Jusletter IT

IT-Unterstützung in kontradiktorischen Gerichtsverfahren – das Projekt «Gaius»

  • Author: Fritjof Haft
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Informatics
  • Citation: Fritjof Haft, IT-Unterstützung in kontradiktorischen Gerichtsverfahren – das Projekt «Gaius», in: Jusletter IT 15 May 2013
In the «Gaius» project an interdisciplinary team explores ways in which adversarial proceedings (including civil litigation and administrative proceedings) can be carried out more efficiently and with higher quality using IT support.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Projektidee
  • 2. Die technische Umsetzung von Gaius
  • 3. Der Stand des Projektes

1.

Die Projektidee ^

[1]
Die Herstellung des Sachverhaltes ist in der Praxis die wichtigste und schwierigste Aufgabe der Gerichte, oftmals weit schwieriger als die Bewältigung der Rechtsfragen. Die juristische Ausbildung trägt diesem Befund nur unzureichend Rechnung. Im Studium dominieren teilweise abstruse Rechtsprobleme, die in der Praxis nur selten relevant werden; die Arbeit am Sachverhalt wird dagegen völlig ausgeblendet; in Klausuren und Hausarbeiten werden fertige Sachverhalte ausgegeben, die es aber in der Realität niemals gibt. Im Referendariat kommt dann erstmals die sog. Relationstechnik; diese stößt aber aus technischen Gründen auf Grenzen; sie kann daher nur unzureichend vermittelt werden. In der Praxis muss die Arbeit am Sachverhalt dann bewältigt werden; die Richter müssen einen erheblichen Teil ihrer Arbeitskraft und -zeit auf eine Tätigkeit verwenden, die eigentlich den Anwälten obliegt; die Anwälte leisten in diesem Bereich aber nur eine unzureichende Unterstützung; die Technik stößt im Papierzeitalter hier auf Grenzen. Erst der IT-Einsatz ermöglicht qualitative Verbesserungen.
[2]
Dieser Einsatz findet schon seit geraumer Zeit in den USA statt, wo die Juristen – anders als in Deutschland – nicht auf die Hermeneutik des 19. Jahrhunderts fixiert und dementsprechend nicht technikfeindlich sind. Dazu setzt man vor allem IT-gestützte Tabellenprogramme wie CaseMap und Concordance ein. Sie ermöglichen es, Stichworte manuell in Zellen einzutragen und dann nach verschiedenen Kriterien zu sortieren. Dadurch werden vor allem die Materialschlachten unterstützt, die bei den sog. Pre-trials geschlagen werden. Ein Pre-trial conference ist laut Blacks Law Dictionary eine «procedural device used prior to trial to narrow issues to be tried, to secure stipulations as to matters and evidence to be heard, and to take all other steps necessary to aid in the disposition of the case.» Hier müssen die Anwälte große Datenbestände durchforsten. In den kontinentaleuropäischen Ländern, die in der Rechtstradition des Römischen Rechts stehen, werden derartige Programme kaum verwendet. Hier hilft man sich allenfalls mit Tabellen, wie sie in Word oder Excel erstellt werden können, und vertraut im Übrigen auf die Volltextsuche. Der Aufwand ist in jedem Fall groß, der Nutzen begrenzt. Ansätze, durch Methoden der Artificial Intelligence (AI) Textpartien automatisiert erkennen und als «Konzepte» einander zuordnen zu können, stecken noch in den Anfängen.
[3]
Dem Projekt Gaius liegt angesichts dieser Schwierigkeiten ein anderer Ansatz zugrunde.
[4]

