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Die Bedeutung (das Gewicht) der Rechtsprinzipien

  • Author: Friedrich Lachmayer
  • Category: Articles
  • Region: Slovenia, Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Friedrich Lachmayer, Die Bedeutung (das Gewicht) der Rechtsprinzipien, in: Jusletter IT 20 February 2013
The basic characteristic of legal principles is that they are value measures directing the definition of legal rules as to their contents, the understanding of the rules, and the manner of their application. The distinction between legal principles and legal rules is a relative one. Always such definite major and minor premises are to be formed that the case (the minor premise) can be subsumed under the rule (the major premise) and a conclusion, which includes the decision, can be drawn. This applies to legal principles that are operationalised by legal rules as well as to statutory forms of legal rules, which are often open as to their meaning and/or contain definitions (e.g. in the case of basic rights) that comprise elements of principles. The operationalisation of legal principles is the ratio decidendi that the court has to achieve in order to be able to decide in a concrete case. Legal principles live through the rules that are the reasons for the decisions in a concrete case. New cases can be solved by a new operationalisation of legal principles or by an analogous application of precedents if the new cases are, in their essential elements, similar to cases that have already been decided.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Doppelnatur der verfassungskonformen Gesetzesauslegung
  • 2. Die Gesichter der Rechtsprinzipien
  • 3. Konflikt von zwei oder mehr subjektiven Rechten
  • 4. Relativität der Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Rechtsprinzipien
  • 5. Literatur

1.

Doppelnatur der verfassungskonformen Gesetzesauslegung ^

[1]
Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung weist eine doppelte Natur auf. Einerseits handelt es sich um eine Auslegung der Verfassung, die für das Verstehen des Gesetzes richtunggebend ist, andererseits hat man es mit einer Gesetzesauslegung zu tun, die ein Teil des Rechts- und Verfassungssystems ist. Die Einordnung des Gesetzes in das Verfassungssystem und in die Werte dieses Systems (systematisch-teleologischer Aspekt der Auslegung) ist für die verfassungskonforme Gesetzesauslegung noch von ganz besonderer Bedeutung. Die Gesetzesauslegung muss diesen Aspekt der Einordnung immer berücksichtigen – entweder so, dass die Einordnung die Bedeutung des Gesetzes inhaltlich mitbestimmt, oder so, dass man lediglich einen Gegensatz zwischen dem Inhalt des Gesetzes und dem Inhalt der Verfassung feststellen kann. Wenn ein Gesetz inhaltlich so gebildet ist, dass man es mithilfe der Verfassung auslegungsmäßig (bedeutungsmäßig) nicht ausbauen und ergänzen kann und es inhaltlich im Gegensatz zur Verfassung steht, ist das Gesetz verfassungswidrig und muss deshalb teilweise oder ganz aufgehoben werden.

Abb. 1

[2]
Für den systematisch-teleologischen Aspekt der Auslegung von besonderer Bedeutung sind die Rechtsprinzipien1 in der Verfassung. Deren Grundmerkmal ist es, dass sie «Wertmaßstäbe sind, die die inhaltlichen Definitionen der Rechtsnormen, deren Verständnis und die Art deren Durchführung lenken.»2
[3]
In der Verfassung befinden sich die Rechtsprinzipien in deren allgemeinen Bestimmungen, in der Beschreibung von manchen Grundrechten sowie (in einem kleineren Umfang) auch in anderen Verfassungsteilen, wo sie kurz die Richtung angeben, wie die Gesetzesordnung sein soll. So heißt es z. B. in der Verfassung, dass die Richter in Ausübung ihres richterlichen Amts unabhängig sind [Art. 125 der Verfassung der Republik Slowenien (VRS)], dass die Rechtsanwaltschaft als Bestandteil der Rechtspflege ein selbstständiger und unabhängiger Dienst ist (Art.137/1 VRS), dass einzelne Gesetzesbestimmungen rückwirkende Kraft haben können, wenn dies das öffentliche Interesse erfordert und dadurch nicht in wohlerworbene Rechte eingegriffen wird (siehe Art. 155/2 VRS) und dass jedermann die Einleitung eines Verfahrens vor dem Verfassungsgericht anregen kann, wenn er sein rechtliches Interesse nachweist (Art. 162/2 VRS).

