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Von der Akte zur Information

  • Author: Fritjof Haft
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Informatics, E-Justice
  • Citation: Fritjof Haft, Von der Akte zur Information, in: Jusletter IT 11 December 2013
Judiciary and legal professions in Germany are currently busy with the detachment from paper to bits. However, the file had arisen in the early modern times and it is bound to the medium of paper since then. For the task of coping with complexity, this media is ill-suited. Taking this as the starting point of digitization in the right is like the effort to build locomotives that run on legs instead of driving on wheels. The author points out that the information – instead of the file – is the right approach for digitization in the right.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Die Erfindung des Gerichts und des Antrags
  • 2.1. Die Erfindung des Gerichts
  • 2.2. Die Erfindung des Antrags
  • 2.3. Die technischen Grundlagen
  • 3. Die Erfindung der Akte
  • 4. Der richtige Ausgangspunkt: Die Information
  • 5. Schlussbemerkung

1.

Einleitung ^

[1]
Gegenwärtig befindet sich die Justiz auf dem Weg zur elektronischen Justiz. Die rasante technische Entwicklung einerseits und die beschränkten Ressourcen der Justiz andererseits legen dies nahe. Während in den Anfangsjahren vor allem solche Teilbereiche des Rechts automatisiert wurden, die sich formal gut modellieren lassen – ein Beispiel bietet das Mahnverfahren – rückt nun der Kernbereich der Rechtsanwendung zunehmend in den Fokus des Interesses. Es ist dies jener Bereich, in dem das Recht, wie Savigny einmal gesagt hat, «das Leben selbst» bewältigen muss, freilich «von einer besonderen Seite angesehen.» Viele Jahre war es unter den Juristen in Deutschland fast allgemeine Meinung, dass dieser Kernbereich sich jeglicher Automatisierung entziehe. Hier gehe es, so argumentierte man, um die spezifisch menschliche Fähigkeiten, Sachverhalte und rechtliche Regelungen zu erfassen, hier gehe es um das Verstehen und die Auslegung von Normen, hier gehe es um schöpferisches Arbeiten, bei dem der Jurist «klüger» sein müsse als der Gesetzgeber – hier gehe es, kurz gesagt, um Hermeneutik, und da Computer bekanntlich nicht denken können, hätten sie hier nichts zu suchen. Die Mindermeinung hat der Verfasser dieses Beitrags stets vertreten, ohne sich davon beeindrucken zu lassen, dass die Mindermeinung – der Name sagt es – «minder» ist.
[2]
Die Frage ist nicht, ob Computer «denken» können, sondern ob die technischen und organisatorischen Gegebenheiten den Menschen beim Denken unterstützen oder behindern können. Diese Frage stellte sich bereits in grauer Vorzeit, als die Anfänge des Rechts entstanden. Damals wurden das Gericht und der Antrag erfunden. Sie stellte sich verschärft, als ebenfalls vor langer Zeit die Akte erfunden wurde, die bis in unsere Zeit das Geschehen im Recht bestimmt. Und sie stellt sich erneut angesichts technischer Möglichkeiten, die wir täglich im Zeitalter der Computerrevolution in allen Lebensbereichen erfahren können.

2.

Die Erfindung des Gerichts und des Antrags ^

2.1.

Die Erfindung des Gerichts ^

[3]

Am Beginn der Rechtsentwicklung stand das Palaver archaischer Stämme. Spuren davon haben sich bis in unsere Zeit erhalten. Der Rechtshistoriker William Seagle bezeichnete es als ein «unblutiges Duell». Es bot eine «festliche Gelegenheit zu Reden und Gegenreden». Kläger und Beklagter versammelten sich mit ihren Zeugen und Freunden vor dem Häuptling oder den Ältesten und deren Ratgebern. Parteien und Zeugen wurden durch die Priester vereidigt, ehe sie ausgiebig gehört und ins Kreuzverhör genommen wurden. Bei einigen fortgeschrittenen Stämmen wie den Afrikanern der Goldküste wurden die Zeugen durch eigene Gerichtsbeamte, die Linguisten, verhört. Dies geschah, um «Ordnung und Würde der Prozedur» zu gewährleisten. Da es keine «spitzfindigen und starren Verfahrensregeln» gab, konnte der Beklagte den Prozess nicht verschleppen oder die Klage zu Fall bringen. Allgemein herrschte der Glaube, niemand werde die Mühsal einer Klage auf sich nehmen, wenn er nicht gute Gründe dafür habe. Deshalb wurde – im Gegensatz zu den Prinzipien des modernen Rechts – der Beklagte bis zum Beweis des Gegenteils für schuldig gehalten. Aus diesem Grund wurde ihm auch die Beweislast aufgebürdet. Das Urteil erging rasch. Im Anschluss hieran war eine Gerichtsgebühr zu erlegen und wurde die Vollstreckung betrieben. Die Macht der öffentlichen Meinung war jedoch meist so stark, dass eine Zwangsvollstreckung nicht nötig war. Der Prozess wurde, wie gesagt, als Duell empfunden. Erschien der Beklagte nicht, konnte ein solches Duell nicht stattfinden. Ein Versäumnisurteil erging dann nicht. Der Beklagte konnte diese Situation jedoch nicht zu seinem Vorteil ausnutzen. Auf ihm «lastete ein ungeheurer Druck», der ihn zum Erscheinen vor Gericht zwang. Im Falle des Nichterscheinens konnte er «für recht- und friedlos erklärt» werden. Auch konnte sein Vermögen konfisziert werden. Da es «paradox» gewesen wäre, ein Duell aus gleichem Anlass zu wiederholen, gab es keine Berufung gegen ein Urteil.

[4]
Eine literarische Quelle von höchstem Rang erlaubt es uns, einen flüchtigen Schimmer jenes Prozesses zu erhaschen, in welchem ein Volk den Schritt vom primitiven zu einem archaischen Rechtszustand tut. In einer berühmten Szene der Ilias (II. 18. 497-508) schildert Homer einen Prozess, der in einer Folge von Bildern auf dem legendären Schild des Achill dargestellt ist. Dies sind die Worte des Dichters (in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt):
    «Das Volk aber war auf dem Markt versammelt. Dort hatte ein Streit sich erhoben: Zwei Männer stritten um das Wergeld für einen erschlagenen Mann. Der eine gelobte, dass er alles erstattet habe und tat es dem Volke dar, der andere leugnete: nichts habe er empfangen. Und beide begehrten, beim Schiedsmann einen Entscheid zu erlangen, und das Volk schrie beiden zu, hüben und drüben als Helfer. Und Herolde hielten das Volk zurück, die Ältesten aber saßen auf geglätteten Steinen im heiligen Ring. Und sie hielten die Stäbe von den Herolden, den luftdurchrufenden, in den Händen; mit denen sprangen sie dann auf und taten abwechselnd ihren Spruch. In ihrer Mitte aber lagen zwei Pfunde Goldes, um sie dem zu geben, der unter ihnen das Recht am geradesten spräche.»
[5]
Offenbar hatte der Beklagte einen Verwandten des Klägers ermordet, und offenbar ging der Streit um die Erfüllung eines Paktes, mittels dessen sich die Parteien über das Recht des Klägers zur Rache verglichen hatten. Es gab also bereits eine compositio, ein «Wergeld», welches die primitive Blutfehde zu überwinden geeignet war. Und es gab offenbar schon ein Gericht.
[6]
Über den letztgenannten Punkt ist freilich viel gestritten worden. Man hat darauf verwiesen, die Worte «beide begehrten, beim Schiedsmann einen Entscheid zu erlangen», deuteten auf ein Schiedsgericht hin, und ein Schiedsgericht sei schon immer eine vom staatlich autorisierten Gericht grundsätzlich verschiedene Erscheinung gewesen; jenes sei freiwillig und wolle vermitteln; dieses sei zwingend und verbindlich. Wie jedoch vor allem H. J. Wolff überzeugend herausgearbeitet hat, beschreibt Homer ein echtes Gericht. Wolff deutet die Szene so:
[7]
Der Kläger war noch auf Selbsthilfe angewiesen. Er musste den Schuldner festnehmen und konnte, wenn dieser das Wergeld nicht bezahlte, Blutrache nehmen, indem er den Schuldner umbrachte. Der Beklagte rief zum Schutz gegen diese Selbsthilfe die Obrigkeit an. Er fand bei den Ältesten Zuflucht und Schutz, bis seine Behauptung, das Wergeld sei gezahlt worden, geklärt war.
[8]
Es existierte also eine Obrigkeit, die mit der Macht ausgestattet war, in eine bereits angefangene private Vollstreckung einzugreifen. Die Existenz dieser Obrigkeit wird durch die Herolde belegt, die das Volk zurückhielten. Die Obrigkeit selbst – ein König? –spielte im Verfahren keine Rolle und wurde deshalb vom Dichter nicht erwähnt.
[9]
Als erster trug der Beklagte seine Sache vor «und tat es dem Volke dar». Dann sprach der Kläger. Danach taten die Ältesten «abwechselnd» ihren Spruch, wobei sie die «Stäbe von den Herolden» in den Händen hielten. Das Volk hörte schweigend jeden Vorschlag an. Missfiel ihm ein Vorschlag, hielt das Schweigen auch nach dem Vortrag an; anderenfalls akklamierte es. Der Älteste, dessen Vorschlag den meisten Beifall fand, war der, der «das Recht am geradesten» sprach. Er erhielt die beiden Pfund Gold, welche die Parteien als Gebühr für den Spruch im Voraus hinterlegt hatten.
[10]

