sollte mich eine davon besonders interessieren (z.B. die Verfassungssprache), werde ich sie benennen und entsprechend dabei verweilen.

3.1.

Gegenstand der rechtlichen Regulierung ^

[7]
Die Rechtssprache erhält einen besonderen Ton und Auftrieb durch die Sprache der Verfassung und der Gesetze. Es wäre wunderbar und es klingt naiv romantisch, dass Verfassung und Gesetze hochsprachlich und unter Berücksichtigung des jeweiligen Adressaten geschrieben werden sollten. Der Gegenstand der rechtlichen Regulierung ist fachlich zu anspruchsvoll und in seinem Inneren zu kompliziert, um jedermann zugänglich zu sein. Die Antwort hängt vorwiegend davon ab, um welches Rechtsgebiet es sich handelt und auf welcher Ebene uns das einzelne Gebiet interessiert. Ohne ein Gebiet und/oder jemanden zu unterschätzen, wird wahrscheinlich allgemein gelten, dass die Verfassung derjenige Rechtsakt sein solle, der wenigstens im Großen und Ganzen leichter verständlich und lesbar als andere Rechtsakte ist, als etwa die Finanzgesetzgebung, die oft auch für gewöhnliche Juristen eine harte Nuss darstellt.

3.2.

Bedeutungsmäßige Bestimmbarkeit ^

[8]
Die Gesetzessprache ist keine künstliche und digitalisierte Sprache, die auf eindeutigen Zeichen beruhen würde, es handelt sich vielmehr um eine lebende Sprache, die aus der Umgangssprache wächst. In diese bringt sie Bestimmtheit und Bestimmbarkeit ein, insbesondere dort, wo die Umgangssprache zu unpräzise ist (z.B. bei Ausdrücken wie Recht, Pflicht, Schuld, Urkunde, bewegliche Sache) oder überhaupt nicht die Ausdrücke enthält, die das Recht braucht, um normal in der Gesellschaft tätig zu sein. In diese zweite Gruppe gehören fast alle Ausdrücke, die mit „Rechts-“ oder „juristisch“ beginnen (z.B. Rechtssubjekt, juristische Person, Rechtstatsache). Somit erhalten Rechtsausdrücke eine höhere bedeutungsmäßige Bestimmbarkeit, doch sie sind noch weit davon entfernt, eindeutig zu sein. Es liegt in der Natur jeder Sprache, die auch Umgangssprache ist, dass sie auch für die Vielfalt des Lebens offen ist.

3.3.

