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Das Organisationsmodell im Anwendungsmodell: Zauber und Herausforderung des Einsatzes von Web 2.0 Anwendungen in der öffentlichen Verwaltung

  • Authors: Maika Büschenfeldt / Margit Scholl
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Government, Open Government
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Maika Büschenfeldt / Margit Scholl, Das Organisationsmodell im Anwendungsmodell: Zauber und Herausforderung des Einsatzes von Web 2.0 Anwendungen in der öffentlichen Verwaltung, in: Jusletter IT 20 February 2013
Software erfüllt über das implementierte Organisationsmodell eine Steuerungs-funktion. Das Organisationsmodell ist im Software-Anwendungsmodell verborgen. Der Zauber und der Grund für die starke Resonanz der Social Media bzw. Web 2.0 Anwendungen liegt in ihrem zurückhaltenden Koordinationsmodell und in ihrer Offenheit begründet. Diese Zurückhaltung und Offenheit ist gleichsam Chance und Herausforderung für ihren Einsatz in der öffentlichen Verwaltung.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Anwendungsmodell und Organisationsstruktur
  • 3. Organisationsmodelle
  • 4. Das Organisationsmodell im Anwendungsmodell: Vom Zauber des Web 2.0
  • 5. Fallbeispiel: Twitter
  • 6. Potenzial und Herausforderung von Social Media in der öffentlichen Verwaltung
  • 7. Literatur

1.

Einführung ^

[1]
Werden Softwaresysteme in der öffentlichen Verwaltung eingesetzt, so sind diese nicht nur die neutrale Repräsentation der umgebenden Organisationsstrukturen, sondern auch ein wirksames Instrument der Verhaltenssteuerung. Der amerikanische Rechtsgelehrte Lawrence Lessig hat diesen Zusammenhang mit seiner These «Code is law» untermauert und darauf hingewiesen, dass der Code ähnlich wirksam wird wie Recht, Markt oder soziale Normen (Lessig 2001). Softwaresysteme können deshalb nicht nur eingesetzt werden, um bestehende Verfahren und Prozesse effizienter zu machen, sondern sie können auch eingesetzt werden, um neue Formen der Kommunikation und des Verwaltungshandelns zu erschließen und zu befördern. Software erfüllt in diesem Sinne eine Steuerungsfunktion. Software wirkt jedoch nicht nur auf die Umwelt ein, sondern wird ihrerseits von den Organisationsparadigmen der umgebenden Umwelt in ihrer Gestaltung beeinflusst.
[2]
Die hier angesprochene Wechselwirkung zwischen der Steuerungswirkung von Software und den Organisationsparadigmen der Umwelt wird im Anwendungsmodell von Software greifbar. Wir betrachten das Anwendungsmodell in der Tradition des soziotechnischen Ansatzes als Schnittstelle zwischen sozialem Kontext und der eingesetzten Software. Wir möchten in unserem Beitrag einen Ansatz der Analyse von Anwendungs- und Nutzungsmodellen vorstellen und mittels dieses Ansatzes aufzeigen, wo die Besonderheiten, das Potenzial aber auch die Herausforderungen von Social Media im Einsatzkontext der öffentlichen Verwaltung liegen. Dazu betrachten wir die Koordinationsmodelle, die sich im Anwendungsmodell von Software verbergen. In Anlehnung an Helmut Willkes systemtheoretischen Ansatz der Kontextsteuerung bildet die idealtypische Gegenüberstellung von Hierarchie und Heterarchie den Bezugspunkt.

2.