    «Damit», schreibt H. J. Wolff, ist das «hinter den Vorgängen stehende Prinzip klar. Die öffentliche Gewalt sucht den internen Frieden zu garantieren – nicht so sehr dadurch, dass sie sich denen zur Verfügung stellt, die eine friedliche gerichtliche Bestätigung ihrer Ansprüche suchten, als vielmehr dadurch, dass sie einem angegriffenen Mitglied des Gemeinwesens Schutz gewährte, solange das Recht des Angreifenden auf den Zugriff nicht feststand. So primitiv und unvollkommen dieses Verfahren auch sein mochte, der erste und entscheidende Schritt in der Richtung der Verhütung des Auswachsens der Selbsthilfe zur wilden Fehde, die die Ordnung und den Frieden des Gemeinwesens in Frage gestellt hatten, war getan

[11]
Das Gericht war erfunden – «die erste, vielleicht auch die letzte große Erfindung auf dem Gebiet des Rechts» (W. Seagle).

2.2.

Die Erfindung des Antrags ^

[12]
Wie aber gelangte nun das Gericht zu seiner Entscheidung? Die Antwort finden wir, wenn wir die Gerichte im klassischen Griechenland betrachten. In Athen wurde die profane Gerichtsbarkeit dem Areopag entzogen und auf den Rat der Fünfhundert, die Ekklesia und die Volksgerichte übertragen. Korruption und geheime Absprachen sollten verhindert werden. Deshalb wurden die Volksgerichte erst unmittelbar vor der Verhandlung durch Losentscheid gebildet. Der athenische Bürger, der einen Fall vor Gericht zu vertreten hatte, sah sich mit folgenden Bedingungen konfrontiert:
[13]

Er trat vor mindestens 201 bis zu 1'501 Personen auf. Diese hatten alle den gleichen Rang als Richter. Sie waren keine Juristen und kannten den Fall nicht. Eine Beweisaufnahme fand eben so wenig statt wie eine Erörterung des Falles durch das Gericht. Die Parteien mussten ihren Fall persönlich in geschlossener Rede vortragen. Eine Vertretung, etwa durch Anwälte, war prinzipiell unzulässig. Den Parteien oblag es, den Sachverhalt darzulegen, die in Frage kommenden Gesetze heranzuziehen und auszulegen, den Fall darunter zu subsumieren und bestimmte Anträge zu stellen. Es gab keine Beratung des Gerichts zum Zwecke der Urteilsfindung. Das Gericht entschied vielmehr spontan durch Abstimmung unter dem unmittelbaren Eindruck der Parteivorträge. Bei seiner Entscheidung konnte es nicht von den Anträgen der Parteien abweichen. Es hatte nur die Wahl, einem Antrag stattzugeben oder diesen zurückweisen. Eine Ausnahme hiervon galt nur für den Fall, dass eine Klage abgewiesen wurde. Dann konnte das Gericht dem Kläger zusätzlich eine Geldbuße («Epobelie») auferlegen.

[14]

Das geschilderte Verfahren trug dem Umstand Rechnung, dass ein aus zahlreichen Laien gebildetes Volksgericht weder zu einer genauen Sachverhaltserforschung noch zu juristisch differenzierten Erwägungen imstande war. Entscheidend war allein die überzeugende Rede. Hiervon hing alles ab. Die einzige Hilfe, die es für die Betroffenen gab, lag in der Möglichkeit, sich eine solche Rede von einem Experten ausarbeiten zu lassen und diese dann auswendig zu lernen. So entstand der Berufsstand der Logographen. Bekannte Rhetoren wie Isokrates (436–338), ein Schüler des Gorgias, und Lysias von Syrakus (etwa 450–etwa 380) übten diesen Beruf aus. Die Anfänge des Rechts fielen mit denen der Rhetorik zusammen.

[15]
Worin lag der «Fortschritt», so es denn einen gab? Nicht in der Öffentlichkeit, nicht in der Mündlichkeit, nicht im Laienrichtertum, und auch nicht in der Gestaltung des Verfahrens als unblutiges Duell – all das hatte es auch schon beim Palaver gegeben. Der Fortschritt lag im klaren und bestimmten Antrag, den die Parteien formulieren mussten, und an den das Gericht bei seiner Entscheidung gebunden war. War es die Redekunst, welche die Überzeugung des Gerichts von Recht und Unrecht begründete, so war es der Antrag, der die aufgrund dieser Überzeugung zu treffende Entscheidung programmierte. Der Antrag ist das rhetorische Erbe, welches das Schicksal des Rechts bis heute bestimmt hat. Er ist die zweite große Erfindung im Recht nach der des Gerichts.
[16]

Der Antrag nützt bis heute primär nicht den Parteien, sondern den Juristen. Die ersten, die das erkannten und auswerteten, waren die klassischen römischen Juristen. Sie schufen ein Aktionensystem, in dem nur bestimmte Klagen («Actiones») zugelassen waren. Der Prätor machte bei seinem Amtsantritt auf einer weißen Holztafel Album») in einem Edikt («Edictum») publik, welche Klagen vor ihm zulässig waren. Im Laufe der Zeit übernahmen seine Amtsnachfolger die Edikte früherer Prätoren («Edicta tralacitia»), bis sie im Jahre 130 n. Chr. durch Senatsbeschluss für unabänderlich erklärt wurden («Edictum perpetuum»). Wer sein Recht vor Gericht suchen wollte, musste eine dort zugelassene Klage erheben und den darin vorgesehenen Antrag stellen. Das Gericht hatte dann nur die Wahl, dem Antrag stattzugeben («absolvo») oder ihn abzulehnen («condemno»). Fand der Betroffene keine zugelassene Klage, mochte seine Sache noch so schwerwiegend und belastend sein – der Gang zum Gericht war von vornherein aussichtslos. Eine etwaige Klage war unzulässig, und das hieß, das Gericht lehnte es ab, sich überhaupt mit ihr zu befassen.

