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Vernetztes Leben - Optimierung von Prozessen zur Barrierefreiheit für sehbehinderte und blinde Menschen

  • Author: Irene Krebs
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Wissensbasiertes Prozessmanagement in Verwaltungsnetzwerken
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Irene Krebs, Vernetztes Leben - Optimierung von Prozessen zur Barrierefreiheit für sehbehinderte und blinde Menschen, in: Jusletter IT 20 February 2013
Gegenstand dieses Beitrages ist die Vorstellung der Thematik Barrierefreiheit mit besonderem Bezug zur Prozessgestaltung unter dem Fokus» «vernetztes Leben» für blinde und sehbehinderte Nutzer. Hierbei werden aktuelle Techniken des Bereichs Barrierefreiheit analysiert und neue Kenntnisse werden zusammengefasst.
Seit den 80er Jahren wird der Thematik Barrierefreiheit bei der Gestaltung von Infrastrukturen jeglicher Art eine immer größer werdende Bedeutung beigemessen. Dies kommt nicht von ungefähr, denn von den rund 82 Millionen Einwohnern Deutschlands haben 9,6 Millionen Menschen eine amtlich anerkannte Behinderung, davon circa 1 Millionen Menschen eine Sehbehinderung. Die demografische Entwicklung, insbesondere die immer höher werdende Lebenserwartung, und der Rückgang der Bevölkerung sind Herausforderungen für die technologische Entwicklung und die Sensibilisierung für das Thema der Barrierefreiheit. «Nicht behindert zu sein ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.» (Richard von Weizsäcker).
Technische Systeme werden in Zukunft an Bedeutung auch gerade im Bereich der Barrierefreiheit an Bedeutung gewinnen, was auch in der nationalen Innovationsstrategie, der «Hightech-Strategie 2020 für Deutschland» hervorgehoben wird. Und zur Bewältigung dieser Herausforderungen werden neue Technologien und ihr Einsatz in sozio-technischen Systemen einen immensen Beitrag leisten. Informationstechnologien stehen dabei für tragbare und unauffällige Systeme zur Verfügung. Die Umgebung von Menschen wird zunehmend mit multifunktionellen, miniaturisierten, vernetzten und kontextsensitiven Geräten ausgestattet. Mensch und Technik rücken einfach näher zusammen. Daraus entsteht auch ein neues Selbstverständnis im Umgang mit Technik.
Darum gilt es, zukünftig nicht nur Technologien voranzutreiben, sondern Menschen als Nutzer in die Gestaltung dieser Prozesse einzubeziehen. Diesem Ziel fühlt sich der Beitrag verpflichtet.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Theoretische Grundlagen zum Begriff Barrierefreiheit
  • 2.1. Der Begriff Benutzbarkeit (Usability) im Webdesign
  • 2.2. Was sind Barrieren?
  • 2.3. Der Begriff Barrierefreiheit (Accessibility)
  • 2.3.1. Unterscheidung Accessibility und Usability
  • 2.3.2. Geltungsbereiche
  • 3. Fazit
  • 4. Literaturverzeichnis

1.

Einleitung ^

[1]
Überall im privaten und öffentlichen Raum sowie in der Arbeitswelt sind wir von Technik umgeben. Angefangen bei der alltäglichen Wettervorhersage über hoch technisierte Arbeitsprozesse bis zu Fragen der Versorgung und Sicherheit – in allen Bereichen leistet Technik wertvolle Dienste.
[2]
Neue Entwicklungen ermöglichen die Ausstattung mit immer mehr Fähigkeiten und Funktionen. Die Technik wird immer zuverlässiger im Dienste des Menschen.
[3]
Somit wachsen aber auch die Anforderungen an technische Systeme hinsichtlich der Kompatibilität, Autarkie, Sicherheit, Usability und Accessibility.
[4]
Die klassische Sichtweise auf Geräte und Systeme als passive Instrumente ist somit nicht mehr zeitgemäß.

2.

Theoretische Grundlagen zum Begriff Barrierefreiheit ^

2.1.