2.

Die Gesichter der Rechtsprinzipien ^

[4]
Die Rechtsprinzipien in der Verfassung haben, um es etwas schematisch auszudrücken, eine ständige Bedeutung für die verfassungskonforme Gesetzesauslegung. Zunächst sprechen sie über das Gewicht, das man einzelnen Prinzipien zuschreibt, weiterhin sind sie das Wertziel, das von der Gesetzgebung und der Rechtsordnung überhaupt angestrebt wird, und drittens definieren sie den Bedeutungsumfang (-reichweite), worin sich die Gesetzgebung bewegt.
[5]
Rechtsprinzipien sind schon seit dem römischen Recht gut bekannt.3 In theoretischen Untersuchungen nach dem Zweiten Weltkrieg machten Esser, Larenz, F. Bydlinski und andere darauf aufmerksam, und seit Dworkins Abhandlung The Model of Rules I4 handelt es sich um ein Thema, das in der angloamerikanischen und europäischen Rechtstheorie der Gegenstand von sehr häufigen theoretischen Diskussionen ist. Einer der in diesen Diskussionen tonangebenden Autoren ist auch Alexy.5
[6]
Der wesentliche Unterschied zwischen Normen und Prinzipien besteht darin, dass die Normen auf eine Alles-oder-Nichts-Weise (all-or-nothing fashion)6 gebildet sind (z.B.: Handle gemäß der Primärdisposition Du sollst nicht stehlen!, weil dich sonst die Sanktion trifft), während die Prinzipien die Dimension des Gewichts oder der Bedeutung (the dimension of weight or importance)7 aufweisen. Es handelt sich um das wertmäßige (moralische) Gewicht, das größer oder kleiner sein kann (z.B. sind wir mehr oder weniger ein Sozialstaat). Die Normen weisen dieses Gewicht nicht auf, weshalb man ihnen konkrete Fälle sofort unterordnen kann (z.B. dass A die erlaubte Höchstgeschwindigkeit im Ortsgebiet überschritten hat).
[7]
Vom Standpunkt der verfassungskonformen Gesetzesauslegung besteht ein Unterschied zwischen der Mitteilung, dass der gemeinsame Nenner der Grundrechte Menschenwürde ist oder dass Slowenien ein Rechtsstaat ist, und der Mitteilung, dass Allgemeinregelungen keine rückwirkende Kraft haben dürfen (siehe Art. 155/1 VRS) oder dass Gerichtsverhandlungen öffentlich sind (siehe Art. 24 VRS). Die Wertmaßstäbe der Menschenwürde und des Rechtsstaates enthalten Elemente des Wertziels und des Gewichts. Die Maßstäbe sind nicht direkt anwendbar, sondern müssen zuvor über Gesetzesbestimmungen operationalisiert werden, die die Menschenwürde achten (z.B. im Straf- und allen Exekutionsverfahren) und entsprechend vorhersehbar sein sollen (das Prinzip des Rechtsvertrauens als Element des Rechtsstaates). Die Wertziele sind, so Alexy, Gebote, um das Ziel (möglichst gut) zu erreichen.8
[8]
In diesem Sinne sind Rechtsprinzipien Wertmaßstäbe, die einmal mehr und einmal weniger intensiv sind und die erfordern, dass man sie über einzelne Verhaltenstypen geltend macht. Der Wertmaßstab, der über sie verwirklicht werden kann (z.B. das Prinzip der Menschenwürde oder das Prinzip der Freiheit der Meinungsäußerung), ist weder absolut noch inhaltlich ausgehöhlt. Wenn er absolut wäre, würde das bedeuten, dass das Prinzip die Spitze einer Pyramide ist, aus der man die Lösungen, die man angesichts eines konkreten Falles braucht, mechanisch ableiten kann. Und wenn er inhaltlich ausgehöhlt wäre, würde das bedeuten, dass es nur vom zuständigen Anwender abhängt, wie er ihn versteht und ausführt. Somit ist das Rechtsprinzip weder ein inhaltlich absoluter noch ein lediglich vom zuständigen Anwender abhängiger Maßstab, sondern eine Wertgrundlage, die erfordert, dass man «proportional» und «mit rechtem Maß» handelt. Die Wertgrundlage kann «nur» mit einer solchen Intensität geltend gemacht werden, wie sie von den inhaltlichen Lösungen (normativen Möglichkeiten), die auf einem Rechtsgebiet normativ gelten, zugelassen wird und wie das von den Merkmalen des Falles, der der Gegenstand der Entscheidung ist, geboten wird.
[9]
In der Praxis des Verfassungsgerichts taucht oft die Frage auf, ob einzelne Gesetze bzw. einzelne Gesetzesbestimmungen in Hinsicht auf die Rechtsprinzipien in der Verfassung verfassungskonform sind. Wenn sich das Gesetz bzw. die Gesetzesbestimmungen außerhalb der Wertspannweite, die das Prinzip ausdrückt, befinden, ist das Gesetz nicht verfassungskonform und wird deshalb vom Verfassungsgericht aufgehoben. Besonders empfindlich ist es, dass strafrechtliche Gebote und Verbote relativ bestimmt definiert werden müssen [Lex certa! als ein Element der Vorhersehbarkeit im Rahmen des Prinzips des Rechtsstaates (Art. 2 VRS) sowie des Prinzips Nullum crimen nulla poena sine lege praevia (Art. 28 VRS)]. In einem konkreten Fall stellte das Verfassungsgericht die fehlende Konformität der Beschreibung der Straftat (begangen durch «widerrechtliche Verwahrung von Schusswaffen oder Munition, deren Verkehr für Einzelne eingeschränkt ist») mit der Verfassung fest, weil «die gesetzlichen Merkmale der Straftat und der Übertretung vollkommen überlappten». Das Verfassungsgericht begründete, dass eine solche Lage «eine Anomie der Rechtsordnung bedeuten würde, was im Gegensatz zu den Prinzipien des Rechtsstaates stünde.»9