Die Zweidimensionalität der Sprache (A. Kaufmann) ^

[9]
Die Umgangssprache ist zweidimensional und weist eine begrifflich-abstrakte sowie eine symbolisch-mitteilende Dimension auf, die miteinander verbunden sind. Die begrifflich-abstrakte Dimension ist zeichenbestimmt, im Voraus gedacht und voraussehbar, formstreng und weist einen größeren operativen Wert als die symbolisch-mitteilende auf. Die Letztere ist anschaulich und bildhaft, inhaltlich reich und weist einen größeren informativen Wert als die begrifflich-abstrakte auf.9
[10]
Diese zwei Dimensionen sind auch für die Gesetzessprache von Bedeutung. Ein Schulbeispiel ist die Wortverbindung bewegliche Sache: die Beweglichkeit hebt mehr die begrifflich-abstrakte Dimension des Ausdrucks hervor, während bei der Sache die symbolisch-mitteilende Seite des ansonsten einheitlichen Begriffs mehr im Vordergrund steht. In einigen europäischen Rechtsordnungen (insbesondere in der deutschen) war z.B. die Frage besonders heikel, ob Elektrizität eine bewegliche Sache sei, die der Gegenstand eines Diebstahls sein kann. Eine ähnliche Frage gab es auch in slowenischer Rechtsprechung: die Frage war, ob auch das Fernsehsignal eine bewegliche Sache sei.10 Das Problem kann noch größer sein, wenn es sich um einziges Wort handelt, z.B. um den Ausdruck Sache; sollte das Gesetz das Wort nicht genauer definieren, wäre es sowohl begrifflich-abstrakt als auch symbolisch-mitteilend dermaßen mehrdeutig, dass es fast alles abdecken würde und dadurch ziemlich unbrauchbar wäre.11
[11]
Die Gesetzessprache vereint nicht nur beide oben angeführten Dimensionen der Sprache, für sie ist von ausschlaggebender Bedeutung, dass sie ein entsprechendes Verhältnis zwischen ihnen findet.12 Wenn sie nur auf eindeutigen und bestimmten Begriffszeichen aufbaute, würde die Sprache erstarren und versteinern. Das Rechtsleben wäre einem Automaten ähnlich und auf eine verhältnismäßig kleine Anzahl von einfachen Mustern beschränkt. Wenn sie auch auf der symbolisch-mitteilenden Dimension der Sprache aufbaut, sichert sie sich „ihre Flexibilität, ihre Dynamik, ihren Nuancenreichtum“ – kurzum, „ihre Lebendigkeit und Geschichtlichkeit“.13
[12]
Gesetzesbegriffe sind „Typenbegriffe, Ordnungsbegriffe“, das sind Begriffe, „bei denen es nicht das Entweder-oder, sondern das Mehr-oder-minder gibt.“14
[13]
Und damit ist man bei einem der Schlüsselprobleme angekommen, auf das bereits Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik aufmerksam machte. Es geht um die Frage, wie (un)bestimmt die rechtliche Regulierung sein soll, um „die Fülle dessen, was das Leben bringt,“15 entsprechend zu erfassen. Wieder ist man bei der Gesetzessprache und ihrer Fähigkeit, zwischen dem rechtlich Bedeutenden und Unbedeutenden zu unterscheiden und mit demselben Maßstab nur das zu messen, was zu derselben Gruppe der Fälle gehört. Das Ideal des Gesetzgebers ist es, sich auf typische Fälle (Verhaltenstypen) zu konzentrieren, sie angemessen zu beschreiben oder wenigstens Mittel vorauszusehen, die sich dem Typischen des Lebens dauernd annähern. Dieses Ziel wird am leichtesten erreicht, wenn die Typen bereits ausgeformt und durch täglichen Gebrauch bedeutungsmäßig geschärft worden sind (z.B. auf Gebieten, die zusammenfassend durch den Begriff der verschiedensten Arten eines ordentlichen Hausherrn erklärt werden).

3.4.

Hierarchische Beschaffenheit der Rechtssprache ^

[14]
Ein bedeutendes Merkmal der Sprache des Gesetzgebers liegt auch darin, dass sie vertikal und hierarchisch aufgebaut ist. Die Sprache des Gesetzgebers steht über der Sprache der praktischen Verständigung, die sie, wie bereits erklärt, bedeutungsmäßig ändert, ergänzt und ausbaut. Darüber, wo und wann diese „Gebundenheit“ an die Umgangssprache aufhört und die ihr übergeordnete Fachsprache beginnt, entscheidet der Gesetzgeber der ersten Instanz, ihm ist der Gesetzgeber der zweiten Instanz übergeordnet und so weiter bis zum hierarchisch höchsten Gesetzgeber, nämlich dem Verfassungsgeber, der, wenigstens auf den ersten Blick, bedeutungsmäßig am höchsten steht und darüber entscheidet, wie man die gesetzte Sprache rechtlich verstehen soll. Wenn man sich die Verstehensfrage noch näher ansieht, stellt man fest, dass das entscheidende Wort demjenigen zukommt, der den Gesetzes- oder Rechtstext mit Autorität auslegt und anwendet. Und das Staatsorgan, das über die Angelegenheit entscheidet, spricht in der Metasprache des Rechts, so dass der Rechtsakt (z.B. das Gesetz) nie seine Auslegung „einholen“ kann.16 Mutatis mutandis gilt das auch für die Auslegung der Verfassung als des hierarchisch höchsten Rechtsaktes: demjenigen, der sie mit Autorität auslegt, steht keine Metaregel zur Verfügung, wie er sie verstehen und bedeutungsmäßig bestimmen soll. Wenn man das Problem auf diese Weise und unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist dieses Organ ein „Über-Verfassungs-Organ“, das mit Autorität und endgültig bestimmt, worin der Inhalt der Verfassung besteht.