Anwendungsmodell und Organisationsstruktur ^

[3]
Das Anwendungsmodell gilt als Repräsentation bzw. als «idealisierte oder konkrete Darstellung» eines Gegenstandsbereichs. Es ist der Ausgangspunkt des formalen Modells und des eigentlichen Programms (Floyd und Klischewski 1998). Weil das Anwendungsmodell die Schnittstelle zwischen der Anwendung und dem Anwendungskontext bildet, kann über die Analyse des Anwendungsmodells rekonstruiert werden, in welcher Weise Software verhaltenssteuernd in den sozialen Kontext eingreift oder inwieweit sich die sozialen Strukturen des sozialen Kontextes im Anwendungsmodell wiederspiegeln.
[4]
Die in den Anwendungsmodellen eingeschriebenen Strukturen der Handlungskoordination entstehen entweder zufällig oder werden bewusst «gemacht». Crozier und Friedberg sprechen im ersten Fall von organisiertem Verhalten, das immer dann entsteht, wenn sich im Zusammenleben der Menschen eine «ungeplante» Ordnung koordinierten Verhaltens herausbildet (Crozier und Friedberg 1979:39 ff.). Im Unterschied dazu, ist die Organisation das Ergebnis bewusster Entscheidung und Planung. Ihr besonderes Kennzeichen ist die ideelle Entkopplung von Person und Aktion (Weick 1998:53, Simon 2007). Das klassische Koordinationsmodell der Organisation folgt dem Maschinenmodell und setzt auf die Effizienz der zielgerichteten und geplanten Handlungskoordination. Es findet sich in Frederik W. Taylors Idee des Scientific Managements ebenso wieder, wie in den modernen Bürokratien, die Max Weber als maschinenhafte Gebilde beschrieben hat, die auf logisch-deduktiven Regeln mit dem Zweck aufbauen, den Aufwand der Kommunikation und der praktischen Arbeit im Verwaltungen auf ein handhabbares Maß zu reduzieren (Weber 1976).
[5]
Übertragen wir nun diese Ansätze und Besonderheiten der Koordinationsform Organisation auf die Entwicklung von Software, so lässt sich sagen, dass sowohl die formalen Organisationsstrukturen als auch die Anwendungsmodelle von Software auf diesem Prinzip der Trennung von Person und Aktion beruhen. Auf diese Weise bestimmen Softwaresysteme ähnlich wie die Aufbaustrukturen und definierten Prozesse der umgebenden Organisation was Menschen tun, wer oder was eingebunden wird und wer oder was ausgeschlossen bleibt, wie Kommunikationswege und Handlungsfolgen verlaufen, welche Informationen verfügbar sind und welche vorenthalten werden. Softwaresysteme wirken daher ähnlich wie die formalen Strukturen der Organisation. Sie sind nicht nur ein modellierter Wirklichkeitsausschnitt, sondern greifen aktiv in soziale Handlungsräume ein und können das individuelle Handeln begrenzen oder erzwingen.

3.

Organisationsmodelle ^

[6]
Es lässt sich zunächst festhalten, dass formale Organisationstrukturen das Handeln koordinieren und steuern. In der der klassischen Organisation ist die Handlungskoordination traditionell durch eine vertikale Aufbaustruktur mit klaren Abgrenzungen und formalen Regelsystemen gekennzeichnet. Der Steuerungstheoretiker Hellmut Willke kennzeichnet dieses Koordinationsprinzip als Hierarchie, die er als ein «Modell der ungleichrangigen, fremdbestimmten und zentralisierten Koordination» beschreibt. Die Koordination der Handlungen lässt sich jedoch auf unterschiedliche Art und Weise realisieren. So lässt sich der Hierarchie ein idealtypisches Gegenkonzept entgegenstellen: Helmut Willke bezeichnet dieses Gegenkonzept als Demokratie, die sich im Unterschied zur hierarchischen Steuerungsform als «gleichrangige, selbstorganisierte und dezentrale Koordination» präsentiert (Willke 1998:89 f.). In der Organisationstheorie wird diese Form der Handlungskoordination auch als Heterarchie bezeichnet.
[7]
Die besonderen Merkmale beider Koordinationsmodelle lassen sich über Willkes Definition hinaus entlang der Systemdimensionen der Grenzziehung, der Organisationsstruktur und des Strukturwandels präzisieren und erweitern:
[8]
  • Die Grenzziehung definiert die Abgrenzungsmechanismen einer Koordinationsform. Im Ergebnis wird über die Grenzziehung definiert, ob ein System als abgeschlossen oder als offen zu bezeichnen ist.
  • Die Organisationsstruktur steht für die Art der Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems und dem Kopplungsgrad der Prozesse. In ihrem Aufbau kann die Beziehung der Elemente durch Über- und Unterordnung gekennzeichnet sein oder durch die Organisation gleich rangiger und vollständig miteinander verknüpfter Elemente in einem Netzwerk. Der Kopplungsgrad gibt Hinweis darauf, wie stark die Abfolge von Aktivitäten (Prozesse) durch Vorgaben und Festlegungen reglementiert ist bzw. wie groß oder wie gering die Spielräume für Abweichungen sind.
  • Der Aspekt des Strukturwandels bezieht sich auf die Fähigkeit eines Systems, eher Stabilität oder Flexibilität und Innovation zu ermöglichen.
[9]