Abb. 2

[10]
Die Wortverbindung, dass Rechtsprinzipien «Wertziele» ausdrücken, muss man mit Vorsicht auslegen. Das Ziel ist weder ein absolutum, das eindeutig wäre, noch ein Punkt, der unbedingt erreicht werden soll. Es handelt sich vor allem um die Richtung, in die sich das Gesetz und sein Verstehen bewegen müssen. Die Hauptsache ist es, dass man sich innerhalb des Spielraums der Erwägung befindet, der nicht unter das Verfassungsminimum abrutschen darf. Die Frage des noch erlaubten Verfassungsumfangs, den das Gesetz beachten soll, stellt sich bei fast allen Grundrechten. Im Idealfall erhebt der Gesetzgeber das Bedeutungsfeld der Verfassung auf eine höhere Ebene, es ist jedoch rechtlich verboten, wenn er dieses Bedeutungsfeld verlässt und unter das Gebiet des noch erlaubten Minimums gerät.
[11]
Das Verfassungsgericht hat zahlreiche wertvolle Entscheidungen getroffen, die sich mit Verfassungsstandards auf dem Gebiet der Freiheitseinschränkung (-entziehung) befassten (Verhaftung, Untersuchungshaft, Freiheitsstrafe).10 In einer bedeutenden Strafsache wurde triftig festgestellt, dass eine gesetzliche «Bestimmung, die die Straftaten, die der Verfassungsbedingung der Gefährdung der Sicherheit von Menschen genügen, nicht bestimmt genug noch durch andere Maßstäbe als lediglich durch die Höhe der vorgeschriebenen Strafe definiert und die vom Gericht keine konkrete Feststellung einer realen Gefahr der Wiederholung einer solchen Straftat verlangt,» der Verfassung (Art. 21/1) widerspricht.
[12]
«Eine Gesetzesbestimmung, die für die Gewährleistung der Sicherheit von Menschen nur die Haft, die der gravierendste Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen ist, vorsieht und keine alternativen weniger schweren präventiven Maßnahmen bestimmt, die noch immer die Sicherheit der Menschen gewährleisten würden,» widerspricht der Verfassung.11
[13]
Aus den letzten Jahren sollte man eine Entscheidung erwähnen, die sich bedeutend mit dem Schutz personenbezogener Daten (Art. 38 VRS) befasst hat. Eines der Probleme war, wie man den Umfang der Daten, die noch verarbeitet werden dürfen, bestimmen sollte:
[14]
«Art. 128/7 des Luftfahrtsgesetzes ist nicht konform mit Art. 38/2 VRS, weil er offen lässt, welche personenbezogenen Daten (noch) verarbeitet werden können. Da das Luftfahrtsgesetz nicht alle personenbezogenen Daten, die von dem Einzelnen gesammelt werden können, bestimmt und das von den jeweiligen Bedürfnissen des Verwalters der personenbezogenen Daten abhängt, ist der Eingriff in die informationsmäßige Privatsphäre nicht vorhersehbar.»12
[15]
In Zusammenhang mit dem Verfassungsumfang, innerhalb dessen sich der Gesetzgeber bewegen muss, steht auch die goldene Regel, dass das Verfassungsgericht nicht für die Beurteilung zuständig ist, ob die Gesetzesordnung inhaltlich angemessen ist. Das Problem kann darin liegen, dass man manchmal nur schwer feststellen kann, wo der Schwerpunkt der Frage liegt – bei der gesetzlichen Regulierung, die die Grenzen der Verfassung und deren Maßstäbe nicht überschreiten darf, oder bei der Regulierung selbst, die sich innerhalb des verfassungsmäßig Möglichen bzw. innerhalb einer der verfassungsmäßig möglichen Ableitungen bewegt. Wenn es sich um die letztere Frage handelt, ist der Gesetzgeber frei, ohne dass es (vom Standpunkt des verfassungsgerichtlichen Ermessens!) von Bedeutung wäre, ob er innerhalb des verfassungsmäßig Möglichen tatsächlich jene Ableitung gewählt hat, die sich auch unter den inhaltlich angemessensten befindet. Im konkreten Fall wurde z.B. klar gesagt, dass der Gesetzgeber bei der Wahl der Art und des Inhalts der Maßnahmen, mit denen er das Prinzip des Sozialstaates (Art. 2 VRS) verwirklicht, einen breiten Ermessensspielraum hat.13

Abb. 3

[16]
Zuletzt möchte ich noch zur Frage des Gewichts zurückkehren, das ein Merkmal von (auch verfassungsmäßigen) Rechtsprinzipien ist. Das Gewicht bezeichnet die Wertspannweite und -bedeutung, die den Prinzipien zugeschrieben werden. Die Wertspannweite macht es möglich, dass man die Prinzipien mit einem unterschiedlichen Intensivitätsgrad operationalisiert. Die Prinzipien sind nicht direkt anwendbar, sondern werden über Rechtsnormen, durch die die Prinzipien eingehender definiert werden, und durch die Ausführung der Rechtsprinzipien in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen verwirklicht.
[17]

