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Wechselwirkung Gesetzgebung - Prozessoptimierung am Beispiel P23R

  • Author: Peter Schilling
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Wissensbasiertes Prozessmanagement in Verwaltungsnetzwerken
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Peter Schilling, Wechselwirkung Gesetzgebung - Prozessoptimierung am Beispiel P23R, in: Jusletter IT 20 February 2013
Die Senkung der Bürokratiekosten ist ein politisches Dauerthema. Inzwischen besteht aber das Verständnis, dass dies nicht durch den Wegfall aller staatlichen Kontrollmechanismen erfolgen kann. Der Beitrag entwickelt einen Vorschlag, wie die Bürokratiekostensenkung erreicht werden kann, ohne die als gesellschaftlich notwendig erkannten staatlichen Kontrollen aufzugeben.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Motivation
  • 1.1. Bürokratiekosten
  • 1.2. Der Wegfall aller Kontrollen ist auch keine Lösung
  • 2. Problemanalyse
  • 3. Verbesserungsvorschlag
  • 3.1. Gesetzgebung als Projekt
  • 3.2. Konkretisierung am Beispiel P23R

1.

Motivation ^

1.1.

Bürokratiekosten ^

[1]

Die Senkung der Bürokratiekosten ist ein Dauerthema. Es geht dabei nicht nur um die Senkung der verwaltungsinternen Kosten für den Aufgabenvollzug, sondern besonders um die Senkung der Kosten, die Unternehmen durch die korrekte Erfüllung gesetzlicher Auflagen entstehen. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes, auf der Basis des Standardkostenmodells ermittelt, sind dies jährlich über 47 Milliarden Euro1 (Stand 2009). Entsprechend groß ist das Einsparungspotenzial. Neben dem objektiven Kostenfaktor gibt es auch die subjektive Wahrnehmung, die ich als «Lästigkeitsfaktor»2 bezeichnen möchte. Dieser tritt insbesondere bei der Erfüllung von Vorschriften auf, die aus Sicht der Betroffenen wenig Sinn machen, besonders aufwändig sind, unklare oder widersprüchliche Formulare oder Anweisungen enthalten oder in ähnlicher Form mit ähnlichen Angaben für andere öffentliche Stellen bereits abzugeben waren. Gerade bei inhabergeführten Kleinbetrieben sollte dieser Effekt als eine Quelle von Politikverdrossenheit nicht unterschätzt werden. Getrennt davon zu betrachten ist eine Verärgerung über die Einschränkung von Gewinnmöglichkeiten durch gesellschaftlich erforderliche Vorschriften zum Verbraucherschutz u. ä. Während Letzteres aus übergeordneter Sicht unvermeidlich ist, kann und muss die Verärgerung über eine unnötige Komplikation der Erfüllung von Vorschriften nach besten Kräften vermieden werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf Vorschriften für Unternehmen. Soweit Strafvorschriften einbezogen sind, beschränken sich die Überlegungen auf «rationale» Straftaten, deren kriminelle Energie sich im Wesentlichen aus Gewinnstreben speist.

[2]

Grundsätzlich ist jede Auflage, die der Gesetzgeber einem Unternehmen macht, ein Eingriff in die Gewerbe- und Berufsfreiheit (Art. 12 GG) 3. Als Ausübungsregelungen sind sie jedoch schon durch vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls zu rechtfertigen4. Dementsprechend ist der Eingriff so gering wie möglich zu halten. Festzuhalten bleibt für die nachfolgenden Überlegungen also, dass ein solcher Eingriff durch eine Zielstellung gerechtfertigt ist, die dem Gemeinwohl dient. Gerechtfertigt ist aber nur das mildeste Mittel, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann. Nach meiner Interpretation schließt dies auch die Überprüfung der Wirksamkeit einer Vorschrift nach einer gewissen Zeit ein. Erreicht sie das gesetzte Gemeinwohlziel nicht oder nur sehr unzureichend, so ist sie in dieser Form nicht mehr gerechtfertigt und muss wegen Untauglichkeit abgeschafft oder so verbessert werden, dass eine Zielerreichung wahrscheinlich wird. Diese Anforderung steht in einem Zielkonflikt mit der Bürokratiekostensenkung, da zumindest nach heutigem Stand eine Vorschriftenänderung für Unternehmen und auch die Empfängerbehörden mit einem meist hohen Umstellungsaufwand verbunden ist.

1.2.