In Erweiterung der von Helmut Willkes vorgeschlagenen Definition von Hierarchie und Demokratie möchten wir in den weiteren Überlegungen von einem hierarchischen Steuerungsmodell sprechen, wenn das leitende Koordinationsmodell durch klare Grenzziehungen, Zentralität, Ungleichrangigkeit, Fremdsteuerung und einem hoher Kopplungsgrad der Prozesse gekennzeichnet ist. Im Unterschied dazu zeichnet sich das heterarchische Steuerungsmodell durch seine Zurückhaltung aus. Seine Merkmale sind Offenheit, Dezentralität, Gleichrangigkeit, Selbststeuerung und ein geringer Kopplungsgrad (lose Kopplung) der Prozesse.

4.

Das Organisationsmodell im Anwendungsmodell: Vom Zauber des Web 2.0 ^

[10]
Wir gehen davon aus, dass sich die Merkmale der oben angesprochenen Koordinationsmodelle in den Anwendungsmodellen von Software identifizieren lassen. Die Zuordnung und Identifikation unterschiedlicher Softwaretypen erfolgt entlang der oben genannten Systemdimensionen der Grenzbildung, der Struktur und des Strukturwandels1. Wir unterscheiden drei Indikatorentypen, die Rückschlüsse auf das leitende Koordinationsmodell im Anwendungsmodell zulassen (vgl. Scholl und Büschenfeldt 2012):
[11]
  • Grenzindikatoren regeln, was in einem System eingeschlossen ist und was ausgeschlossen bleibt.
  • Strukturindikatoren beziehen sich auf den strukturellen Aufbau und auf die Prozesse. Der Kopplungsgrad gibt Auskunft über Entscheidungsspielräume und steht in engem Zusammen hang mit dem Grad der Kommunikation.
  • Revisionsindikatoren beziehen sich auf die Anpassungsfähigkeit oder Beständigkeit eines Systems.
[12]
Innerhalb der Pole zwischen Offenheit und Geschlossenheit, zwischen Gleich- und Ungleichrangigkeit, zwischen fester und loser Kopplung sowie zwischen Stabilität und Flexibilität lassen sich die unterschiedliche Softwaretypen klassifizieren und einordnen. Analog zu den idealtypischen Organisationsmodellen der Hierarchie und Heterarchie unterscheiden wir ebenfalls zwei idealtypische Anwendungsmodelle: Monolithische Anwendungsmodelle und offen, vernetzte Anwendungsmodelle (s. Tab. 1).

Tab. 1: Gegenüberstellung der beiden, idealtypischen Anwendungsmodellen von Software

[13]
Monolithische Anwendungsmodelle zeichnen sich durch ihre klare Abgrenzung nach außen ab. Interaktionsmuster werden in fester Kopplung realisiert. Anwendungen dieses Typs folgen dem Anspruch, formalisierte, von konkreten Personen entkoppelte Handlungsabläufe in Software zu implementieren. Das leitende Koordinationsmodell ersetzt Kommunikation durch formalisierte Handlungsvorgaben (Fremdsteuerung durch Software). Es ist eine in diesem Sinne aktive Software, die den Nutzerinnen vergleichsweise geringe Handlungsspielräume gewährt (Büschenfeldt 2011:121).
[14]
Offene und vernetzte Anwendungsmodelle zeichnen sich zum einen durch ihre Offenheit aus. Offenheit steht für Entgrenzung, d. h. für eine Vernetzung von Menschen und Inhalten, die über die Grenzen von Organisationen, Abteilungen und Zuständigkeiten etc. hinausreichen. Offene und vernetzte Anwendungsmodelle stehen zum anderen für eine zurückhaltende Handlungskoordination. Koordinierende Aktivitäten werden an die Nutzer und Nutzerinnen delegiert. Die Handlungskoordination wird nicht durch die Software geregelt, sondern ist selbstorganisiert (Selbststeuerung durch die Nutzer). An die Stelle formaler Regeln tritt die Kommunikation, wobei sich die Software auf ihre Funktion als Medium beschränkt, d. h. als Mittel, das die vernetzte und entgrenzte Kommunikation erst möglich macht, nicht aber die Verfahren und Strukturen vorwegnimmt. Das Verhältnis von Aktivität und Passivität verschiebt sich von der Anwendung zu den Nutzern.
[15]