[17]
Dieses in der abendländischen Antike erfundene und perfektionierte Antragsdenken beherrscht heutzutage die gesamte westliche Rechtsordnung. Wenn die Menschen zu einem Gericht oder zu einer Behörde gehen, müssen sie klar sagen, was sie wollen. Überall gibt es ein Denken in Ansprüchen, Forderungen, Eingriffsermächtigungen, Bescheiden, Verwaltungsakten, Straftatbeständen, Urteilen – eben «Anträgen». Niemand kann mit einem Problem zu einem Gericht oder einer Behörde gehen. Immer und überall muss er Position beziehen und klar und deutlich sagen, was er fordert. Statt Fragen zu stellen, muss er Antworten parat haben und für deren Verwirklichung kämpfen. Die in der Welt am meisten verbreitete Schrift eines deutschen Rechtsgelehrten (sie stammt von Rudolf von Ihering) trägt bezeichnenderweise den Titel «Der Kampf ums Recht». Und auch in unserer Zeit wird diese Forderung immer wieder erhoben. Noch in der jüngsten Vergangenheit hat Willy Brandt die Menschen aufgefordert, um ihr Recht zu kämpfen. So ist es kein Wunder, dass wir heute in einer «Anspruchsgesellschaft» leben, in der nicht nur der einzelne, unterstützt von Anwälten und Rechtsschutzversicherern, um sein «gutes Recht» kämpft, sondern in der die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bemüht sind, von der Gemeinschaft möglichst viel zu fordern und dieser im Gegenzug möglichst wenig zu geben.
[18]

Heute lernt der junge Jurist schon im ersten Semester in der Anfängervorlesung zum Bürgerlichen Recht, dass er auf die Suche nach Anspruchsgrundlagen zu gehen hat. Das Recht, von einem anderen ein Tun oder ein Unterlassen zu verlangen, wie § 194 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) an versteckter Stelle den Anspruch definiert, ist der Dreh- und Angelpunkt des Privatrechtes. Auch das Öffentliche Recht ist vom Positionsdenken beherrscht. Ob der Staat vom Bürger etwas fordern kann, beispielsweise die Bezahlung von Steuern oder die Ableistung des Wehrdienstes, hängt davon ab, ob eine entsprechende gesetzliche Eingriffsermächtigung vorliegt, welche einen entsprechenden «Antrag» rechtfertigt. Ebenso entscheidet in der Leistungsverwaltung das Vorliegen von Anspruchsnormen über das Schicksal von Anträgen des Bürgers an den Staat, etwa auf Gewährung einer Subvention oder auf die Erteilung einer Genehmigung. Das Strafrecht schließlich orientiert sich im modernen Rechtsstaat daran, dass vor der Tat klare und bestimmte Straftatbestände formuliert werden müssen, deren Verwirklichung den staatlichen Straf-«Anspruch» gegen den Täter begründet – nulla poena sine lege. Und der Strafprozess beginnt mit einer Anklage der Staatsanwaltschaft, in der die bestimmte Behauptung erhoben wird, der Angeklagte habe sich strafbar gemacht, obwohl doch der Prozess diese Frage erst klären soll. – Kurz, das Recht ist zu einer reinen Positionsveranstaltung geworden. Wer nicht klar und bestimmt angeben kann, was er fordert, wird zu keiner juristischen Veranstaltung zugelassen. § 253 der Zivilprozessordnung drückt dies für die Klage unmissverständlich aus. Danach muss die Klageschrift einen «bestimmten Antrag» enthalten. Ginge ein Bürger zum Amtsgericht und erklärte er dort beispielsweise: «Ich habe ein Problem mit meinem Nachbarn, weil mich dieser nicht mehr grüßt», so würde er fortgeschickt werden. Seine Klage wäre unzulässig. Er dürfte erst dann wiederkommen, wenn er einen bestimmten Antrag stellen würde, etwa: «Ich beantrage, meinen Nachbarn dazu zu verurteilen, mich zu grüßen.» Diese Klage wäre zulässig. Das Amtsgericht würde sich mit ihr befassen. Es würde sich dabei freilich nicht mit dem Grußkonflikt zwischen Kläger und Beklagten befassen, sondern nach einer Anspruchsgrundlage für das Grüßen suchen. Dabei würde es nicht fündig werden und deshalb die Klage als unbegründet abweisen.

2.3.

Die technischen Grundlagen ^

[19]
Betrachtet man diese drei Erfindungen mit den Augen eines modernen Systemtheoretikers und überlegt man, welche technischen Hilfsmittel den Beteiligten damals zu Gebote standen, fällt zunächst auf, dass das Palaver eine bemerkenswerte Methode darstellte, Komplexität auf unstrukturierte Weise zu behandeln. Ein Rechtsstreit war schon in archaischen Zeiten eine komplexe Sache. Da gab es eine Vorgeschichte, da gab es Ereignisse, da gab es unterschiedliche Sichtweisen, da gab es Umstände, die vergessen, aber wichtig waren und andere, die im Vordergrund standen, aber nichts mit dem Fall zu tun hatten. Da gab es Interessen. Da gab es neben der rechtlichen eine wirtschaftliche, eine soziale, eine emotionale Ebene. Im Palaver fand das alles irgendwie und irgendwo seinen Platz und produzierte allein durch das Geschehen – dadurch, dass man im Kollektiv miteinander redete – sozialen Frieden. Wir Heutigen sollten nicht die Nase über die primitiven Stämme rümpfen. Die Talkshows im Fernsehen, die uns täglich dargeboten werden, unterscheiden sich allenfalls hinsichtlich der verbalen Beredsamkeit der Teilnehmer von den Palavern an der afrikanischen Goldküste. Sie sind unstrukturierte Veranstaltungen, die irgendwie mit irgendwelchen Themen zu tun haben, ohne Anfang, ohne Ende, ohne Ergebnis, ohne Erkenntnisgewinn – aber anscheinend gibt es dafür einen Bedarf.
[20]

In sprachlicher Hinsicht ist beim Palaver das Zusammenspiel von nonverbaler und verbaler Sprache bedeutsam. Beides wird im modernen Recht nach Jahrtausenden der Schriftlichkeit wieder unter den Überschriften «Mündlichkeitsprinzip» und «Unmittelbarkeitsprinzip» behandelt. Dabei erkennt man zunehmend die Bedeutung auch der ersteren, ursprünglichen Sprache, der Körpersprache. Die Forscher haben herausgefunden, dass mehr als fünfzig Prozent aller Informationen körpersprachlich vermittelt werden. Und zwar handelt es sich um wichtige Informationen, nämlich um solche, die etwas über die Glaubwürdigkeit, den Ernst, die Überzeugung, das Engagement, die innere Einstellung eines Sprechers aussagen. So ist es fast unmöglich, auf kurze Distanz erfolgreich zu lügen. Das Palaver basierte auf einem Mündlichkeitsprinzip, das eine Informationsvermittlung ermöglichte, wie sie in dieser Dichte nie wieder erreicht wurde. Hinzu kam ein Unmittelbarkeitsprinzip, das jede Vertretung durch Anwälte ausschloss. Für die Alten war es undenkbar, dass eine andere Person für einen Kläger oder Beklagten auftrat. Wie konnte man dann erkennen, ob er die Wahrheit für sich hatte oder nicht, wenn man ihn nicht persönlich erlebte? Für die Alten war dies keine Frage. Man konnte (und kann) es so nicht.