Die jeweilige Gesetzgebung wird auch durch zu berücksichtigende Verfassungsprinzipien eingerahmt. Die Prinzipien sind keinesfalls nur schöne Wünsche oder sogar eine utopische Vision, sondern ein Bestandteil der gesellschaftlichen und rechtlichen Wirklichkeit, an der man nicht vorbeigehen kann und die zulässt, dass man sich einzelnen Wertzielen einmal mehr und einmal weniger nähert. Wenn das Verfassungsgericht meint, dass ein Prinzip (z.B. der Grad der rechtlichen Vorhersehbarkeit oder der Grad der Verhältnismäßigkeit zwischen dem Ziel und den Mitteln) nicht genug oder überhaupt nicht berücksichtigt wurde, wird es, wenn es eine Verfahrensmöglichkeit dafür hat, das strittige Gesetz teilweise oder gänzlich aufheben.14 Unter konkreten Angelegenheiten möchte ich als ein besonderes Schulbeispiel die Entscheidung über Richtergehälter erwähnen, worin festgestellt wurde, dass die Regelung der (materiellen) Lage der Richter nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit steht. Die Intensität (das Gewicht) dieses Verfassungsprinzips ist größer, als durch die Einordnung der Richter in einzelne Gehaltsklassen (auch im Vergleich mit den Gehältern der Funktionäre der anderen zwei Gewalten) ausgedrückt wird.15

3.

Konflikt von zwei oder mehr subjektiven Rechten ^

[18]
Der Aspekt des Gewichts erhält einen besonderen Klang, wenn ein Konflikt von zwei oder mehr verfassungsmäßigen und/oder gesetzmäßig gewährleisteten subjektiven Rechten entsteht, hinter denen Prinzipien mit unterschiedlichem Gewicht stehen. Bei derartigen Konflikten muss man die Rechte, die aufeinandertreffen, mit Hinsicht auf das Gewicht der Prinzipien bewerten, die von den Rechten ausgedrückt werden.

Abb. 4

[19]
Die endgültige Entscheidung hängt von dem Vergleich beider Rechte (zusammen mit ihrem Gewicht) ab. Je nach den konkreten Umständen kann sich zeigen, dass beide Rechte in einem entsprechenden eingeschränkten Umfang miteinander existieren oder dass eines von ihnen Vorrang vor dem anderen hat.
[20]
In der deutschen Theorie war die Lebach-Sache, bei der es sich um einen Konflikt zwischen der Freiheit der Berichterstattung (der Meinungsäußerung) und dem Recht auf Resozialisierung, das ein Bestandteil des Persönlichkeitsschutzes ist, handelte, ein Gegenstand von lebendigen Diskussionen. Es ging darum, ob es erlaubt sei, einen Dokumentarfilm auszustrahlen, der zeigte, wie vier Personen wegen eines Waffendiebstahls getötet wurden. Der betroffene Strafgefangene, der Mittäter gewesen war, wurde im Film mehrmals genannt und es wurde auch sein Bild dargestellt. Zu der Zeit, als der Fernsehfilm ausgestrahlt