Social Media (bzw. Web 2.0) Anwendungen lassen sich deutlich dem zweiten Idealtypus zuordnen. Ihren Zauber und ihren Erfolg sehen wir in ihrem zurückhaltenden Koordinationsmodell und ihrer Offenheit. Interessanterweise ist auch die technische Ebene unterhalb der Anwendungsebene durch ein zurückhaltendes Koordinationsmodell bestimmt. Dass auch hier die Prinzipien der Offenheit und Vernetzung wirksam werden, zeigt sich unter anderem in den Web Services. Die Idee ist einfach: Komplexe Anwendungen werden nicht zentralisiert auf einem Server ausgeführt, sondern setzen sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, die über das Internet verteilt sein können. Die Kommunikation zwischen den Komponenten erfolgt über klar definierte Schnittstellen (API)2, die auf Abruf in eine Anwendung eingebunden werden können (Schwenk 2010:216). Webservices lassen sich somit als vernetzte Maschine-zu-Maschine-Kommunikation begreifen, die in der Regel automatisiert ablaufen und deren gemeinsame Sprache auf offenen und herstellerunabhängigen Standards beruht (Zeppenfeld und Finger 2009:38). Webservices unterscheiden sich damit grundlegend vom Paradigma der monolithischen Software-Architekturen, die alle funktionalen Elemente zu einem homogenen, klar abgrenzbaren Gebilde zusammenfügt.

[16]
Der Webpionier Tim O’Reilly beschreibt in seinem Aufsatz «What is Web 2.0?» die wesentlichen Merkmale der modernen Webservices. Dazu gehören u.a. die Bedeutung der Daten, die den eigentlichen Wert der Dienste darstellen, leichtgewichtige Programmiermodelle und lose gekoppelte Systeme, die ihre Daten über einfache Technologien austauschen (O’Reilly 2005). Für die «Innovation durch Zusammenbau» ist die Bereitschaft Voraussetzung, auf die Kontrolle der eigenen Daten zu verzichten. Der Grundsatz lautet: «Kooperiere ohne zu koordinieren» (O’Reilly 2005). In dieser Argumentation werden Offenheit, Vernetzung und Kontrollverzicht zu den zentralen Werten dieses Paradigmenwechsels, der technisch die Grundlage für den freien Austausch von Daten und Funktionen ermöglicht (Büschenfeldt, 2011:135ff). Offenheit steht hier sowohl auf der technischen als auch auf der sozialen Ebene für ein Koordinationsmodell offener, gleichrangiger und dezentraler Vernetzung unter Verzicht auf Kontrolle bzw. unter gemeinsamer Kontrolle nach dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens.

5.

Fallbeispiel: Twitter ^

3

[17]
Die Prinzipien der Offenheit, gleichrangiger Vernetzung und loser Kopplung lassen sich in fast allen Anwendungsmodellen des Web2.0 identifizieren. Wie diese Prinzipien in einer Anwendung umgesetzt werden, lässt sich am Fallbeispiel Twitter eindrucksvoll aufzeigen:
[18]

Der Dienst Twitter startete im März 2006 als Nebenprojekt einer Podcastfirma aus San Francisco. Twitter ist ein ebenso einfacher, wie auch erfolgreicher Dienst. Nach ca. 4 Jahren verzeichnete dieser Dienst bereits mehr als 10 Millionen Nutzer, im Dezember 2012 wurden 200 Millionen aktive Nutzer gemeldet.4 Twitter ist ein Microbloggingdienst, der eine besondere Form des Bloggens im Textformat einer SMS erlaubt. Micro steht für die Kürze der Nachricht, die bei Twitter als Tweet bezeichnet wird und maximal 200 Zeichen umfasst. Der Wortteil Blogging steht für die chronologische Darstellung der Tweets. Die besonderen Merkmale der Microblogging lassen sich in wenigen Punkten zusammenfassen. Sie sind extrem einfach, extrem niedrigschwellig in der Nutzung, und extrem schnell in der Verbreitung von Nachrichten.