3.5.

Der Verstehenskontext ^

[15]
Noch klarer: in der Natur jedes Rechtstextes liegt es, dass man ihn nicht aus ihm selbst verstehen kann; einen Rechtstext versteht man erst im Hinblick auf den Kontext, in dem man ihn anwendet, und im Hinblick auf die Bedeutungscodes, die ihn einrahmen und bedeutungsmäßig bestimmen. Bei einfachen Fällen ist man sich des Verstehens selbst nicht bewusst. Auf das Problem wird man erst aufmerksam, wenn man auf einen Problemknoten auftrifft, den man noch nicht gelöst hat oder der sich in einem neuen Licht zeigt. Mit Auslegungsregeln (d.h. mit Argumenten und Methoden) befasst sich die Theorie der Auslegung und Argumentation im Recht. Es ist sehr charakteristisch, dass auch die Auslegungsregeln selbst der Gegenstand des Verstehens sind und dass der Kreis der Auslegungsregeln nicht geschlossen ist. Darin, auch darin ist die Pointe des Gedankens, dass das Gesetz nie seine Bedeutung „einholen“ kann.

3.6.

Bedeutungskern und Zweifelspielraum (Hart) ^

[16]
Es liegt in der Natur des Gesetzes und seiner Formulierung, dass sie bedeutungsmäßig offen sind. Gesetzliche Regeln bestehen aus einem Begriffskern, der relativ bestimmt und von einem inhaltlich porösen Bedeutungsfeld umgeben ist. Hart stellt wohlbegründet fest, dass es im Gesetz immer „clear central cases“ gibt, auf die sich die Rechtsnorm mit Sicherheit bezieht, und Fälle mit „penumbra of doubt“, bei denen es auch Gründe für eine gegensätzliche Behauptung gibt.17 Es gibt wenigstens zwei Gründe für diese Bedeutungsoffenheit. Der erste Grund ist „our relative ignorance of fact: the second is our relative indeterminancy of aim. If the world in which we live were characterised only by a finite number of features, and these together with all the modes in which they could combine were known to us, then provision could be made in advance for every possibility.“ Wenn es so wäre, „we could make rules, the application of which to particular cases never called for further choice“.18 Glücklicherweise ist das Leben viel zu abwechslungsreich, um von der Einbildungskraft des Gesetzgebers ganz erfasst zu werden, während andererseits die Rechts- und die Gerichtsstruktur flexibel genug sind, um auch für diese natürliche Unzulänglichkeit der Gesetzgebung Abhilfe zu schaffen.

3.7.