werden sollte, befand er sich kurz vor der Strafaussetzung. Wenn der Film ausgestrahlt werden würde, wäre seine Resozialisierung gefährdet. Zwei ordentliche Gerichte lehnten seinen Antrag auf Untersagung der Ausstrahlung ab. Erst im Verfassungsbeschwerdeverfahren gab das Verfassungsgericht diesem Antrag statt. Es bewertete die beiden kollidierenden Rechte als Prinzipien und meinte, dass unter Berücksichtigung der Umstände des Falles die Freiheit der Meinungsäußerung (der Berichterstattung) dem Persönlichkeitsschutz weichen muss. Wenn der Film zur Zeit der Resozialisierung ausgestrahlt werden würde, wäre der Eingriff in den Persönlichkeitsschutz unverhältnismäßig intensiv.16
[21]
In der slowenischen Gerichtspraxis wurde in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Konflikt zwischen dem Recht der freien Meinungsäußerung (Anführung von persönlichen Daten verstorbener Angehöriger an einer Gedenktafel) und dem Recht auf Pietät, das ein Bestandteil des Rechts auf seelische Unversehrtheit ist, behandelt. Das Gericht stellte fest, dass die Anführung von personenbezogenen Daten an einer Gedenktafel für Verstorbene während des Zweiten Weltkrieges in das Recht auf Pietät eingegriffen hatte, die die Antragssteller gegenüber den Verstorbenen haben. Der Kern der Entscheidung besagt, dass der Eingriff in das Recht auf Pietät «in keinem angemessenen Verhältnis zu dem öffentlichen Interesse stand, Daten über die Opfer des Krieges in diesem Jahrhundert und den Standpunkt der gegensätzlichen Teilnehmer zur Idee der nationalen Versöhnung zu erfahren.»17
[22]
Der Konflikt zwischen dem Recht der Meinungsäußerung und dem Schutz der Privatsphäre gehört zu den häufigsten Fällen, bei denen die Entscheidung vom Gewicht der Prinzipien, die in den gegensätzlichen Rechten enthalten sind, abhängt. Dieser Frage begegnet man oft auch in der (Verfassungs-)Gerichtspraxis. Die Entscheidung hängt davon ab, ob das Gewicht der beiden Rechte derartig ist, dass sie nebeneinander existieren können, oder es sich um zwei Rechte handelt, bei denen das Recht mit einem geringen Gewicht dem Recht mit einem verhältnismäßig wesentlich höheren Gewicht weichen muss.18
[23]
Zu den empfindlichsten Fällen gehören jene, die sich auf die Freiheit des künstlerischen Schaffens beziehen. In einem (z.B. literarischen) Kunstwerk kann sich eine Person wiedererkennen, ohne dass es sich dabei um einen Eingriff in die geschützte Privatsphäre handelte.19 Wenn der Künstler das Problem durchgewalkt und verallgemeinert hat, handelt es sich um die Freiheit des künstlerischen Schaffens, die nicht eingeengt werden darf.