In einem ersten Schritt wird erprobt, ob und inwieweit es sinnvoll und möglich ist, die Erstellung des Sachverhalts – vielleicht sogar einschließlich der Beweiserhebung – teilweise oder ganz in die Hände der Rechtsanwälte (und Rechtsabteilungen von Unternehmen) zu legen. Die Arbeit am Sachverhalt, die, wie schon gesagt, meistens der schwierigere Teil eines Rechtsstreits ist, obliegt im Zivilprozess nach dem Beibringungsgrundsatz den Betroffenen. Dieser das Verfahrensrecht tragende Grundsatz ist bislang weitgehend Theorie geblieben. Der Grund dafür liegt darin, dass es den Anwälten nicht darum geht, dem Gericht Arbeit abzunehmen. Vielmehr wollen sie ihre Positionen möglichst überzeugend darstellen und das Gericht – und vor allem auch die eigenen Mandanten – beeindrucken. Zu diesem Zweck verfassen sie Streitschriften, in denen sie ihre Positionen darlegen und die Darstellung der Gegenseite grundsätzlich in Frage stellen und bestreiten. Dem Gericht überlassen sie es dann, herauszufinden, was überhaupt relevant ist (Schlüssigkeits- und Erheblichkeitsprüfung), was bestritten ist, was bewiesen werden muss, wie und von wem, und wie am Ende der Sachverhalt (Urteilstatbestand) formuliert wird. Methodisch ist man damit nicht grundsätzlich über den Zustand hinaus gekommen, der in der Antike auf dem römischen Forum herrschte. Rhetorisch und sprachlich hat man sich freilich weit davon entfernt. Dass es nach § 128 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) einen Mündlichkeitsgrundsatz gibt, dass dessen Einführung im Jahre 1877 nach Jahrhunderten der im Gemeinen Recht herrschenden Schriftlichkeit eine rechtspolitische Großtat war, dass es nicht nur im Strafprozess, sondern auch im Zivilprozess verpflichtend ein Plädoyer gibt, geregelt in § 137 Abs. 2 ZPO Die Vorträge der Parteien sind in freier Rede zu halten; sie haben das Streitverhältnis in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung zu umfassen.») – all dies ist heute weitgehend vergessen. Die Schriftlichkeit herrscht heutzutage mehr denn je.

[5]
Die Methode, mit der man dies ändern kann, entstammt der Verhandlungs- und Mediationsforschung und wird dort als «One-Text-Approach» («One-Write-Approach») bezeichnet. Paula Young, Professorin an der Appalachian School of Law in Virginia, hat in der Zeitschrift St. Lewis Lawyer (Feb. 2001) beschrieben, wie US-Präsident Clinton in den letzten Tagen seiner Administration diese Methode einsetzte, um den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern voranzubringen. «Clinton has used a negotiating approach called the ´one-text process`. It sharply contrasts with the ´concession-hunting` process typically used in negotiations between highly polarized parties... The ´one-text process` makes the mediators proposal more difficult to criticize and more difficult to reject. It designs a new – and easier – series of choices for the parties. The one-text process allows each party to suggest further refinements based on lingering interests and concerns. When the mediator cannot improve the draft further, he presents it as a final draft for approval. The parties know exactly where they are and they can compare the draft to their WATNAs (worst alternative to a negotiated agreement).»
[6]
Im Projekt Gaius (benannt nach dem römischen Juristen Gaius, um 150 n. Chr., dem Autor der Institutionen) tritt in einem ersten Schritt an die Stelle von unterschiedlich, mitunter überhaupt nicht strukturierten gegensätzlichen Schriftsätzen an die Gerichte die gemeinsame Arbeit an einem einzigen Text mit dem Ziel, herauszufinden, ob und inwieweit man sich in tatsächlicher Hinsicht einig ist (Unstreitiges) oder nicht einig ist (Streitiges), und wie man dies jeweils darstellt. Die Anwälte bearbeiten dazu den Sachverhalt gemeinsam auf der Basis der Struktur, welche die Klageschrift vorgibt. Bedenkt man, dass die Anwälte nicht nur Parteivertreter, sondern auch Organe der Rechtspflege sind, erscheint ein solcher Ansatz nicht von vornherein illusionär und weltfremd.
[7]
In einem zweiten Schritt kann dann die Beweiserhebung ganz oder teilweise in die Hände der Anwälte gelegt werden. Auch dies erscheint nicht von vornherein illusionär. Im Schiedsverfahren, das in der Zivilprozessordnung geregelt ist, und das dem ordentlichen Gerichtsverfahren gleichgestellt ist, ist die «Vereinbarung der Parteien» über die Verfahrensregeln, also auch über die Beweiserhebung durch die Parteien, ausdrücklich zugelassen (§ 1042 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
[8]
Beide Schritte stärken die Parteiherrschaft, den wichtigsten Grundsatz der Zivilprozessordnung. Sie entlasten die Richter und übertragen der Anwaltschaft neue Aufgaben, was natürlich auch honorarmäßig zu berücksichtigen sein wird. Soweit die Anwälte auf Stundenbasis abrechnen, tritt dieser Effekt von selbst ein. Im Übrigen ist eine Änderung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes ohne weiteres möglich.
[9]
Der Richter bleibt dabei nicht untätig. Es moderiert diesen Vorgang und stellt die Arbeitsergebnisse den Parteien und deren Mandanten in einem geschützten Bereich im Internet zur Verfügung. Er greift ein, wenn es irgendwo «hakt» und übt im Übrigen in diesem Verfahrensstadium die Rolle eines Schiedsrichters aus. Dies ist nötig, wenn es zu Verfahrensstreitigkeiten oder Auseinandersetzungen, etwa über Formulierungen oder über die Beweislast, kommt. Davon abgesehen konzentriert sich der Richter auf seine eigentliche Aufgabe der rechtlichen Bewertung und Entscheidung des Falles, so, wie ihn die Parteien dem Gericht präsentieren.
[10]
Ein Gesetzgebungsvorschlag könnte problemlos zu einer entsprechenden Öffnungsklausel der ZPO (und damit auch der anderen Verfahrensordnungen) führen. Der Gewinn für die Parteien könnte auch in einer Beschleunigung der Verfahren liegen.