Objektivistische Auslegungsmethode ^

[17]
Eine zwangsläufige Folge dieser Merkmale des Gesetzes und seiner Sprache ist es, dass der Gesetzestext, sobald er verabschiedet wird und das Gesetz eine verpflichtende Kraft erhält, ein eigenständiges Leben zu leben beginnt.19 Es handelt sich um eine objektivistische Auslegungsmethode, die den Gesetzestext nicht im Hinblick auf den „Willen des Gesetzgebers“, sondern im Hinblick auf die „ratio legis“, wie sie aus dem Gesetzestext erkennbar ist, auslegt. Die juristische Interpretation richtet sich auf den „objektiv gültigen Sinn des Rechtssatzes“ und nicht auf die Bedeutung, die der Autor des Gesetzes im Sinne hatte.20 Von der gemäßigten Richtung der objektivistischen Auslegungsmethode wird jede aktualistische Anpassung der Auslegung an Tagesbedürfnisse und -verhältnisse entschieden abgelehnt, es geht ihr nur darum, dass die „ratio legis“ autonom ist und dass der Ausleger Antworten auf Fragen sucht, die der Gesetzgeber weder voraussah noch voraussehen konnte. Für sie ist das Gesetz immer ein Teil der kulturgeschichtlichen Umstände, in die auch der Ausleger selbst eingepflanzt ist; der Sinn, den er im Gesetz erkennt, ist nicht nur der Sinn des Gesetzes als solchen, er ist auch der Sinn des Rechtssystems (ratio iuris), des geschichtlichen Zeitabschnitts und der Zeit, in der der Text ausgelegt wird. Es ist eine Eigenart der objektivistischen Auslegungsmethode, so Radbruch, dass „jeder Sinn nur Teilsinn in einem unendlichen Sinnzusammenhang ist und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft.“21
[18]
Die objektivistische Auslegungsmethode ist nicht statisch, weil sie sich nicht nur für geschichtliche Verhältnisse, die zum Entstehen des Gesetzes führten, interessiert. Ihre Reichweite ist größer: sie interessiert sich auch für die Entwicklung des Rechtsinstituts, das der Gegenstand der Auslegung ist, seine heutige Bedeutung und, soweit möglich, seine künftige Entwicklung, die für Recht im Hinblick auf die Voraussehbarkeit und Verlässlichkeit des menschlichen Verhaltens (Rechtssicherheit) von Bedeutung ist. Die Dynamik der objektivistischen Auslegungsmethode lebt in einer Spannung zwischen der Vergangenheit und der mehr oder weniger klar erkennbaren Zukunft. Sie bewegt sich zwischen diesen zwei „Grenzsteinen“, die sie ausmessen und berücksichtigen muss, wenn sie weder geschichtlich schwerfällig (möglicherweise auch konservativ) noch ideologisch visionär (möglicherweise auch totalitär) zu sein wünscht. Wenn sie sich zwischen diesen zwei Klippen bewegt, ist es ihre Aufgabe, den Grundsätzen der Rechtssicherheit und dem geschichtlich gefestigten Wertesystem treu zu bleiben.
[19]
Der Gesetzestext ist keine Einheit, die sich verselbstständigt hat und die man beliebig auslegen könnte; sein selbstständiges Leben bedeutet nur, dass der Ausleger die Verantwortung für das Verstehen des Gesetzes nicht auf einen imaginären (und manchmal ziemlich geheimnisvollen und allwissenden) Gesetzgeber übertragen kann. Der Ausleger ist an das Gesetz gebunden, seine Aufgabe ist es jedoch, Stützpunkte zu finden, die seiner Auslegung Sinn und Begründung geben.
[20]
Einer dieser Stützpunkte ist auch der „Wille“ des geschichtlichen Gesetzgebers (subjektivistische Auslegung). Die objektivistische Auslegung behauptet nicht, der Zweck, den das gesetzgebende Organ dem Gesetz zuschrieb, wäre unwichtig. Doch dieser Zweck ist keineswegs schon an sich verbindlich, sondern nur über den Gesetzestext, der ihn und soweit er ihn ausdrückt. Und es liegt in der Natur der Auslegung, dass auch der Zweck des Gesetzgebers ein Gegenstand der Auslegung und des Verstehens ist. Es ist der Mehrheitsstandpunkt, dass dieser Zweck wichtiger bei den relativ jüngeren und den neuesten Gesetzen ist, während seine Kraft in zunehmendem Maße schwächer wird, wenn die Zeit abrückt und die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Gesetz unmittelbar hervorriefen, sich ändern. Dessen ist sich die subjektivistische Auslegung selbst bewusst, die in ihrer gemäßigten Variante22 den Boden des geschichtlichen Gesetzgebers (subjektivistische statische Auslegung) verlässt und als den Ausgangspunkt ihrer Auslegung den Typus des idealen zeitgenössischen (aktuellen) Gesetzgebers annimmt: der Ausleger ist an jenen Zweck gebunden, den der jetzige Gesetzgeber dem Gesetz zuschreiben würde (subjektivistische dynamische Auslegung).