[21]
In sozialer Hinsicht, ist bemerkenswert, dass der Streitfall nicht nur die Sache der Parteien und eines Richters war. Er ging vielmehr den ganzen Stamm an. Die Gemeinschaft nahm aktiv Anteil am Geschehen, wobei sich feste Regeln herausbilden, von denen die heutigen Talkshows übrigens noch weit entfernt sind. Die Schuldvermutung zulasten des Beklagten klingt heute zwar ungeheuerlich, aber sie ist so ungeheuerlich nicht, bedenkt man, dass auch heute so gut wie niemand ohne handfeste Gründe in ein Gerichtsverfahren verwickelt wird. Die uns so selbstverständliche Unschuldsvermutung hindert im Übrigen auch nicht das Verfahren, sondern lediglich die Verurteilung ohne ausreichende Schuldbeweise. Und das beim Palaver praktizierte Mehrheitsprinzip wurde zur Grundlage der Demokratie. Letztlich handelte es sich um eine effektive Methode, unstrukturierte Daten zu bewältigen. Wenn heute ein Strafgericht ein Umfangsverfahren – ein sog. «Gürteltier» – mit einem «Deal» zwischen den Juristen ohne den Beteiligten im Hinterstübchen erledigt, ist das ein Rückfall hinter den in archaischen Zeiten bereits erreichten Stand.
[22]
Alles in allem kann man dem Palaver einen hohen informationellen Nutzen nicht absprechen. In unserer Zeit, in der die Stichworte Diskurs und Diskurstheorie die hohe Philosophie bewegen und die Niederungen des Fernsehens mit den erwähnten Talkshows gefüllt werden, in denen jeder zu allem etwas sagen darf was die Zuschauer seltsamerweise als spannend empfinden, erkennen wir dies zunehmend. Während aber ein Diskurs oder eine Talkshow beispielsweise über die Eurokrise folgenlos bleibt, suchten und fanden die Alten praktische Ergebnisse.
[23]

Nun zum Antrag. Dieser war das technische Mittel, das einem hoffnungslos überforderten Volksgericht die Entscheidungsfindung ermöglichte. Ein Antrag ist nichts anderes als die eindimensionale Verlängerung einer eindimensional erzählten Geschichte in eine erhoffte Zukunft. Mehrere Antragsteller stellen sich die Zukunft unterschiedlich vor. Der Entscheider braucht nur zu wählen, welche Wunschzukunft er für die beste hält. Für den römischen Prätor war dieser Gesichtspunkt der technischen Arbeitserleichterung von entscheidender Bedeutung. Die vom Prätor zugelassenen Klagen waren nicht diejenigen Klagen, die den römischen Bürgern am besten dienten, sondern diejenigen, die der Prätor kannte und beherrschte. Wurde etwa die Eigentumsklage («actio rei vindicatio») erhoben, so wusste der Prätor, was er zu tun hatte. Er musste prüfen, ob der Kläger Eigentümer der Sache war, und ob der Beklagte deren Besitzer war, dem aber kein Recht zum Besitz zustand. Waren diese Voraussetzungen erfüllt, gab er der Klage statt, andernfalls wies er sie ab. Im Unterschied zum griechischen Volksgericht folgte er dabei (jedenfalls in der römischen Spätzeit) nicht mehr primär der Überzeugungskraft der Gerichtsrede, sondern der juristischen Kommentierung zum prätorischen Edikt. Nicht anders macht es der moderne Jurist, wenn er einen Anspruch aus § 985 BGB prüft.

[24]
Die Entwicklung vom Konflikt zum Antrag verlief in der westlichen Welt keineswegs zwangsläufig auf die geschilderte Weise. In vielen Kulturen – von fernöstlichen Ländern über Indien und die islamische Welt bis hin zu Afrika — existierten und existieren traditionell andere, konsensorientierte Modelle der Konfliktbeilegung, Modelle also, bei denen keine Anträge formuliert und entsprechende Positionen eingenommen werden. Manche Staaten, die wie Japan im 19. Jahrhundert das deutsche Privatrecht übernommen haben, besinnen sich gegenwärtig zunehmend auf ihre eigenen konsensorientierten Traditionen und wenden sich vom Positionsdenken westlicher Provenienz ab. In Japan existiert neben dem außergerichtlichen Vergleich («Wakai») ein Schlichtungsverfahren («Chotei»), das beispielsweise im Familienrecht von großer Bedeutung ist. Etwa neunzig Prozent der Ehescheidungen erfolgen auf diese Weise in einem einverständlichen Verfahren («Kyogi-Rikon»).
[25]
Aus der Sicht dieser Kulturen liegt der gravierendste Nachteil einer auf den Antrag fixierten Rechtsordnung darin, dass er die Parteien dazu zwingt, ihren Konflikt als einen Streit um Positionen auszutragen. Damit verfehlen diese oftmals (natürlich nicht immer) ihre wahren Interessen. Wenn es nur darum geht, eine Geldforderung gegen einen säumigen Schuldner durchzusetzen, mag das Positionsdenken in Ordnung sein. Aber oftmals geht es nicht nur um das Geld, sondern um Interessen. Interessen sind etwas anderes als Positionen. Diese können zu jenen sogar im völligen Gegensatz Interessen stehen. Ein Beispiel aus der Versicherungspraxis mag dies verdeutlichen. Das Interesse eines verletzten Unfallopfers geht fraglos dahin, wieder gesund zu werden. Gesundheit kann er aber vom Versicherer des Schädigers nicht fordern. Er kann nur Geld fordern. Je kränker er ist, desto mehr Geld kann er fordern. Also lässt er sich von seinem Arzt Berufsunfähigkeit bescheinigen und fordert eine lebenslange Rente. Natürlich darf er jetzt keinesfalls wieder gesund werden. Rechtsposition und Interesse stehen im völligen Gegensatz zueinander.
[26]
Man kann daher füglich bezweifeln, dass die Erfindung des Antrags einem Fortschritt gegenüber dem archaischen Palaver gebracht hat. Die Anhänger der modernen Mediation verneinen denn auch diese Frage. Sie sind davon überzeugt, dass den Parteien mit der auf dem Positionsdenken beruhenden juristischen Verfahrensweise oftmals schlecht gedient wird. Sie bemühen sich um ein besseres Verfahren, welches sich an den Interessen der in einem Konflikt befangenen Parteien bemüht. Aber das ist eine andere Geschichte.

3.