4.

Relativität der Unterscheidung zwischen Rechtsnormen und Rechtsprinzipien ^

[24]
Aus den erwähnten Beispielen geht hervor, dass die Unterscheidung zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen relativ ist. Wenn ich Kants Gedanken20 paraphrasiere, kann ich sagen, dass Normen ohne Prinzipien ihre Richtung (sowie innere Substanz) verlieren und somit verknöchern würden, während Prinzipien ohne Normen ihre inhaltliche Vielfalt (sowie ihre Vorhersehbarkeit und Bedeutungsfestigkeit) verlieren und dadurch ermöglichen würden, dass rechtliches Entscheiden in Wahrheit prinzipienlos und willkürlich wäre. Im Kontext des Problems, das ich behandle, ist es wesentlich, dass man die obere und die untere Prämisse des syllogistischen Schließens so bestimmt klarstellt, dass man den Fall (die untere Prämisse) der Norm (die obere Prämisse) unterordnen und den Schluss, der die Entscheidung enthält, ableiten kann. Das gilt sowohl für Rechtsprinzipien, die man durch Rechtsnormen operationalisiert, als auch für gesetzliche Niederschriften der Rechtsnormen, die oft bedeutungsmäßig offen sind und/oder Definitionen enthalten, die Elemente der Prinzipien aufweisen (z.B. im Falle der Grundrechte).
[25]
Um noch genauer und deutlicher zu sein, es geht darum, dass die Operationalisierung der Rechtsprinzipien die ratio decidendi ist, die das Gericht erlangen soll, das erst anschließend im konkreten Fall entscheiden kann. Rechtsprinzipien leben durch Rechtsnormen, die die Entscheidungsgründe in konkreten Fällen sind. Neue Fälle sind lösbar durch eine neue Operationalisierung der Rechtsprinzipien oder durch Anwendung einer Einzelanalogie, wenn die neuen Fälle in ihren wesentlichen Merkmalen den bereits entschiedenen Fällen ähnlich sind.