4.

Die Sprache der Rechtswissenschaft und die Sprache der rechtlichen Begründung ^

[21]
Die Rechtssprache weist natürlich auch andere Ebenen und Dimensionen auf, obwohl es wahrscheinlich stimmt, dass sie uns in der täglichen Praxis gerade als ein Verstehens- und Auslegungsphänomen interessiert. Um das Thema einigermaßen abzurunden, sollte man noch wenigstens zwei Problemkreise erwähnen: einerseits die Sprache der Rechtswissenschaft und andererseits die Sprache der rechtlichen Begründungen.
[22]
Die Sprache der Rechtswissenschaft ist begrifflich am feinsten geschliffen und auch bedeutungsmäßig am stärksten aufgegliedert. Der wesentliche Unterschied zwischen der Gesetzes- und der Wissenschaftssprache besteht darin, dass die Gesetzessprache vorschreibt (die Präskriptivität der Rechtssprache), während die Wissenschaftssprache, neben allem Anderen, die Gesetzessprache bedeutungsmäßig beschreibt (die Deskriptivität der Rechtssprache). Die Wissenschaftssprache besitzt auch eine ziemliche Erziehungs-23 und Mitteilungskraft, als die Sprache einzelner positivrechtlicher Wissenschaften kann sie auch die Gesetzessprache aktiv beeinflussen. Die Vorlagen der Gesetzbücher und der wichtigsten Gesetzestexte sind – oder sollten es sein – das Werk der Rechtswissenschaft und der Rechtsfachleute.
[23]
Es genügt nicht, dass die Gesetzes- und die Wissenschaftssprache entsprechend zusammenwirken. Es liegt in der Natur der Wissenschaftssprache, dass sie die Gesetzessprache untersucht und bedeutungsmäßig erklärt, reinigt und befruchtet, aber auch kritisch gutheißt und sprachlich ausbaut. Die positivrechtliche Wissenschaft besitzt nicht die Freiheit, dem positivrechtlichen Gegenstand abzusagen, sie besitzt jedoch die Kraft, der wissenschaftlichen und sprachlichen Tradition ihrer Wissenschaft treu zu bleiben.
[24]
In der sprachlichen Qualität der Begründung spiegelt sich die Qualität unserer Arbeit wider. Die sprachliche Richtigkeit kann ich nur als Amateur beurteilen. Ausgesprochen störend sind Urteilssprüche, die mehrseitige Beschreibungen der Straftaten in einem Satz enthalten, ohne dass der Autor natürlich Atem holte und einzelne Gedankengruppen durch Punkte voneinander abgrenzte. Schmerzlich berühren Begründungen mit stereotypen Redewendungen und Floskeln. Abneigung erregen die Begründungen, die unkritisch gegenüber der Gesetzessprache sind. Selbstverständlich muss (oder müsste) man rechtlich klar und möglichst bestimmt sein; man ist an das Gesetz und die fachlichen Ausdrücke gebunden, jedoch nicht an jede sprachliche „Schnapsidee“, die vielleicht ihren Weg in den Gesetzestext gefunden hat. Und man sollte zugeben, auch Computer können störend sein, obwohl sie uns eigentlich entlasten und uns behilflich sein sollten. Manche scheinen zu glauben, dass alles, was auf dem Bildschirm erscheint, bereits durchdacht und sprachlich ausgefeilt ist. Das in den Computer Geschriebene ist oft langatmig, begrifflich unscharf und gedanklich nicht abgeklärt. Dasselbe Schicksal erleben die ins Diktiergerät gesprochenen Texte, wenn die Niederschriften nicht sprachlich und inhaltlich durchgesehen und korrigiert werden.
[25]
Eine besondere Frage ist das Schreiben von Begründungen. Die Prozessnormen sagen zwar, was man begründen muss, sie sagen jedoch nicht, wie und mit welchen Gründen man begründen soll. Offensichtlich gibt es mehrere Wege, die von mancherlei abhängen: von der Art des Verfahrens, von der Natur und dem Gewicht des Falles, von der Rechtstradition und der Rechtskultur,24 aber auch von dem Wissen, der Erfahrung und dem schöpferischen Geistreichtum des Autors der Begründung. Eine Durchsicht der Begründungen zeigt, dass einige knapp und mechanisch, wieder andere langatmig, nacherzählend und „episch“ langweilig sind, dritte sind überlegend und konzentrieren sich auf das Spiel von Argumenten und Gegenargumenten ... bis zu solchen, die alles in kleinen Dosen enthalten.25
[26]
Sprachlich gut ist nur eine solche Begründung, in der der Gedanke und die Sprache möglichst gut übereinstimmen. Der Schwerpunkt des Problems liegt in von Jherings Feststellung, die bereits eingangs erwähnt wurde. Die Angelegenheit soll zuerst geklärt, von allen Seiten belichtet und durchdacht werden, erst dann kann man sich entscheiden und eine Entscheidung aussprechen. Die Sache ist entscheidungs- und begründungsreif, wenn man sich zu den tragenden Gründen (ratio decidendi) vorgekämpft hat. Von da an ist der Gedanke entspannt und man kann ihn entsprechend in Worte fassen.
[27]
Und das ist auch der Punkt, wo die „Kunst“ und die Kreativität des Begründens anfangen. Der Maßstab einer guten Begründung ist nicht ihre größere oder kleinere Länge – die hängt vom Verfahren, der Natur der Sache, dem persönlichen Ansatz und anderen bereits angedeuteten Umständen ab – ihr Hauptmaßstab ist es, ob sie auf tragenden Gründen beruht, die sie zusammen mit der Angelegenheit selbst und dem Verlauf des Verfahrens klar, lesbar und rechtlich überzeugend sprachlich ausdrückt. Und natürlich gilt es auch umgekehrt: schlecht ist eine solche Begründung, in der die tragenden Gründe nur flüchtig angedeutet und zusammenhanglos verstreut sind oder als deus ex machina, der stillschweigend aus der Beschreibung der Angelegenheit hervorgehen sollte, erscheinen.