2.

Die technische Umsetzung von Gaius ^

[11]
Der «One-Text-Approach» setzt neue IT-gestützte Methoden der Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien und den Gerichten voraus. Dazu bedarf es einer Modellierung, also einer minutiösen Beschreibung sowohl des Kommunikationsgeschehens als auch der jeweils benötigten Informationen. Auf dieser Grundlage erfolgt dann die dargestellte IT-basierte Unterstützung der juristischen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse.
[12]
Die meisten juristischen Schriftstücke werden derzeit mit dem Textverarbeitungssystem Word erstellt. Dieses Programm bietet eine Reihe von Möglichkeiten, um im Team an Texten zu arbeiten und Änderungen verfolgen und akzeptieren, modifizieren oder verwerfen zu können. Für den genannten Zweck reichen diese jedoch nicht aus. Es geht nicht vorrangig darum, die Formulierungen eines Textes zu bearbeiten, sondern darum, die einzelnen Elemente des Sachverhalts herauszuarbeiten, zu erfassen, darzustellen, einander gegenüber zu stellen und zu diskutieren. Dazu bedarf es einer Strukturierung, wie sie in einem Textverarbeitungssystem nur unzureichend geleistet werden kann.
[13]
Im Projekt Gaius wird für diese Aufgabe als Software der Normfall Manager eingesetzt (www.normfall.de). Dieser wird seit vielen Jahren erfolgreich in Justiz und Anwaltschaft eingesetzt. Er ermöglicht eine «Durchdringung» («Strukturierung») juristischer Texte sowohl bezüglich des Sachverhaltes als auch bezüglich der Rechtsfragen. Von besonderer Bedeutung für das Projekt Gaius ist dabei das Relationsmodul dieser Software. Dieses erlaubt es, unterschiedliche Sachverhaltsdarstellungen einander in den jeweiligen Originalformulierungen gegenüberzustellen. Als verbindendes Tertium comparationis dienen dabei Strukturpunkte, die den jeweiligen Sachverhaltskomplex kennzeichnen. Durch diese Technik wird es möglich, die Struktur eines Rechtsfalles im Dialog der Parteien zu thematisieren, zu verändern, zu ergänzen, Streitiges deutlich zu machen und da, wo in der Sache Einigkeit herrscht, unterschiedliche Formulierungen einander gegenüber zu stellen. Die objektive Wirklichkeit gibt es ja nicht. Es gibt nur die sprachliche Konstruktion von Wirklichkeit, und hier wird man oftmals unterschiedliche Konstruktionen nebeneinander zu stellen haben. Das der klassischen Urteilsmethode zugrundeliegende Weltbild des «Tatbestandes», den das Gericht «erkennt», ist durch die moderne Wissenschaftstheorie längst widerlegt worden. Der Tatbestand fügt den beiden vorhandenen Konstruktionen vielmehr eine dritte hinzu, nämlich die Konstruktion des Richters.
[14]
Die einzelnen Schritte dieses «Prozesses» (das Wort in seinem ursprünglichen Sinne genommen) könnten durch den Einsatz der heutigen Informationstechnologie ebenfalls effizienter und qualitativ besser gestaltet werden. Ergänzend zu den (oder vielleicht sogar an die Stelle der) herkömmlichen mündlichen Verhandlungen bei Gericht können Telefonkonferenzen treten, bei denen die Akten in einem geschützten Bereich des Internet eingesehen und diskutiert werden können. Der Normfall Manager ermöglicht es dabei, relevante Informationen selbst in Umfangsverfahren (den sog. «Gürteltieren») mit hunderten oder tausenden Büroordnern in Sekundenschnelle zu finden und einzusehen – Leistungen, die in einer mündlichen Verhandlung auf Papierbasis nur unvollkommen oder gar nicht erbracht werden können.
[15]
Aber nicht nur bei umfangreichen Rechtsstreitigkeiten, etwa bei umfangreichen Verwaltungsrechtssteitigkeiten oder bei Baurechtsstreitigkeiten über Großprojekte, ist eine solche Arbeitsweise hilfreich. Auch bei Massesachen, also bei häufig vorkommenden gleichartigen Streiten («small claims») wie Kündigungsschutzklagen, Klagen gegen Mieterhöhungsverlangen, einfachen Zahlungsklagen u. dgl. mehr, bringt der IT-Einsatz spürbare Vorteile. Gleiches gilt sicher auch für gerichtsnahe Mediationsverfahren.
[16]
Ziel dieser praxisorientierten Forschung ist es zunächst, die Beteiligten des Rechtsstreits zu entlasten. Die gemeinsam eingesetzte Informationstechnologie soll für alle einen deutlichen Effizienzgewinn bringen. Effizienzgewinn bedeutet dabei aber nicht nur Arbeits- und Zeitersparnis. Vielmehr geht es auch und ganz wesentlich um materiell bessere Ergebnisse der Prozesse, also um die Gerechtigkeit. Wenn etwa über einen Bauschaden ein Protokoll vorhanden ist, dieses aber nicht ausgewertet wird, weil es im Pharaonengrab der Akten schlicht nicht gefunden wird, droht die Gefahr einer falschen Entscheidung. Dieser Gefahr kann durch den IT-Einsatz begegnet werden. Den Anstoß zur Entwicklung des erwähnten Normfall Managers gab Ende der neunziger Jahre ein Strafverfahren, in welchem ein Architekt wegen angeblicher Untreue bei der Betreuung eines Bauprojektes verurteilt wurde, wobei der verschwundene – von dem Architekten laut Urteil «beseitigte» – Aufmaßplan das Hauptindiz gegen ihn war. Nach der Verurteilung des Architekten fand sich dann der Aufmaßplan – auf dem Dachboden des Landgerichts, wo er seit Jahren vergessen und verstaubt lagerte.