[19]

Das zurückhaltende Koordinationsmodell zeigt sich bei Twitter in seinem konsequenten Minimalismus, der sich im Wesentlichen darauf gründet, dass Twitter mit dem Versenden und Empfangen von Tweets im Kern auf eine Hauptfunktion beschränkt bleibt. Da über Twitter mehrere hundert Millionen Tweets pro Tag versendet werden, bietet Twitter eine sehr einfache Filterfunktion an, die auf dem Konzept der Following beruht. Following bedeutet, das die Nutzer von sehr vielen öffentlichen Tweets, nur die Beiträge jener Teilnehmer sehen können, denen sie ausdrücklich folgen. Diese Grundfunktion wird durch die Verwendung des Hash- (#) und des @-Zeichens im Eingabefeld auf einfache, aber sehr wirksame Weise ergänzt. So lassen sich Tweets durch die Kennzeichnung eines Wortes per Hashtag(#) verschlagworten und auf diese Weise thematisch bündeln und verfolgen. Durch die Adressierung bestimmter Nutzer durch das @-Zeichen werden Dialoge zwischen den Teilnehmern möglich. Die wichtigste, und ebenso einfach umgesetzte, Innovation Twitters liegt jedoch in den Re-Tweets. Über Re-Tweets leiten die Twitter-Nutzer interessante Tweets an ihre Follower weiter, sodaß sich Nachrichten im Schneeballsystem extrem schnell verbreiten. Die Notwasserung eines Airbus im Hudson River wurde 2009 zu dem Ereignis, dass Twitter als Nachrichtendienst ins Gespräch brachte, der wesentlich schneller ist, als alle bislang bekannten Wege der Nachrichtenverbreitung.5 Seiner sehr begrenzten Funktionalität zum Trotze erwies sich Twitter bislang als ideales Medium, um aktuelle Meldungen zu verbreiten und sichtbar zu machen. Die Mitteilungen und Konversationen über Twitter sind zumeist alltäglich und persönlich, können aber auch zum Werkzeug politischer Bewegungen und der Interessensorganisation werden. Als zurückhaltende Anwendung schreibt Twitter seinen Nutzern nicht vor, wozu sie es benutzen, für den Austausch von Belanglosigkeiten, als Nachrichtenmedium oder als Revolutionswerkzeug. Was jedoch erstaunt ist, dass Twitter in seinem Anwendungsmodell extrem einfach und dennoch – oder gerade deshalb - sozial extrem wirksam ist und inzwischen auch von Politikern fleißig genutzt wird Als sehr schneller Nachrichtendienst wird Twitter immer mehr zum Anlaufpunkt traditioneller Massenmedien und dient selbst renommierten Medien wie der BBC als Informationsquelle, weil sich dort Hinweise auf aktuelle Ereignisse zumeist schneller finden lassen als bei redaktionell bearbeiteten Medien. Durch seine APIs ist Twitter darüber hinaus selbst Teil vieler Mashups geworden, welche die Daten und Funktionalität von Twitter mit anderen Diensten kombinieren.

6.

Potenzial und Herausforderung von Social Media in der öffentlichen Verwaltung ^

[20]

Der Webpionier Tim O’Reilly sieht im Kontrollverzicht und in der freien Verfügbarkeit von Daten und Funktionalität nicht nur ein wesentliches Merkmal des Web 2.0, sondern auch die Voraussetzung für die Innovation durch Zusammenbau. Die beschriebenen Mechanismen der Offenheit, der losen Kopplung und Vernetzung erschließen über den Weg verteilter Daten und Funktionalitäten neue Potenziale der Softwareinnovationen. O’Reilly bezeichnet dieses als «The Right to Remix». Unter der Bezeichnung «Mashup» konnte auf diese Weise eine ganze Landschaft unterschiedlicher Anwendungen erblühen, die ihren Mehrwert überwiegend durch importierte Inhalte schaffen, dabei durch die Kombination vieler Dienste reicher werden und dennoch einfach bleiben (O’Reilly 2005, Koch und Richter 2009). Dieser Ansatz, insbesondere der offene Umgang mit Daten, wird inzwischen auch im Zuge des Open Government thematisiert. Open Government, Open Data und Open Government Data werden zumeist in einem Atemzug mit den technischen Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Kooperation genannt. Interoperabilität und Web 2.0 Technologien sollen dazu beitragen, das sich das Regierungs- und Verwaltungshandeln in Richtung «Transparenz 2.0», «Partizipation 2.0» und «Kollaboration 2.0» weiterentwickelt. Open Government wird in diesem Sinne auch zu einem Ziel der IT Strategie (vgl. dazu Klessmann u.a., 2012).6