Die Erfindung der Akte ^

[27]
Das Wort «Akte» stammt aus dem lateinischen «acta» (= Geschehenes, Ereignisse) und bezeichnet in dem hier interessierenden Zusammenhang die Aufzeichnungen, die bei einem Gerichtsverfahren anfallen. Historisch ist die Akte eine Folge der Erfindung der Schrift. Die Schrift ist sehr viel jüngeren Datums als die Rede. Die ältesten Schriftzeugnisse fand der südafrikanische Forscher Christopher Henshilwood in den Blombos-Höhlen unweit von Kapstadt. Es handelt sich um etwa achtzigtausend Jahre alte Objekte mit eingeritzten Linien. Was sie bedeuten, weiß man nicht.
[28]
Die Schrift wurde aus solchen Anfängen nur sehr langsam und in mühsamen kleinen Schritten entwickelt. Im fünften Jahrtausend v. Chr. entstand in Mesopotamien die erste Schrift im heutigen Sinne, die Keilschrift. Sie war eine Bilderschrift. Man kann getrost annehmen, dass die Gesetzgebung dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat. Frühe Dichtwerke wie das Gilgamesch-Epos oder – später – die Werke Homers konnten fahrende Künstler als «Gesänge» vortragen. Verträge hat man sicherlich per Handschlag besiegelt. Die Alten wussten, was wir heute auch wissen: Anständige Leute brauchen keine geschriebenen Verträge, und bei den anderen helfen sie nicht. Aber Gesetze konnte man weder vorsingen noch per Handschlag durchsetzen. Wenn der Landesfürst sicherstellen wollte, dass seine Untertanen Steuern zahlten oder Heeresdienst leisteten, musste er ihnen das buchstäblich «vorschreiben», am besten auf einer Stele aus Stein, die auf dem Marktplatz als allgemein lesbares Gebot aufgestellt wurde. Die Herrscher jener Zeit nutzten daher das neue Medium, um ihre Gesetze zu verkünden und zu verbreiten. Gesetze standen also fraglos am Beginn der Schriftentwicklung. Eine der ältesten erhaltenen Gesetzessammlung in Keilschrift ist der Codex Hammurapi, (um 1800 v. Chr.). Im Jahre 1901 fanden Archäologen die Stele, auf welche sie gemeißelt war. Sie wurde restauriert und steht heute im Louvre in Paris.
[29]
Das neue Medium führte zunächst einmal dazu, dass alle Vorteile verloren gingen, die in der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit der archaischen Verfahren gelegen hatten. Im Tausch dafür wurden nur begrenzte Vorteile gewonnen: Man konnte Rechtsfälle auf einem Medium (heute Papier) fixieren und verbreiten, konnte sie schriftlich bearbeiten, konnte sie publizieren und – was nicht unwesentlich ist – man konnte sie archivieren. Je abstrakter man dabei vorging, desto ertragreicher war diese Methode. Die am Beginn der Entwicklung stehenden Gesetze sind abstrakt und oftmals lebensfern, weshalb sie der Erläuterung bedürfen. Die Römer entwickelten dazu die Methode der Beantwortung von Rechtsfragen durch Juristen in sog. «Responsa» (lat. =Antworten). Man schilderte ihnen einen Fall, und sie gaben die Antwort. Hinzu traten Kommentare und juristische Schriften, die wir heute «Dogmatik» nennen. Im Prozess kam es so zur Erfindung der Akte, der dritten Erfindung im Recht.
[30]
Der Gemeine Prozess der frühen Neuzeit entwickelte sich zu einem reinen Aktenverfahren nach dem Grundsatz «quod non est in actis non est in mundo» (lat. = was nicht in den Akten steht, existiert nicht). Dessen Nachteile sind offensichtlich und führten im 19. Jahrhundert zu – freilich weitgehend gescheiterten – Bemühungen um eine Wiederbelebung des Mündlichkeitsgrundsatzes. Nicht mehr der Mensch, sondern das Papier trat in das Zentrum des Prozessverfahrens. Die Praxis der Aktenversendung führte dazu, dass beispielsweise im Strafverfahren über das Schicksal von Delinquenten entschieden wurde, die nie erfuhren, unter welchen gelehrten Perücken die Urteile gegen sie gefällt wurden. Aktentürme in babylonischen Dimensionen entstanden. «Akten stapeln sich auf Schreibtischen», schrieb Cornelia Vismann in ihrem Buch «Akten – Medientechnik und Recht». Sie «häufen sich in Registraturen, füllen Dachböden und Kellergewölbe. Obwohl sie registriert werden, reißt ihre Ordnung immer wieder ein. Obwohl sie kassiert, reponiert, versendet, verkauft, geschreddert oder auf andere Weise vernichtet werden, wuchern sie weiter. Ihre unaufhaltsame Proliferation – scheinbar ein Naturphänomen.» Und sie merkte an: «Eine Definition von Akten muss ausbleiben. Als Variablen im Universum der Schrift entziehen sie sich einer allgemeinen gebrauchsunabhängigen Bestimmung.» Es verhalte sich damit ebenso wie mit dem undefinierbaren Begriff «Recht».
[31]

Die Akte steht heute so selbstverständlich im Zentrum aller Justizverfahren, dass ein Anwalt sie einmal in einer Diskussion über den Computereinsatz im Recht als «das Baby des Anwalts» bezeichnet hat. Beredt schilderte er die (fraglos vorhandenen) vielfältigen technischen Möglichkeiten, in fremde Datensysteme einzudringen und erzählte, er bearbeite seine Akten ausschließlich in Rechnern, die nicht an das Internet angeschlossen seien. Diese Angst vor dem Eindringen der Technik in die Akte hat auch den Gesetzgeber erfasst. Während man Papierakten relativ sorglos behandelte und auch die ersten technischen Neuerungen des Informationszeitalters – Kopien, Telegramme, Telexe, Teletelexe, Telebriefe, Telefaxe, PC-Telefaxe – lässig akzeptierte, löste die Einführung von Internet und E-Mail in den achtziger Jahren einen Sicherheitswahn aus, der in der Einführung der qualifizierten elektronischen Signatur gipfelte. Dass Prozessakten nur in den seltensten Fällen ein lohnendes Angriffsziel für Hacker bieten, und dass ihr Schutz schon in der Vergangenheit leicht zu überwinden war – es genügte, einen bestochenen Werkstudenten in die betreffende Anwaltskanzlei einzuschleusen – sah man nicht. Noch weniger sah man das wahre Problem der E-Mail, nämlich die Überflutung durch eine E-Mail-Flut, deren Bewältigung immer mehr sinnlosen Aufwand fordert, und die schon längst eine grandiose Zeitvergeudung zur Folge hat. Der französische IT – Dienstleister Atos hat hieraus bereits die Konsequenzen gezogen und Anfang 2013 ein Programm «ZeroMail» angekündigt mit dem Ziel, die E-Mail aus dem Unternehmensalltag zu verbannen. Möge ihnen das gelingen! Wenn § 41a Abs.1 Satz 5 der Strafprozessordnung (StPO) demgegenüber im Strafverfahren anordnet, von einem elektronischen Dokument unverzüglich einen Aktenausdruck zu fertigen, sieht man, wie weit sich der Gesetzgeber von der Realität entfernt hat.

[32]
Die bisherige Entwicklung der «elektronischen Justiz» kreist durchweg um die «Akte». Da die herkömmliche Akte aus Papier besteht und alle vorhandenen rechtlichen Regelungen die Existenz einer Papierakte voraussetzen, konzentrierte man sich auf sog. Dokumenten-Management-Systeme (DMS), also Systeme, die ihrem Ursprung nach zur digitalen Erfassung und Bearbeitung von Papierakten geschaffen worden waren. Die Dokumente wurden gescannt und mit Texterkennungsverfahren (Optical Character Recognition – OCR) maschinell lesbar gemacht. Marktführer wurde hierbei das von Adobe Systems seit 1993 entwickelte «Portable Document Format – PDF». Es setzt eine lesbare Vorlage voraus und erzeugt quasi eine Fotografie, die auf Computern verschiedener Provenienz und Systemausstattung gespeichert und betrachtet werden kann.
[33]
Die «digitale Justizakte» wurde so zu einem fotografierten Abbild der Papierakte. Selbst Dokumente, die ihrerseits mit einem Textverarbeitungssystem, z.B. Microsoft Word, erzeugt worden waren, wurden in PDF-Dokumente umgewandelt. E-Mails mussten ausgedruckt werden, um als PDF-Dokumente gespeichert werden zu können. Entsprechendes galt für Internetseiten. Audiodateien, die z.B. bei Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen entstanden waren, mussten abgeschrieben und in PDF-Dateien umgewandelt werden. Videodateien, die etwa von Überwachungskameras aufgenommen wurden und als Beweismittel in Frage kamen, fanden keinen Platz in der «digitalen Akte» und waren damit nicht existent – quod non est in actis...
[34]
Für den Zugriff auf die «digitale Justizakte» standen zwei Wege offen. Zum einen dienten hierfür die sog. Metadaten, also Daten, welche formale Informationen über die Dokumente enthalten wie z.B. Aktenzeichen, Absender, Empfänger, Datum, Betreff usw. Es wurden eigene Programme zur automatisierten Erkennung solcher Metadaten entwickelt. Zum anderen setzte man die Volltextsuche ein und suchte nach Schlagwörtern und Begriffsverknüpfungen (sog. Deskriptoren). Beide Wege führen freilich oftmals nicht zum Ziel. Die Metadaten besagen nur wenig oder nichts über den Inhalt der Dokumente, und die Deskriptorensuche hilft nur dann, wenn man die richtigen Schlagwörter kennt und eingrenzt. Zwar kann man hier sog. «Fuzzy»-Techniken (von engl. «fuzzy» = unscharf) einsetzen, die Schreibfehler korrigieren können, aber wirklich verlässlich und vor allem schnell genug sind diese Methoden nicht. Wenn man einem Zeugen vor Gericht ein Dokument vorhalten will, muss es aber in Sekunden gefunden werden, jedes «Später» ist hier ein «Zu-Spät». Das aber gewährleisten diese Techniken nicht.
[35]
Die entscheidenden Probleme des Anwenders blieben bei alledem ungelöst. Er sucht das Brot der Informationen und bekommt die Steine der Akte in Gestalt von Metadaten und OCR. Er muss Komplexität bewältigen und wird mit eindimensionalen Dokumenten bedient. Er steht unter Zeitdruck, aber die Geschwindigkeit der Computertechnik wird nicht zu seinem Vorteil genutzt. Alle diese – und weiteren – Probleme resultieren daraus, dass man sich am Papiermedium der «Akte» orientiert. Gibt es eine Alternative? Es gibt sie.