Der Begriff Benutzbarkeit (Usability) im Webdesign ^

[5]
Benutzbarkeit oder im englischen Usability bezieht sich auf gewachsene wissenschaftliche Normen und Erkenntnisse, welche eine Grundlage für die Qualitätssicherung eines Webangebotes bilden sollen. Die internationale Organisation für Standardisierung (ISO) definiert den Begriff Usability als das Ausmaß eines Produktes, in dem es von bestimmten Benutzern verwendet werden kann, um bestimmte Ziele in einem bestimmten Kontext effektiv, effizient und zufrieden stellend zu erreichen (ISO 9241).
[6]
Demnach ist Usability nicht allein die Erfüllung von Eigenschaften eines Produktes oder Dienstleistung, sondern das Kennzeichen der Interaktion des Benutzers mit einem Produkt oder einer Dienstleistung in einem bestimmten Kontext. Außerdem ist zu vermerken, dass die Usability eines Produktes nicht ohne Aufwand auf andere Benutzer oder Nutzergruppen des gleichen Produktes übertragen werden kann, sie somit eine gewisse Nutzerspezifität aufweist. Die Effektivität des Produktes oder der Dienstleistung ist durch die exakte Erreichung der vom Benutzer erwarteten Ergebnisse definiert und durch die Effizienz in ein ökonomisches Verhältnis aus Ressourceneinsatz und Ergebnis gesetzt (Lindgaard, 1994).
[7]
Das heutige Verständnis von Usability wurde besonders durch die Entwicklung im Bereich der Software-Ergonomie beeinflusst. Die klassische Lehre der Ergonomie bezieht sich zumeist auf die Gestaltung und Anordnung von Arbeitsumgebung und Arbeitsmitteln, dahingegen konzentriert sich die Software-Ergonomie auf die Anpassung der Software an die damit arbeitenden Menschen.
[8]
Ein wichtiger Bestandteil der ISO-Norm 9241 ist der im Jahr 1995 unter der Bezeichnung «Grundsätze der Dialoggestaltung» dokumentierte und für den Interessentenkreis und die Öffentlichkeit zugänglich gemachte Teil 110. Dieser beschreibt die ergonomischen Grundsätze der Gestaltung von Software und ist somit auch speziell für die Gestaltung von Webseiten anwendbar (Borsutzky, 2002).

2.2.

Was sind Barrieren? ^

[9]
Der Begriff Barriere betrifft eine Vielzahl der Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der Nutzung des öffentlichen Lebensraums. So können Treppen und Aufgänge für Rollstuhlfahrer, Mütter mit Kinderwagen und Personen mit Gipsbein eine Barriere darstellen. Auch schmale Türen, verwinkelte Türöffnungen oder zu eng stehendes Mobiliar stellen Barrieren für Rollstuhlfahrer und für übergewichtige oder ältere Menschen dar (Martin, 2008, Seite 5). Auch die ausschließliche Nutzung von Schrift bei der Beschilderung von öffentlichen Räumen können eine schwer überwindbare Hürde für Blind und Analphabeten darstellen. Weitere Formen von Barrieren sind die sensorischen Barrieren, welche zumeist Orientierungsprobleme auslösen und die anthropologischen Barrieren, welche auf die Funktion der Einrichtung und nicht auf die Bedürfnisse des Nutzers ausgerichtet sind. Es wird deutlich, dass der Begriff Barriere viel weiter gefasst werden kann, als zunächst angenommen werden kann, denn die Bereiche und Zielgruppen sind beliebig erweiterbar (Fichte, 2006, Seite 37).

2.3.

Der Begriff Barrierefreiheit (Accessibility) ^

[10]
Tim Berners-Lee, Wegbereiter des World Wide Web und Vorsitzender des World Wide Web Consortium, kurz W3C, formulierte: «Barrierefreiheit ist der Schlüssel, um das Web für jeden zugänglich zu machen.» (W3C, 2008) Barrierefreiheit ist also der Schlüssel dazu, dem Nutzer mit seinen individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten einen möglichst einfachen Weg zu den Informationen zu ermöglichen. Es sollten keine physischen Höchstleistungen, keine Denksportaufgaben, keine Umwege und kein Zeitverlust nötig sein, um an die gewünschten Informationen zu gelangen (vgl. Namics, 2004, Seite 7).

2.3.1.

Unterscheidung Accessibility und Usability ^

[11]
Usability und Accessibility sind Gebrauchseigenschaften von Technik bzw. Diensten. Sie werden oft zusammen genannt und stehen in einem engen Zusammenhang.
[12]
Dennoch ist es gerade mit Bezug auf die Barrierefreiheit wichtig, die Begriffe voneinander abzuheben. Accessibility bezieht sich auf die Spezifika des individuellen Nutzers und auf sein persönliches Umfeld. Das spielt bei Betrachtungen von Prozessen, die Barrierefreiheit erzielen sollen, eine besondere Rolle.