[21]
Auf der Ebene der Aufbaustruktur und Prozesse entfaltet sich das Potenzial der des Kontrollverzichts in der Vernetzung offener Daten im Sinne von «Linked Open Data» (LOD). Das erschließt die Möglichkeit, Daten über Domänen und Organisationsgrenzen hinweg zu nutzen und miteinander zu verknüpfen. Offenheit und gleichrangige Vernetzung werden einerseits auf der technischen Ebene und andererseits über den freien Zugang zu den Daten wirksam. Sie bestimmen, vermittelt durch das Anwendungsmodell der Webanwendungen, z.B. die Arbeitsweise der Communities und führen dort zu jenen Erscheinungen, die unter dem Begriff Social Media bzw. Web 2.0 gerühmt werden. Dazu zählen beispielsweise Phänomene wie die Demokratisierung der Medieninhalte durch user-generated Content, die Entfaltung kollektiver Intelligenz oder das Crowdsourcing. Dies wird erst deshalb möglich, weil innovative Webanwendungen ihren Nutzern gerade in ihrer Zurückhaltung genau jene Freiheiten einräumen, die notwendig sind, um sich zu vernetzen, innovative Lösungen zu finden und neue Wege zu beschreiten. Dies zeigt sich nicht nur in Freundschaftsnetzwerken oder im Austausch von Belanglosigkeiten, sondern auch in der ernsthaften und fruchtbaren Entwicklung von Produkten und Wissensressourcen. Jüngere Forschungsarbeiten wie beispielsweise die empirischen Untersuchungen des MIT-Forschers Eric van Hippel bestätigen dies. Seine Untersuchungen identifizieren ausgerechnet in der vermeintlich passiven Nutzergemeinschaft einen neuen Innovatorentypus. Die sozialen Gebilde, die es möglich machen, dass die «Entwicklung, Verbreitung und zum Teil auch die Produktion von Innovationen durch Anwender, für Anwender» erfolgen kann, bezeichnet van Hippel als Anwender-Innovationsnetzwerke. Sie schmälern die Bedeutung der Warenproduzenten, die bislang als Träger der Innovation galten (Hippel 2005) und könnten auch der Verwaltung im Zuge ihrer Öffnung innovative Impulse liefern.
[22]
Was auf der einen Seite als großes Potenzial des Open Government erscheint ist gleichsam auch eine große Herausforderung. Das gilt umso mehr, weil die öffentliche Verwaltung in ihren traditionellen Organisationsprinzipien das Gegenmodell der für die Anwendungen und Praktiken des Web 2.0 typischen heterarchischen Organisationsprinzips darstellt. Der Einsatz von Social Media bzw, Web 2.0 Anwendungen erfordert ein radikales Umdenken und schließt den Verzicht auf hierarchische Kontrolle ein. Öffnung, Transparenz und Kontrollverzicht sind ferner nicht frei von Zielkonflikten und Interessensgegensätzen.
[23]
Gerade in Verbindung mit den vielfältigen Möglichkeiten des vernetzten Austauschs durch die neuen Kommunikationstechnologien und dem Faktum, dass Daten überwiegend abgeschottet und in ihren Nutzungsrechten eingeschränkt sind, scheint die eigentliche Ironie zu liegen. John Willbanks, der Executive Director der Science Commens bringt es mit Bezug auf die Wissenschaft auf den Punkt:
[24]
«Numerous scientists have pointed out the irony that right at the historical moment when we have the technologies to permit worldwide availability and distributed process of scientific data, broadening collaboration and accelerating the pace and depth of discovery […] we are busy locking up that data and preventing the use of correspondingly advanced technologies on knowledge.»7
[25]
Wilbanks macht in diesem Statement deutlich, dass die neuen Technologien erst die Möglichkeit kooperativer Wissensgenerierung eröffnen, während gleichzeitig sehr viel Mühe aufgewandt wird, um Daten abzuschotten und geheim zu halten. Hinweis auf die Brisanz von Open Data liegt auch in der erheblichen Bedeutungszunahme des Wissens als wichtigste Ressource und als «Produktionsfaktor» in Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung. Wissen steht in Begriff, die klassischen Produktivkräfte wie Arbeit, Boden und Kapital in ihrer ökonomischen Bedeutung zu überflügeln (Willke, 2001). Dies zeigt sich insbesondere in der heftigen und vom politischen Lobbyismus geprägten Debatte um geistiges Eigentum, die explizit im Streit um die Neufassung des Urheber- und Patentrechts vor dem Hintergrund der neuen Technologien geführt wird (Büschenfeldt, 2011:150). Bei der Bereitstellung von Daten aus Regierung und Verwaltung kommt hinzu, dass auch die Zielkonflikte beachtet werden müssen. Zu diesen Zielkonflikten zählen unter anderem das öffentliche Interesse an Transparenz und Informationsfreiheit und den Anforderungen des Datenschutzes oder dem Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (Lucke und Geiger, 2010:6).
[26]
Wir gehen davon aus, dass offene Standards und verteilte Anwendungen auch als Grundlage einer «verteilten Wissensarbeit» wirksam werden (Büschenfeld und Scholl, 2013). Verteilte Wissensarbeit fassen wir als substantielle Grundlage zur Beherrschung der Komplexität zukünftiger Herausforderungen und zur Schaffung von Innovationen und Mehrwert. Open Government wird auch zu Veränderungen in der Wissensarbeit innerhalb der öffentlichen Verwaltung führen müssen, um «verteilte Wissensarbeit» mit verwaltungsexternen Akteuren über Web 2.0–Tools zu fördern, so dass gleichrangige Partizipation und offene Transparenz in einer dialogischen Kommunikationsstruktur überhaupt resultieren können.