4.

Der richtige Ausgangspunkt: Die Information ^

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Die Lösung dieser Probleme liegt darin, sich von der «Akte» zu verabschieden und sich der «Information» zuzuwenden. Der Jurist benötigt keine Akte, sondern Informationen – und zwar bei jedem Arbeitsschritt. Er übt den einzigen Beruf aus, der es ausschließlich mit Informationen zu tun hat. Andere Leute produzieren Schrauben, behandeln Kranke, organisieren Betriebe. Der Jurist hat es demgegenüber nicht mit Dingen zu tun, die man greifen kann. Er nimmt lediglich Informationen auf, bearbeitet sie und produziert neue Informationen. Angesichts dieses elementaren Befundes mag man kaum glauben, dass die Rechtsinformatik als die angewandte Informatikdisziplin, die sich mit dieser Thematik befasst, in Deutschland nach hoffnungsvollen Ansätzen ausgestorben ist. An ihre Stelle trat das «Informationsrecht», welcher Ausdruck, wie so viele juristische Ausdrücke, schief ist. Gemeint ist das IT-Recht. Aber ich will hier keine rechtspolitische Schelte üben.
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Der Begriff «Information» (aus lat. «informare» = in Gestalt bringen) ist undefinierbar, aber das trifft auf die Begriffe «Recht» und «Akte» auch zu und braucht uns nicht weiter zu beunruhigen, wissen wir doch alle was gemeint ist. Der Zivilrechtler will nach einer bekannten Repetitorformel wissen, wer von wem was woraus verlangen kann. Und der Strafrechtler will herausfinden, wer wann wo was warum und wie getan hat. Diese Formeln verraten mehr als man meint. Es geht in der Wirklichkeit der rechtlichen Auseinandersetzungen in erster Linie um die Aufklärung von Sachverhalten. Kennt man den Sachverhalt, ist die rechtliche Bewertung meistens trivial. Nur selten kommen rechtlich problematische Fälle vor. Aber weder das juristische Studium noch das rechtliche Publikationswesen werden diesem Befund gerecht. Die Herstellung des Sachverhalts wird im Studium überhaupt nicht geübt. Das kommt erst im Referendariat, wenn im Zivilprozess die sog. Relationstechnik eingeübt wird und im Strafrecht Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen ausgewertet werden. Und über die Masse der normalen Verträge oder der normalen Straftaten publiziert man nichts. Wenn A den T zum Mord an O anstiftet, ist das kein Fall für die NJW. Wenn aber T den falschen F anstelle von O umbringt (Fall Rose-Rosahl) ist das eine Sensation, über die man eine schriftliche Diskussion lostritt. Dabei wissen wir aufgrund dieses Beispiels, dass solche Problemfälle allenfalls einmal in hundert Jahren vorkommen. Wollte man einem Alien das Wesen der Sachbeschädigung anhand der veröffentlichten Fallentscheidungen und Literatur nahebringen, müsste man Dinge wie das Luftablassen aus Autoreifen oder das Dressieren des Papageis einer würdigen alten Dame zum Sprechen unzüchtiger Wörter nennen. Der Alien würde uns für verrückt halten.