Tabelle 1: Unterschied zwischen Accessibility und Usability (Quelle: In Anlehnung an Fichte, 2006, S. 38)

2.3.2.

Geltungsbereiche ^

[13]
Der Begriff Barrierefreiheit umfasst im Deutschen aber weitaus mehr als der englische Begriff Accessibility, welcher sich eher auf die technische Zugänglichkeit bezieht (Hellbusch, 2005. Seite 6-7). «Careful design and assistive technologies can make websites fully accessible to people with visual impairments. However, accessibility does not equate with usability or usefulness for the target audience» (Damsma et al., 2005, Seite 1).
[14]
Der Begriff Barrierefreiheit beschreibt somit ebenso die Gebrauchstauglichkeit und bezieht sich auf die nutzerorientierte Gestaltung und Bereitstellung von elektronischen Informationen. Im Behindertengleichstellungsgesetz, kurz BGG, wird die juristische Definition von Barrierefreiheit unter Abschnitt 1 § 4 der Allgemeinen Bestimmungen wie folgt wiedergegeben: «Barrierefrei sind […] Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.»
[15]
Natürlich sind einige der Barrieren für jeden Nutzer von individueller Natur und eine einhundertprozentige Barrierefreiheit kann nur schwerlich erreicht und erwartet werden, da diese immer stark von der Zielgruppe abhängt. Dennoch stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umfang an Barrierefreiheit. Einen Lösungsansatz zu der Fragestellung bietet der innovative, aber nicht sonderlich ökonomische Ansatz des «Universal Design»: «[…] it is impossible to design a single version of web content that is equally un-derstandable across the full spectrum of disabilities, or even within the spectrum of cognitive disabilities. The concept of a truly universal format sounds like a wonderful idea, but it is unattainable.» (WebAIM o.J.).
[16]
Dennoch ist es heutzutage möglich Webauftritte so zu gestalten, dass sie einem universellen Design nahe kommen und somit eine Umwelt zu erschaffen, in welcher sich Nutzer mit ihren speziellen, wie auch gewöhnlichen, Anforderungen zu Recht finden und bewegen können. Die meisten Probleme, welchen der blinde Nutzer begegnet, sind oft nicht technischer Art, sondern Ergebnisse einer rein technischen Betrachtung und einer zu geringen Nutzerorientierung. Beispiel für solche Barrieren sind wenig aussagekräftige Grafik- und Linkbezeichnungen, grafische Zugangstests, schlecht definierte Kurztasten und fehlende Navigationsleisten.
[17]
Das World Wide Web Consortium veröffentlichte im Jahr 1999 zum ersten Mal ihre Web Content Accessibility Guidelines und stellte damit eine erste eindeutige Empfehlung für die Erstellung und Gestaltung von Internetauftritten auf. Dieser Leitfaden floss in die gesetzlichen Richtlinien der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens und Australiens ein. Die Behörden dieser Staaten sind seitdem verpflichtet, ihre Internetauftritte barrierefrei zu gestalten. Die Bundesrepublik Deutschland folgte dem Vorbild und setzte gleichzeitig die Vorgaben der Europäischen Union nach einer Verankerung der WCAG in nationales Gesetz, mit der im Jahr 2002 erstellten Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung um (vgl. Krueger, 2007, Seite 17).
[18]
Doch am deutlichsten wird die Thematik der Barrierefreiheit für inhomogene Nutzergruppen im Internet. Der Informationsgehalt und die Möglichkeiten des World Wide Web sind enorm und grundlegend für jeden mit einer Internetverbindung verfügbar. Jedoch bleibt dieses Angebot jenen potenziellen Nutzern versperrt, welche durch Barrieren davon abgehalten werden. Barrierefreiheit stellt somit das Fundament für die Realisierung von Usability dar. Erst wenn die optimale Nutzung für die Nutzergruppe des Produktes oder der Dienstleistung gesichert ist oder zumindest alle notwendigen Voraussetzungen geschaffen wurden, sollte die Usability-Qualität des Produktes / der Dienstleistung verbessert werden (vgl. Brinck, 2005, Seite 388). Die Argumentation für die Umsetzung von barrierefreien Lösungen fällt schwer, da die Adressaten zumeist zu wenig das Konzept der Barrierefreiheit verstehen und die Umsetzung eher als gute Tat und nicht als ökonomischen Mehrwert auffassen.