Der Wegfall aller Kontrollen ist auch keine Lösung ^

[3]

In der Vergangenheit wurde vielfach von interessierter Seite die Meinung gestreut, dass möglichst viele Vorschriften ersatzlos beseitigt werden müssten, um so die Bürokratiekosten zu senken. Dem ist jedoch, zumindest in dieser Absolutheit, zu widersprechen. Zahlreiche Beispiele wie Lebensmittelskandale, Bankenkrise u.a.m. haben in der Vergangenheit gezeigt, dass unsere Gesellschaft rechtliche Schranken für Unternehmen braucht. Auch die Erfahrungen mit Selbstverpflichtungen (vom Kraftfahrzeugkatalysator in den achtziger Jahren bis zu Mehrwegflaschen oder CO2-Ausstoß) zeigen, dass diese Art der Regulierung die gesetzten Ziele des Gemeinwohls häufig nicht erreicht.

[4]
Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind Vorschriften und ihre Durchsetzung zum Schutz der rechtstreuen Parteien unabdingbar. Sie schützen Verbraucher oder Rechtsgüter wie Umweltschutz vor Übertretungen. Sie schützen aber auch die korrekt agierenden Unternehmen vor Wettbewerbsverzerrung durch schwarze Schafe; ein Aspekt, der gerade bei der Diskussion rechtlicher Vorschriften in Unternehmerkreisen manchmal übersehen wird. Wenn unter all diesen Gesichtspunkten eine Vorschrift nach einer seriösen Aufgaben- und Zielkritik Bestand hat, so bleibt wie o. a. noch der Auftrag, den durch die Vorschrift verursachten Eingriff so gering wie möglich zu halten.

2.

Problemanalyse ^

[5]
Bisherige Vereinfachungsinitiativen, die seit vielen Jahren betrieben werden, gehen nach meiner Einschätzung nicht bis auf operationale Ebene und haben keine Gesamtschau, angefangen bei der Zielsetzung bis hinunter zur operativen Auswirkung, nicht nur auf das Einzelgesetz, sondern auf alle verwandten Vorschriften, die von einem Unternehmen zu erfüllen sind. Die «Verwandtschaft» ist dabei nach meiner Lesart durch den überlappenden Bedarf an Daten aus dem Unternehmen und an Datenaufbereitung gegeben. Insgesamt besteht vielfach eine «End-of-pipe» Mentalität, d. h. ein Problem taucht auf und es wird versucht, das neue Problem durch eine neue Regelung zu lösen.
[6]
Die heutigen Gesetze und Vorschriften sind ebenso Insellösungen wie die IT-Verfahren zu ihrer Unterstützung, sowohl auf Unternehmensseite als auch auf Seiten der durchführenden Verwaltungen. Erhobene Daten unterschiedlicher Vorschriften sind redundant, überschneidend oder doppeldeutig. All diese Effekte führen zu einem vermeidbaren Mehraufwand, der – strenggenommen – durch die angestrebten Gemeinwohlziele nicht zu rechtfertigen ist. Insbesondere die Beseitigung des Problems der redundanten Datenerhebung durch unterschiedliche Behörden steht allerdings zumindest vordergründig im Zielkonflikt mit Vorschriften des Datenschutzes zur Mehrfachnutzung und dem Anspruch der Unternehmen, die Herrschaft über die eigenen Daten möglichst nicht zu verlieren.
[7]

Auch das Anhörungsverfahren zu einem Gesetzentwurf ist nicht optimal. Den Betroffenen wird ein fertiger Entwurf präsentiert, zu dem sie Stellung nehmen können. Dies hat nach meiner Einschätzung die Folge, dass sich an den Einzelvorschriften eine Detaildiskussion entzündet, die für eine Gruppe Betroffener besonders problematisch sind. Die Diskussion über Aufwand und Nutzen findet wenig systematisch statt; auch weil beides aus dem vorgelegten Entwurf nur schwer zu erschließen ist. Erfolgreiche Einwendungen werden dann, oft in Form von Ausnahmetatbeständen, in den vorhandenen Entwurf «hinein formuliert», was Lesbarkeit und Schlüssigkeit nicht verbessern dürfte. Auch eine Qualitätssicherung, d. h. besonders eine Aufwands- und Folgenanalyse, finden nicht oder wenig systematisch statt. Sonst wäre es wohl kaum möglich, dass so manche Vorschrift das Gegenteil vom vorgesehenen Zweck bewirkt oder kurz vor oder nach Inkrafttreten Entrüstungsstürme5 verursacht.