5.

Der Paradigmenwechsel der Rechtsinformatik ^

[28]
In der Zeit vor dem Computer wurde die Kommunikation grundsätzlich personal gesehen. Im Innenbereich einer Person (hier schon vorweggenommen technisch als „Sender„ bezeichnet) wurde eine Information gebildet, dann durch Erklärung nach Außen vermittelt wurde (Output). Die Information als Zeichenträger besitzt eine mehr oder weniger unabhängige Existenz, etwa als Text, um dann beim Empfänger aufzutreffen (Input) und schließlich im Vorgang des Verstehens vom Empfänger aufgeschlüsselt zu werden.
[29]
Entscheidend war dabei das personale Verstehen der Sprache, was sich weniger auf die Lebenssituation der Personen bezogen hat, als vielmehr auf den Inhalt der Information, aber dennoch als personaler Akt angesehen werden kann.
[30]

Mit dem Aufkommen des Computers änderte sich die Situation grundlegend.

[31]
Im Zentrum steht nunmehr das Dokument. Der ursprüngliche Kommunikationsvorgang ist bei einem Dokument in einer Datenbank nicht mehr so relevant. Die Recherche wird vom Computer durchgeführt und dieser geht grundsätzlich syntaktisch an das Problem heran. Es gibt zwar auf den Metaebenen Konventionen und Standards sowie darüber gelagert allenfalls Thesaurus und Ontologien, doch fehlt der Maschine das völlig, was als personales Verstehen bezeichnet werden kann. Freilich ist das Gesamtsystem auf Semantik angewiesen, sodass auf verschiedene Weise versucht wird, die Syntax-Semantik-Äquivalenz herzustellen. Insbesondere der Einsatz der AI in der Rechtsinformatik ist ein erfolgversprechender Weg, doch ist dabei das Ziel bei weitem noch nicht erreicht.
[32]
In der Metapher der Visualisierungen gesprochen ändert sich die Richtung der Grundstruktur: Während die Kommunikation zwischen Personen gleichsam „horizontal“ gesehen werden kann, verbunden durch das Band des Verstehens, wird die syntaktisch dominierte Maschinen-Text-Beziehung bei der obigen Visualisierung „vertikal“ gesehen. Wie immer auch die bildliche Anordnung erfolgt, sicher ist, dass die Sichtweise eine andere geworden ist und dass zur personalen Kommunikation nunmehr die Maschinen-Text-Beziehung hinzutritt, was sowohl für die Praxis wie für die Theorie neue Herausforderungen mit sich bringt.