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Damit ist schon das erste IT-Desiderat genannt. Die moderne Informationstechnik (IT) soll und kann vor allem auch helfen, Sachverhalte zu durchdringen. An dieser Stelle kommt ein philosophisches Problem ins Spiel. Gibt es die objektive Wirklichkeit und kann sie «für Recht erkannt» werden (so die traditionelle Auffassung) oder wird sie in den Köpfen der Juristen «konstruiert»? Der philosophische Konstruktivismus nimmt mit guten Gründen das letztere an. Aber wie auch immer – stets muss der Jurist aus einer Vielzahl von Quellen schöpfen und dabei Komplexität bewältigen. Komplexität setzt vieldimensionales Arbeiten voraus; Rede, Schreibe und Papier sind aber eindimensional. Der IT-Einsatz kann diese Grenze überwinden.
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Das nächste Desiderat betrifft die mitunter großen Informationsmengen im Recht. In den Anfangsjahren der (später abgeschafften) Rechtsinformatik diskutierte man über die Flut an Gesetzen und Gerichtsentscheidungen, die niemand mehr bewältigen könne. Die wahren Probleme liegen aber an anderer Stelle. Sie betreffen die Sachverhalte. Wenn in Umfangsverfahren große Mengen an Unterlagen zu bewältigen sind, wird das rasch zum Problem. Am sichtbarsten wird das im Strafverfahren, wenn Wagenladungen voller Aktenordner und Festplatten beschlagnahmt wurden, die auszuwerten sind. Dabei steckt die «Wahrheit» meistens in den E-Mails, in denen sich die Menschen so ungeniert ausdrücken, als sprächen sie miteinander ohne fremde Zuhörer. Dass dabei der US-Geheimdienst stets mitliest, und dass die Polizei später eine interessante Lektüre findet, bedenken sie nicht – vorausgesetzt natürlich, die Polizei findet die relevanten E-Mails. Bei hunderttausend und mehr Emails, die ein Datenvolumen von mehreren Terabyte (= 1.099.511.627.776 Byte) erreichen, ist das manuell aber ein Ding der Unmöglichkeit. Inzwischen gibt es Softwaren, die es ermöglichen, unstrukturierte Daten in verschiedenen Formaten zu durchforsten und relevante Emails herauszufiltern. Man muss sie nur einsetzen. Hätte der deutsche Gesetzgeber dies erkannt gehabt, wäre es nicht nötig gewesen, den unsäglichen «Deal» im Strafprozess zu sanktionieren.
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Aber auch bei kleineren Fällen kann IT-technische Unterstützung geboten werden. Komplexität fängt schon früh an. Ein einfacher Rechtsfall, bestehend aus Klage, Klageerwiderung, Replik, Duplik, jeweils mit einigen Anlagen und Beweisprotokollen, wird rasch unübersichtlich. Auch hier kann die Informationstechnik helfen. So ist es möglich, Schriftstücke im Computer nach verschiedenen Kriterien zu filtern und mit Anmerkungen zu versehen. Die stattdessen verbreiteten Klebezettel gehören in das Museum, Abteilung «Hat noch nie geholfen».
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Auch der juristische «Workflow» (Arbeitsablauf) kann verbessert werden. Eine McKinsey Untersuchung, bei der geprüft wurde, wie oft eine Akte bewegt wird, ehe etwas Inhaltliches mit ihr geschieht, hat schon in den achtziger Jahren ergeben, dass das deutsche Amtsgericht damals die am schlechtesten funktionierende Organisation im Lande war. Ob sich hier etwas geändert hat, wage ich zu bezweifeln. Was für das Amtsgericht gilt, gilt für die gesamte Organisation der Justiz. Überall werden Papierberge bewegt, gestapelt, verwaltet. Und überall existieren Mauern, die schwer zu überwinden sind und unnötige Mehrfacharbeit verursachen. Ein Beispiel bietet die Mauer zwischen der Polizei (als Ermittlungsbehörde) und der Staatsanwaltschaft. Es ist heute schon möglich, bei der Polizei strukturierte Fallbearbeitungen zu bilden, die in digitaler Form an die Staatsanwaltschaft gehen und von da an die Gerichte. Stattdessen werden Ermittlungsberichte in Papierform samt Beweismittelakten weitergereicht und Asservate als fremdes Eigentum nur durch Klebezettel kenntlich gemacht werden dürfen – siehe dazu oben.
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Die heute schon mögliche strukturierte Text- und Dateiverarbeitung im Computer bietet Möglichkeiten, die weit über das traditionell Mögliche hinausreichen. So ist es möglich, Dokumente per Beamer im Gerichtssaal an die Wand zu werfen und einem Beschuldigten oder Zeugen vorzuhalten. Dazu müssen die Dokumente in Sekundenschnelle gefunden werden, was beim Arbeiten mit Papier so gut wie unmöglich ist. Textbausteine (Templates) gibt es schon seit langem, aber die Möglichkeit, individuelle Vorlagen zu gestalten und dabei Zitate aus gespeicherten Dateien per Mausklick einfügen zu könne, ist neu und problemlos möglich. Ganze Texte, z.B. Urteile, können in einem sog. Relationsmodul im Baukastensystem erstellt und zum Schluss ausgedruckt werden. Neu ist auch die Möglichkeit, Audiodateien gezielt zu markieren, so dass z.B. Vernehmungsprotokolle zu bestimmten Theman gezielt angesteuert werden können. Das Abschreiben entfällt dann. Die Datei kann ja im Gerichtssaal vorgespielt werden. Entsprechendes gilt auch für Videoaufzeichnungen, wie sie etwa in Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen gefertigt werden. Auch hier ist es möglich, bestimmte Stellen, die etwa einen Überfall zeigen, gezielt anzusteuern und im Gerichtssaal per Beamer vorzuführen.