[8]
Um die Situation zu verbessern, müssen Wege gefunden werden, bereits in frühen Phasen der Gesetzgebung Fehlentwicklungen zu verhindern. Das derzeitige Verfahren weist dazu einige Ansatzpunkte auf. Die Abschätzung des konkreten Erfüllungsaufwands beispielsweise wird nach meiner Einschätzung nicht detailliert genug oder zu spät durchgeführt, um noch tiefgreifend auf die Ausgestaltung der Vorschrift zu wirken.

3.

Verbesserungsvorschlag ^

3.1.

Gesetzgebung als Projekt ^

[9]

Wie an anderer Stelle ausgeführt, betrachte ich die Informationsverarbeitung als zentralen Produktionsprozess der öffentlichen Verwaltung6. Die Produktion von Gesetzentwürfen für die Legislative zählt zu diesen Prozessen. Es liegt für mich daher nahe, das Gesetz und seinen Vollzug als die Summe verschiedener Informationsverarbeitungsprozesse zu betrachten. Es wäre daher angebracht, bereits bei der Entwurfserstellung nach den Methoden eines Informationsprojekts vorzugehen. Zentrale Punkte dieser Vorgehensweise sind für mich:

 

  • Eine Ausarbeitung in Phasen, wobei in jeder Phase eine Detaillierung durchgeführt und dann auf die Einhaltung der gesetzten Projektziele überprüft wird. Wenn die Zielerreichung ungenügend ist, wird die Phase, nötigenfalls auch die Phase davor, wiederholt. Mit diesem gestuften Vorgehen wird eine Minimierung des Projektrisikos bei einer Maximierung des Projekterfolgs erreicht. Im Falle von Fehlern in der Projektarbeit ist bei dieser Vorgehensweise sichergestellt, dass bei neuen Erkenntnissen nicht der gesamte bisherige Aufwand sondern nur der Aufwand von einer oder schlimmstenfalls von zwei Phasen wiederholt werden muss. In jeder Phase werden möglichst Alternativen skizziert und diskutiert und die beste Alternative wird dann ausgearbeitet und in die nächste Phase übernommen und weiterentwickelt.

 

  • Eine unbedingte Unterordnung der Vorgehensweise unter die Projektziele. Dies setzt voraus, dass diese zu Projektbeginn klar und eindeutig definiert werden. Die in a) geforderte Entwicklung in schrittweise detaillierten Phasen gibt die Möglichkeit, diese Ziele in jeder Phase weiter zu operationalisieren oder auch zu modifizieren, falls die ursprüngliche Zielsetzung nicht oder nur mit einem unverhältnismäßig hohen Aufwand erreichbar wäre.

3.2.

Konkretisierung am Beispiel P23R ^

[10]

Die Konkretisierung der o. a. abstrakten Vorschläge kann nur innerhalb konkreter Randbedingungen erfolgen. Ich möchte dazu das derzeit in der Einführungsphase befindliche P23R-Konzept7 verwenden. Die hier bedeutsame Grundidee des Konzepts besteht kurzgefasst darin, Einzelvorschriften in eine in einem P23R-System ablauffähige technische Form (P23R-Regel) zu bringen. Diese ist in der Lage, aus Grunddaten, wie sie im Unternehmen ohnehin anfallen, die erforderlichen Meldungen oder Anträge zu generieren, d. h. mit Berechnungen, Aggregationen, Selektionen, Formatierungen u. ä. die Information in der von einer Empfängerbehörde verlangten Form zu erzeugen und anhand eines Zuständigkeitsverzeichnisses zu versenden. Das Unternehmen kann vor dem Versand eine Sichtprüfung und eine formelle Freigabe vorschalten. Das vollständige P23R-Sytem mit allen Daten steht unter Kontrolle des Unternehmens.

[11]
Die Kostenreduktion entsteht im Einzelfall durch die Verringerung des Aufwandes für die gesetzeskonforme Aufbereitung der Daten. Ein weiteres großes Potenzial liegt in der Vermeidung von Redundanzen. Viele Daten werden mehrfach gebraucht und sie werden dazu derzeit wiederholt aufbereitet (z. B. Einkommensdaten für die Sozialversicherung, Steuer, Statistik, Bescheinigungen u. ä.). Beim P23R-Konzept genügt dagegen die einmalige Bereitstellung der Grunddaten. Jede einzelne P23R-Regel greift auf den Grunddatenbestand zu und erstellt daraus die Meldung o. ä., ohne dass außer der Freigabe erneute Aktivitäten des Bearbeiters nötig wären.
[12]

Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, eine P23R-Regel durch eine neue Version auszutauschen. Der Vorgang ist etwa so einfach, wie der Download einer App für ein Smartphone. Die technische Funktion des P23R-Konzepts wurde bereits durch das o. a. Pilotprojekt (s. 7) in der Betriebsumgebung der Unternehmen BASF und DATEV mit P23R-Regeln aus den Bereichen Sozialversicherung und Bundesimmissionschutz-Gesetz nachgewiesen.