Literatur

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  1. 1 Rudolf von Jhering: „Der Gesetzgeber soll denken wie ein Philosoph, aber reden wie ein Bauer.“ Zitiert nach Schönherr 1982, S. 246.
  2. 2 Wittgenstein 1984, 5.6. – Vgl. auch Wilhelm von Humboldt, der über die „Verwandlung der Welt in die Sprache“ spricht (zitiert nach Kaufmann 1997, S. 109) und Benjamin 1992, S. 30: „Das Dasein der Sprache erstreckt sich (...) auf schlechthin alles. Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geistigen Inhalt mitzuteilen.“
  3. 3 Siehe Pavčnik 2007, S. 240–242 und S. 418–422.
  4. 4 Siehe Pavčnik, in: Leksikon pravo [Lexikon Recht (2003)], S. 276.
  5. 5 Siehe Visković 1989, S. 16.
  6. 6 Haft 1994, S. 279.
  7. 7 Kranjc 1994, S. 5.
  8. 8 Siehe näher Visković 1989, S. 26–32, und Pavčnik 2004, S. 60-65. Siehe auch Larenz 1983, S. 305 ff.; Hoecke 1988, S. 71-110; Coing 1993, S. 219 ff., und Cornu 2000.
  9. 9 Siehe Visković 1989, S. 149-150; Coing 1993, S. 219 ff.; Haft 1994, S. 276 ff.; Engisch 1997, S. 92 ff., und Kaufmann 1997, S. 114 ff.
  10. 10 Siehe die Rechtsmeinung der generellen Sitzung des Obersten Gerichts der Republik Sloweniens von 19. 12. 1990, in: Pravna praksa, 10 (1991) 6, S. 12.
  11. 11 Vgl. ABGB, § 291 ff., und BGB, § 90 ff.
  12. 12 Obwohl man dieses Verhältnis nur schwer beschreiben und kurz in Worte fassen kann, kann sich der Gesetzgeber auch mit Rechtsdefinitionen behelfen. Mit ihnen definiert er eingehender und bestimmter die Ausdrücke, von denen er meint, dass sie rechtsbedeutend sind und/oder sonst begrifflich unklar und inhaltlich zu offen sein könnten. Eine ähnliche Rolle kommt auch allgemeinen Auslegungsregeln zu.
  13. 13 Kaufmann 1997, S. 117.
  14. 14 Kaufmann 2011, S. 135.
  15. 15 Aristoteles (Nikomachische Ethik), V, 14, 1137b.
  16. 16 Hassemer 1986, S. 203.
  17. 17 Hart 1994, S. 123.
  18. 18 Ibidem, S. 128.
  19. 19 Vgl. Goethe: „Ein ausgesprochenes Wort tritt in den Kreis der übrigen notwendig wirkenden Naturkräfte mit ein.“ Zitiert nach Esser 1964, S. 258.
  20. 20 Radbruch 1999, S. 107.
  21. 21 Radbruch 1935, S. 222.
  22. 22 Vom Standpunkt des Strafrechts ist sie in der neueren Theorie von Schroth 1983 befürwortet worden. Siehe besonders S. 37 ff. und S. 152-153.
  23. 23 Siehe Seibert 1977.
  24. 24 Siehe Summers, Taruffo 1993, S. 496 ff.
  25. 25 Siehe Pavčnik 2010.