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Sodann sind die juristischen Datenbanken zu nennen. In ihnen werden Dokumente über die schon erwähnten Deskriptoren gesucht, was vom Benutzer verlangt, zu wissen, was er nicht weiß. Er muss ja Kenntnis der relevanten Begriffe haben, die sein Problem beschreiben, woran es aber oftmals fehlt. Fragt er nach allgemeinen Begriffen, kommen zu viele Fundstellen. Sucht er spezielle Begriffe, schießt er leicht daneben. Findet er tatsächlich relevante Dokumente, wird er über Hyperlinks auf Reisen zu anderen Dokumenten geschickt, die ganz anders gelagerte Fälle behandeln; spätestens nach dem dritten Hyperlink weiß er nicht mehr, ob er Männlein oder Weiblein ist. Hinzu kommt, dass die Datenbanken große Mengen an Dokumenten enthalten, die praktisch nie benötigt werden, also Informationsmüll sind. Die IT könnte es demgegenüber ermöglichen, Suchanfragen der Anwender auszuwerten und positive wie negative Ergebnisse der Community zur Verfügung zu stellen. Damit würde der Weizen der wichtigen Dokumente von der Spreu des Mülls geschieden und würde zugleich Doppelarbeit vermieden. So wurde in Deutschland ein Jahrzehnt lang über die Frage diskutiert, ob Vertragsärzte im System der Gesetzlichen Krankenversicherung Beauftragte i.S.d. Tatbestandes der Beauftragtenbestechung, § 299 StGB, oder gar Amtsträger i.S.d. Bestechungsdelikte sind. Da die Pharmaindustrie mit milden Gaben an die Ärzte nicht geizt, gab es tausende Ärzte, gegen die Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Entsprechend groß war die Zahl der Verteidiger und Staatsanwälte, die alle dasselbe Thema bei juris & Co immer wieder neu recherchierten. Welche Ressourcenverschwendung.
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Damit bin ich beim Wissensmanagement. In der Industrie ist dies ein großes Thema. Beim Berufsstand der Juristen, der es nur mit Wissen zu tun hat, ist dieses Thema dagegen noch nicht angekommen. Dabei besitzen wir mit den Gesetzen und der in allen Kommentaren ausgefeilten Dogmatik einen Schlüssel zu Informationen, wie ihn kein anderer Berufsstand hat. Ein prominenter Strafverteidiger, der sich auf Revisionen spezialisiert hatte, sagte mir einmal, er müsse das Rad immer wieder neu erfinden, da er seine eigenen Ausarbeitungen nicht mehr finde. Einziges Suchkriterium sei der Name des Verurteilten, und an diesen erinnere er sich nicht, habe er ihn doch nie zu Gesicht bekommen. Ein individuelles wie kollektives Wissensmanagement kann Abhilfe schaffen. Es kann im Recht – anders als bei einem Automobilhersteller – problemlos installiert werden.
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Weiter ist das häusliche Arbeiten und das Arbeiten auf Reisen zu nennen. Wie die umfangreiche steuerliche Rechtsprechung zum häuslichen Arbeitszimmer belegt, arbeiten Richter und Anwälte gerne in ihrer Wohnung. Die Mitnahme umfangreicher Akten ist dabei ein Problem. Digital gespeicherte Akten können demgegenüber problemlos auf einem Laptop oder einem Stick transportiert werden. Auch ist über Remote Desktop der Zugriff auf einen Server im Gericht möglich. Die Synchronisation, d.h. das Einspielen der häuslich überarbeiteten Projekt in die im Büro gespeicherten Projekte, ist technisch längst problemlos möglich.
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Sodann ist das Arbeiten im Team zu nennen. Größere Fälle werden häufig von mehreren Richtern einer Kammer oder eines Senates oder von mehreren Anwälten bearbeitet. Auch hier ist die Synchronisation der verschiedenen Arbeitsergebnisse technisch problemlos möglich. Dabei ist auch ein Austausch zwischen verschiedenen Anwendern über Hyperlinks möglich, die per E-Mail versandt werden. Das kann sogar dann sinnvoll sein, wenn der Kollege im Nebenzimmer sitzt.
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Seit Jahrtausenden werden kontradiktorische Verfahren, insbesondere Zivilprozesse, in der westlichen Welt als Positionsveranstaltungen geführt. Das muss nicht so sein, und ist, wie ich schon gesagt habe, auch nicht in allen Rechtskulturen so. Es ist technisch möglich, einen Prozess als «One-Text-Approach» zu gestalten, bei dem die Anwälte an einem gemeinsamen Text arbeiten, in welchem sie aufzeigen, wo sie (ausnahmsweise) einer Meinung sind und wo und wie das (regelmäßig) nicht der Fall ist. Sogar Beweisaufnahmen könnten dabei in die Hände der Anwälte gelegt werden. Im Schiedsverfahren geschieht das sogar mitunter. Das Gericht würde insoweit die Rolle eines Schiedsrichters übernehmen, der auf die Einhaltung der Regeln achtet. Der gesamte Urteilstatbestand könnte so entstehen. Dies entspräche der Parteiautonomie und würde die Gerichte entlasten. Diese könnten sich auf ihre eigentliche Aufgabe der rechtlichen Bewertung und Entscheidung des Falles konzentrieren.
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Das Internet könnte ungeachtet allen Gejammeres über dessen Gefahren wesentliche Fortschritte bringen. Hier ist zunächst die Akteneinsicht im Strafverfahren zu nennen, wobei unterschiedliche Berechtigungen möglich und notwendig sind. Man könnte aber noch einen Schritt weiter gehen und ein Internet-Gericht einführen. Die Anwälte könnten sich u.U. weite Reisen und Wartezeiten ersparen. Die relevanten Dokumente könnten beim Gericht geführt und dort in Sekundenschnelle geöffnet werden. Die Öffentlichkeit könnte in weit größerem Umfang hergestellt werden als das gegenwärtig möglich ist. Auch hier wären unterschiedliche Berechtigungen notwendig und möglich. Technisch kann das alles schon heute problemlos realisiert werden.
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Das juristische Publikationswesen könnte grundlegend umgestaltet werden. Das E-Book mag für Romane taugen. Für juristische Veröffentlichungen ist es ungeeignet. Daran ändern auch die Hyperlinks nichts, die auch hier eher ein Problem als eine Lösung sind – siehe oben. Besser ist eine Strukturierung von veröffentlichten Entscheidungen und Abhandlungen mit Hilfe der Gesetze. Diese sind durchweg hierarchisch gegliedert und bieten sich für das schon erwähnte Wissensmanagement an, wie es in keinem anderen Beruf geschaffen werden kann. Das Ärgernis, dass juristische Kommentare alle Jahre neu gekauft werden müssen, also zu 100 Prozent immer wieder bezahlt werden müssen, obwohl sie nur wenige Prozente neue Informationen enthalten, könnte beendet werden. Der Kommentar entstand im 12. Jahrhundert in Bologna, und in das dortige Museum sollten wir ihn auch wieder schicken.
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Lernende Systeme könnten schließlich in den Bereichen eingesetzt werden, die so vage und unbestimmt sind, dass sie auf keine traditionelle Weise wirklich beherrscht werden können. Ein Beispiel bietet das Tatbestandsmerkmal der «angemessenen» Wartezeit im Straftatbestand des Unerlaubten Entfernens vom Unfallort, § 142 StGB. Niemand, auch kein Anwalt, nicht einmal gegen Honorar, könnte im konkreten Fall sagen, wie lange ein Unfallbeteiligter warten muss. Dabei gibt es eine Reihe von immer wiederkehrenden skalierbaren Kriterien wie Schadenart, Schadenhöhe, Verkehrslage, Witterung, Wahrscheinlichkeit, dass mit dem Erscheinen feststellungsbereiter Personen zu rechnen ist u.a.m., die immer wieder in Teilen und in stets wechselnden Ausprägungen vorkommen. Es ist technisch möglich, diese Kriterien zu erfassen, mehrdimensionale Entscheidungsräume zu bilden und Systemregeln zu formulieren, die es erlauben, einen neuen Fall in das System einzustellen und zu entscheiden, wobei diese Entscheidung ihrerseits wieder in das System eingehen und dieses verändern würde. Der Grundsatz «iudex non calculat» steht dem nicht entgegen, da ja nicht der Richter, sondern der Computer «rechnen» soll. Im Kopf (manche sagen auch: im Bauch) sprechen wir in diesem Zusammenhang vom Rechtsgefühl. Dieses arbeitet vermutlich ganz ähnlich. Auch die Strafzumessung könnte auf diese Weise rational erfasst werden. Ich habe als Strafverteidiger etliche Besuche in JVA´s gemacht und immer wieder festgestellt, dass die Insassen ihr Strafmaß mit dem anderer Verurteilter verglichen haben, denen gegenüber sie viel schlechter weggekommen seien. Wir Juristen sprechen in diesem Zusammenhang vom Gleichheitssatz.
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In den politischen Bereich weist ferner die Möglichkeit, Volksbefragungen und Bürgerbegehren strukturiert und differenziert durchzuführen. Die gegenwärtige Methode, zu fragen, ob die Bürger für oder gegen einen Bahnhofsneubau sind (wobei sinnigerweise der, der dagegen ist, mit Ja stimmen muss) ist gewiss nicht der technisch mögliche letzte Schrei.
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Last but not least ist hier die juristische Ausbildung zu nennen. Der junge Jurist muss in erster Linie Fertigkeiten erwerben. Erst in zweiter Linie braucht er Wissen. Zum Einüben von juristischen Verhaltensfertigkeiten taugen die bislang praktizierten Methoden aber wenig oder gar nicht. Sie gleichen dem Bemühen, das Klavier spielen per Vorlesung oder Lehrbuch zu lehren. Die Vorlesung entstand im Mittelalter, als es noch keine gedruckten Bücher gab und jeder, der ein Buch haben wollte, es durch Mitschreiben einer Vorlesung selbst produzieren musste. Seit Gutenberg ist das überholt. Und die Übungen verdienen diesen Namen nicht, weil darin Fälle bearbeitet werden, ohne dass die Studenten wissen, wie sie das tun sollen. Die Korrektoren sind auf «Probleme» fixiert und am Ende steht eine Fallbesprechung, in denen ein Gelehrter den Studenten sagt, was sie hätten produzieren sollen, wozu es aber leider nicht gekommen ist, weil ihnen das «Wie» fehlt. Von «Üben» kann hier keine Rede sein. Technisch ist heute schon ein juristisches Coaching möglich, bei dem die Studenten anhand von Fällen die Fertigkeit trainieren, Strukturen zu bilden und anzuwenden. Auch können sie über das Internet detaillierte Musterlösungen abrufen, in denen mehr steht als die bekannte Wellenlinie am Rand der Klausur mit dem Hinweis «Vgl. Bespr.», und in denen sie gezielt über Hyperlinks Informationen zu allen relevanten Punkten ihrer Arbeit erhalten. All dies könnte zu einer Verkürzung des Jurastudiums führen, das mit vier Jahren (und oftmals mehr) ohnehin schon viel zu lange dauert. In den USA sind drei Jahre üblich, und auch das ist noch viel zu lang. Kein Geringerer als US-Präsident Barack Obama, der einst Jura in Harvard studiert hatte, hat im August 2013 eine Verkürzung auf zwei Jahre gefordert. Das ist nach meinen Erfahrungen mehr als ausreichend. Allerdings darf der Student dann seine Zeit nicht damit vergeuden, Rechtsprobleme á la Rose-Rosahl zu «lernen» und Karteikarten zu beschriften (Vorderseite «Sache», Rückseite «Körperlicher Gegenstand», sondern er muss sich darauf konzentrieren, Fertigkeiten zu erwerben.

5.

Schlussbemerkung ^

[53]
All dies ist möglich und noch mehr. Mit der Akte hat das alles nichts mehr zu tun. Es geht um Informationen. Wir leben in einer Zeitenwende, die durch den Computer bestimmt wird. Nutzen wir sie, damit wir nicht eines Tages sagen müssen: «Die Computerrevolution ist vorbei – sie haben gewonnen.»

 

Prof. Dr. Fritjof Haft war Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsinformatik und Strafrecht an der Universität Tübingen und ist Geschäftsführer der von ihm gegründeten Normfall GmbH in München (www.normfall.de).