3.

Fazit ^

[19]
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es für behinderte Menschen bereits eine Vielzahl an Assistenzsystemen gibt, welche die Nutzung von Webseiten erleichtern. Die vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingungen lassen hinsichtlich der Verbindlichkeit, besonders für private Betreiber von Webseiten, noch zu wünschen übrig. Die konsequente Umsetzung der Barrierefreiheit bei Webseiten wird von privaten Betreibern oftmals als Mehraufwand angesehen. Aber gerade die strukturierte und nutzerfreundliche Gestaltung von Webseiten ist nicht nur für behinderte Menschen notwendig; der Mehraufwand in der Programmierung wird durch einen größeren Nutzerkreis und zufriedenere Webseitenbesucher aufgewogen (vgl. Schmidts & Riebeck, 2007, Seite 31-33).
[20]
Die ersten Schritte sind getan, die Richtung stimmt auch - aber der Weg ist noch lang. Es bedarf neben der weiteren Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen noch einiger Überzeugungsarbeit und des Dialogs zwischen Betroffenen und Betreibern, um ein barrierefreies Internet zu schaffen.
[21]
Das Miteinander von Mensch und Technik ändert sich rasant aus der zunehmend mobile Lebensweise erwachsen gänzlich neue Ansprüche an Technik. Innovative Technologien bieten dafür Möglichkeiten, die vor einigen Jahren noch visionär klangen. Mensch und Technik rücken dabei immer weiter zusammen. Das hat einen erheblichen Einfluss auf bestehende soziale Verhaltensweisen und gesellschaftliche Wertvorstellungen.
[22]
Neue Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten dürfen daher ihren Fokus nicht mehr nur auf technologische Fragestellungen richten, sondern müssen den Menschen als Nutzer und sein soziales Umfeld stärker als bisher in die Betrachtungen einbeziehen.

4.

Literaturverzeichnis ^

Borsutzky, Silvana Usability – genormte Qualität. URL: http://www.scoreberlin.de/usability-artikel/usability-iso-norm/, 26.02.2012. (2002)

Brinck, Tom Return on Goodwill: Return on Investment for Accessibility. In Bias & Mayhew (Eds.), Cost-Justifying Usability: An Update for the Internet Age. New York: Elsevier. Seite 385-414. (2005)

Damsma, Phia; Norgaard, John; Jones, Rob: Best practices in an online community for blind, partly sighted and fully sighted children, in: OZCHI ‘05 Proceedings of the 17th Australia conference on Computer-Human Interaction: Citizens Online, Page 1, Computer-Human Interaction Special Interest Group (CHISIG) of Australia Narrabundah, Australia

Fichte L. Barrierefreiheit bei mobilen Endgeräten. Studienarbeit, Hochschule Zittau/Görlitz (FH), Görlitz. (2006)

Hellbusch, Jan E.; Bühler, C. Barrierefreies Webdesign. Heidelberg: Dpunkt. (2005)

Krueger, Maria Barrierefreie Gestaltung für Blinde im E-Lernen am Beispiel einer flash-basierten Anwendung. (2007)

Lindgaard, Gitte Usability and System Evaluation. London: Chapman & Hall. (1994)

Martin, Johannes Barrierefrei wohnen- schöne Lösungen für zukunftsorientierte Bauherren, Senioren und behinderte Menschen. Taunusstein. (2008)

NAMICS, http://blog.namics.com/files/import/i-a634452f0253e6942200ccb1394e19d0-10_Standards_4Feb04.pdf, Seite 4, 09.01.2013.

Schmidts, H.; Riebeck, M. Usability vermarkten - Grundwissen und Konzepte zur Vermarktung von Beratungsleistungen zu Usability und Barrierefreiheit für Kleine und Mittelständische Unternehmen (KMUs). (2007)

WebAIM (o.J). Visual vs. Cognitive Disabilities. Version: o. J. URL: http://webaim.org/articles/vis_vs_cog/ . Abruf: 26.02.2012.

 


 

Irene Krebs, Professorin am Lehrstuhl Industrielle Informationstechnik, Brandenburgische Technische Universität Cottbus.