3.

Der Stand des Projektes ^

[17]
Das Projekt Gaius wurde 2011 im Rahmen der Arbeiten zur «Wiedergeburt» der Rechtsinformatik als rechtstheoretische Methodendisziplin (Computer im Recht) anstelle des fälschlich der Rechtsinformatik zugeordneten Informationsrechts (Recht des Computers) an der neu gegründeten EBS Law School in Wiesbaden begonnen. Projektpartner waren die Hessische Justiz und der Hessische Anwaltverein sowie neben der Normfall GmbH drei qualifizierte IT-Entwicklungsunternehmen mit praktischer Erfahrung in juristischen Anwendungen (SINC GmbH; Steinbeis-Transferzentrum für Prozesstechnologie TECHNUM; Jurasoft AG (RA-Micro). Das Projekt wurde nicht nur informationstechnisch, rechtstheoretisch und rechtsdogmatisch, sondern auch empirisch anhand geeigneter Fälle unter Erprobung neu zu entwickelnder IT-Tools betrieben. Die Wirkungsweise dieser IT-Tools sollte systematisch evaluiert werden, um vertiefte Kenntnisse über ihre Erfolgsfaktoren zu erwerben und um die Zufriedenheit im Umgang mit ihnen zu erkunden. Als Kooperationspartner wurde für diese Aufgabe das ask-Institut in Osnabrück gewonnen, das über einschlägige Erfahrungen in der Rechtstatsachenforschung verfügt und diese Fragen empirisch untersuchen soll.
[18]
In zwei großen verwaltungsgerichtlichen Verfahren, in denen es um die Errichtung eines Kraftwerkes sowie um Auseinandersetzungen über Flugrouten geht, haben sich die Parteien und deren Anwälte bereit erklärt, den «One-Text-Approach» zu testen. Erste Erfahrungsberichte sind in absehbarer Zeit zu erwarten.
[19]
Das Projekt Gaius ist auch in den USA auf Interesse gestoßen. Gemeinsam mit dem New Yorker Anwalt Robert M. Kunstadt habe ich Anfang 2012 an einer Ausschreibung des US Copyright Office teilgenommen, in der es darum geht, das Gaius Projekt für die gerichtliche Bearbeitung von Copyright Claims einzusetzen.

 

Prof. Dr. Fritjof Haft war Inhaber des Lehrstuhls für Rechtsinformatik und Strafrecht an der Universität Tübingen und ist derzeit gemeinsam mit Kollegen damit befasst, die Rechtsinformatik als wissenschaftliche methodenorientierte Disziplin (Computer im Recht statt Recht des Computers) neu aufzubauen («Dritte Geburt der Rechtsinformatik»).