[13]
Die Konkretisierung des Vorschlags «Gesetzgebung als Projekt» könnte in diesem Fall wie folgt aussehen: Der Gesetzgeber formuliert ein Ziel zur Lösung eines Problems bzw. einen Änderungsbedarf einer Vorschrift wegen mangelnder Wirksamkeit oder eines unverhältnismäßig hohen Erfüllungsaufwands. Alle betroffenen Kreise können Vorschlagsskizzen zur Realisierung der Ziele einreichen oder auch die Ziele in Frage stellen und andere problemadäquate Ziele vorschlagen. Die Vorschläge werden auf einer Plattform zur Diskussion gestellt. Diskussionsergebnis ist eine konsolidierte Fassung der Ziele und Lösungsskizzen. In mindestens zwei Schritten werden daraus ein Grob- und ein Feinkonzept erstellt und jeweils diskutiert. Erst daraus entsteht der detaillierte Entwurf. Bei nicht aufzulösenden Kontroversen entscheidet der Gesetzgeber über die Alternativenauswahl oder lässt die Phase ein weiteres Mal durchlaufen. Bestandteil der Phasenergebnisse ist insbesondere auch der Informationsbedarf für Kontrolle und Durchsetzung. Damit erhalten die Unternehmen rechtzeitig die Informationen, die sie brauchen, um ihren Erfüllungsaufwand abzuschätzen. Durch ihre Kenntnisse über verfügbare Daten und die tiefen Kenntnisse ihrer Branche können sie auch Alternativvorschläge machen, um die Ziele auf andere Weise mit weniger Aufwand zu erreichen.
[14]
Diese Vorgehensweise erfüllt die Beteiligungsansprüche des Open Governace Konzepts und bindet das Fachwissen der Betroffenen ein, ohne nach abgeschlossener Zieldiskussion Gefahr zu laufen, den Gesetzeszweck nachträglich zu verwässern. Durch den problemlosen Austausch der P23R-Regeln sind auch eine Evaluierung und daraus entstehende Änderungsaufwand für die Unternehmen kein Problem mehr. Erkannte Schwachstellen einer Vorschrift können so zeitnah eliminiert werden.

 


 

Peter Schilling, Prof. für Informationsmanagement der öffentlichen Verwaltung i.R..

 


 

  1. 1 Siehe Link (09.01.13).
  2. 2 Autorenteam Los 3, Machbarkeitsstudie zum Forschungsauftrag «Entwicklung von Prozessketten zwischen Wirtschaft und Verwaltung», Los 3 «Informations- und Meldepflichten für Arbeitgeber» (2009) Seite70 (für das Bundesministerium des Innern der BR Deutschland).
  3. 3 Autorenteam Los 3, a.a.O, S. Seite 58 und Seite 134 (2009).
  4. 4 Dreier, H. (Hrsg.) Grundgesetz Kommentar. 2. Aufl., Tübingen 2004: Art. 12 Rn. 108, 118; zitiert nach 3.
  5. 5 Jüngstes Beispiel: Bundesrat stoppt geplante Kürzungen bei Lebensversicherungen - In der letzten Sitzung des Jahres 2013 hat der Bundesrat die von der Bundesregierung geplante Reduzierung der Gewinnbeteiligung bei Lebensversicherungen gestoppt und an den Vermittlungsausschuss verwiesen. (Download 09.01.13).
  6. 6 Schilling, Tiefgreifendes Umdenken in Politik und Führungsebene ist ein Erfolgsfaktor der Verwaltungs moderni sierung, in: Schweighofer E., Kummer F., Hötzendorfer W. (Hrsg.), Abstraktion und Applikation, Tagungsband IRIS 2013, books@ocg.at, Wien (2013).
  7. 7 Pilotierung und Realisierung eines Prozess-Daten-Beschleunigers (PDB) für den Datenaustausch zwischen Wirtschaft und Verwaltung (Projekt des deutschen Bundesministeriums des Inneren), (2011- 2012), Berichte und aktuelle Informationen zu den zahlreichen Aspekten des Projekts finden sich unter P23R.de.