Abb. 5

[26]
Die ratio decidendi hat dieselbe Rechtskraft wie die Gerichtsentscheidung, die die ratio decidendi beinhaltet.21 Aus der neueren Zeit soll als ein Beispiel der Operationalisierung die Entscheidung des Verfassungsgerichts angeführt werden, in der es sich über das Verhältnis (d.h. über das gegenseitige Gewicht) zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und dem Schutz der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte erklärte. Die Entscheidung enthält auch diesen Standpunkt:
[27]
«Im behandelten Fall waren für die Entscheidung des Gerichts zwei Umstände von wesentlicher Bedeutung, die das Abwägen zwischen den Verfassungsrechten, die kollidiert haben, stark zugunsten dem Meinungsäußerungsrecht kippten, und zwar: 1) es handelte sich um journalistische Berichterstattung über ein Thema, das von großer Bedeutung für die Öffentlichkeit war, und 2) der Kläger war ein öffentlicher Funktionär und deshalb war sein Verhalten einer strengeren Beurteilung in der Presse und Öffentlichkeit unterworfen.»22
[28]
Solche und ähnliche Entscheidungen sind Niederschriften der Elemente, die es erst ermöglichen, dass das Gericht entscheidet. Die Niederschrift der Elemente hat den Aufbau einer Rechtsnorm, die besagt, in welchen Tatbeständen die Freiheit der Meinungsäußerung Vorrang vor dem Schutz der Privatsphäre hat. Die Norm für die Entscheidung in der konkreten Sache behält ihre Gültigkeit, bis das zuständige Gericht sie ändert, ergänzt oder umgestaltet, wenn sich der neue Fall vom vorherigen unterscheidet.23 Wenn das Gericht anders handelte, wäre seine Entscheidung willkürlich.
[29]
Im Hinblick darauf, dass die ratio decidendi für die Rechtsinformation sehr wichtig ist, sollte sie daher auch bei den Rechtsdokumenten in einer eigenen Kategorie formal ausgewiesen sein, eventuell noch weiter aufgegliedert durch XML. Gerade weil die ratio decidendi zumeist inhaltlich deutlich strukturiert ist, bietet sich hier ein Experimentierfeld für semantische Anwendungen von XML in Verbindung mit Legal Ontologies an.

5.

Literatur ^

Alexy, Robert (1986): Theorie der Grundrechte. Frankfurt/Main 1986.

- (2000): On the Structure of Legal Principles, in: Ratio Juris, 13 (2000), S. 294-304.

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Kommentar 2011: siehe Šturm (Hrsg.) 2011.

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Marijan Pavčnik, Pravna fakulteta (Juristische Fakultät).

 

Friedrich Lachmayer, Universtität Innsbruck.

 


 

  1. 1 Rechtsprinzipien werden in Zusammenhang mit dem Verstehen von Rechtstexten im Allgemeinen und insbesondere vom Standpunkt einer verfassungskonformen Auslegung (des Gesetzes) behandelt. Einzelne Beispiele stammen größtenteils aus dem slowenischen Recht und der slowenischen Rechtspraxis.Marijan Pavčnik ist der Verfasser des Textes.Friedrich Lachmayer ist der Verfasser der Visualisierung.
  2. 2 Pavčnik 2004, S. 105.
  3. 3 Siehe Kranjc 1994, der über die Bedeutung der Rechtssprichwörter sagt, dass sie «das Wesen dessen, was man sonst nur auf eine umfangreichere und oft viel kompliziertere Weise ausdrücken könnte, kurz zusammenfassen. (...) Wahrscheinlich ist es nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die lateinischen Rechtssprichwörter eine charakteristische Zusammenfassung des echten Wesens der europäischen Rechtskultur bzw. deren Bemühung um einen klaren und genauen Ausdruck sind» (S. 5).
  4. 4 Dworkin 1978, S. 14 ff.
  5. 5 Siehe Alexy 1986, S. 71-157, und 2000, S. 294-304.
  6. 6 Dworkin 1978, S. 24.
  7. 7 Ibidem, S. 26.
  8. 8 Siehe Alexy 1986, S. 75-76: «Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, dass sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und dass das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. Der Bereich der rechtlichen Möglichkeiten wird durch gegenläufige Prinzipien und Regeln bestimmt.»
  9. 9 U-I-88/07 [OdlUS (Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Slovenia) XVIII, 1].
  10. 10 Siehe Boštjan M. Zupančič, in: Kommentar 2002, S. 214 ff., S. 223 ff.
  11. 11 U-I-18/93 (OdlUS V/1, 40).
  12. 12 U-I-411/06 (OdlUS XVII/2, 43)
  13. 13 U-I-310/96 (OdlUS VII/1, 24).
  14. 14 Siehe Art. 43 ff. des slowenischen Verfassungsgerichtsgesetzes.
  15. 15 U-I-60/06, U-I-214/06, U-I-228/06 (OdlUS XV/2, 84, S. 293).
  16. 16 BVerfGE 35, 202. Vgl. mit dem Kommentar von Koch, Rüßman 1982, S. 97 ff. und Alexy 1986, S. 84 ff.
  17. 17 Beschluss II Ips 428/96 des Obersten Gerichtshofes der Republik Slowenien, in: Zbirka odločb Vrhovnega sodišče RS – civilni oddelek (Sammlung der gerichtlichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes der Republik Slowenien – Abteilung für Privatrecht). Ljubljana 1999, S. 129 ff.
  18. 18 In der «Rauchersache»[U-I-218/07 (OdlUS XVIII, 12)] entschied z. B. das Verfassungsgericht wohlbegründet, dass das Verbot des Rauchens in geschlossenen und öffentlichen Räumlichkeiten «ein Eingriff in die allgemeine Freiheit des Verhaltens (Art. 35 VRS) ist». Ungeachtet dessen geht es um keinen unzulässigen Eingriff, weil man «nur auf diese Weise wirkungsvoll das vom Gesetzgeber verfolgte verfassungsmäßig zulässige Ziel erreichen kann, das ist der Schutz von Angestellten und allen Personen vor den schädlichen Auswirkungen des Passivrauchens und des Tabakqualms aus der Umwelt.» – Wenn es sich um einen Konflikt von zwei (Grund)rechten handelt, ist es unvermeidlich, dass man sie gegeneinander bewertet. Der Abwägungstest soll «jene verfassungsrechtlichen entscheidenden Umstände» klären, «die die Waage zugunsten des einen oder des anderen subjektiven Rechts gekippt haben. Sonst wird einem der kollidierenden Rechte eine absolute Wirkung zugeschrieben» (Up-444/09 des Verfassungsgerichts der Republik Slowenien). Die Hauptsache ist es, dass der Abwägungstest gemacht wurde und dass gemäß seinem Ergebnis eine entsprechende Entscheidung getroffen wurde.
  19. 19 Vgl. Up-422/02 (OdlUS XIV/1, 36): «Bei der Suche nach der Antwort, wie weit die Freiheit des künstlerischen Schaffens (als ein besonderer Ausdruck der Meinungsäußerungsfreiheit) reicht bzw. wo sich die Grenze zwischen diesem subjektiven Verfassungsrecht und den verfassungsgeschützten Persönlichkeitsrechten, zu denen auch der Schutz der Ehre und des guten Rufes gehört, befindet, muss man zweifellos auch die Besonderheiten des künstlerischen Schaffens berücksichtigen. Das Wesen des künstlerischen Schaffens ist ein freies schöpferisches Gestalten, in dem sich die Eindrücke, die Erfahrungen und die Erlebnisse des Künstlers widerspiegeln, die der Künstler über eine bestimmte künstlerische Form dem Publikum übermittelt. Für die Literaturkunst ist es wesentlich, dass dem Künstler eine freie Wahl des Themas und zugleich eine freie Behandlung des gewählten Themas gewährleistet werden.»
  20. 20 Siehe Kant 1990: «Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.» (S. 98; B 74, 75)
  21. 21 Siehe die entsprechenden Stellen in MacCormick, Summers (Hrsg.) 1997. Die ratio decidendi kann man als spezifische Transformation bezeichnen. Siehe Peczenik 1983, S. 55 ff. und Kirste 2008, S. 134 ff.
  22. 22 Up-2940/07 (OdlUS XVIII, 62).
  23. 23 Siehe Pavčnik 2004, S. 169 ff.