7.

Literatur ^

Büschenfeldt, Maika, Die Zukunft elektronischer Demokratie: Die Bedeutung des demokratischen Prinzips in softwaretechnischen Konzepten und der elektronischen Demokratie als Anwendungsdomäne der Softwareentwicklung, Dissertation, Bremen, (2011)

Büschenfeldt, Maika, und Margit Scholl, Offene Standards und verteilte Anwendungen als Grundlage «verteilter Wissensarbeit» (auch) im Open Government, Wiss. Beiträge der TH Wildau, 2013, in Druck.

Crozier, Michel, Friedberg, Erhard, Macht und Organisation: Die Zwänge kollektiven Handelns, Athenäum-Verlag, (1979).

Floyd, Christiane, Ralf Klischewski, Modellierung - ein Handgriff zur Wirklichkeit. Zur sozialen Konstruktion und Wirksamkeit von Informatik-Modellen; in: Pohl, K.; A. Schörr; G. Vossen (Hrsg.): Modellierung 98 - Proceedings. Universität Münster; Bericht 6/98-I (März 1998), S. 21-26, (1998).

Hippel, Eric von, Anwender-Innovationsnetzwerke - Hersteller entbehrlich; in: Lutterbeck, Bernd; Robert A. Gehring; Matthias Bärwolff (Hrsg.): Open Source Jahrbuch; Lehmanns Media; Berlin; S.450-461, (2005).

Klessmann, Jens, Philipp Denker, Ina Schieferdecker, Sönke E. Schulz, Open Government Data Deutschland - Kurzfassung der Studie zu Open Government in Deutschland im Auftrag des Bundesministerium des Innern (BMI), Berlin, PDF (2012).

Lessig, Lawrence, Code und andere Gesetze des Cyberspace, Berlin Verlag, Berlin (2001), Originalausgabe New York (1999).

Lucke, Jörn van, Geiger, Christian, Open Government Data - Frei verfügbare Daten des öffentlichen Sektors, Gutachten für die Deutsche Telekom AG zur T-City Friedrichshafen, Version vom 03.12.2010, Zeppelin Universität, (2010):.

OReilly, Tim, Sarah Milstein Das Twitter-Buch, O’Reilly Verlag, Köln, (2010).

Simon, Fritz B., Einführung in die systemische Organisationstheorie, Carl Auer Verlag, Heidelberg, (2007).

Scholl, Margit, Büschenfeldt, Maika, Anforderungs-Assessment in der öffentlichen Verwaltung Deutschlands. In: Schweighofer, E., u.a. (Hrsg.), Transformation juristischer Sprachen, Tagungsband des 15. Internationalen Rechtsinformatik Symposions (IRIS 2012), 23.-25. Februar 2012, Universität Salzburg. books@org.at, Band 278. Österreichische Computer Gesellschaft, Wien, ISBN 978-3-85403-278-6, (2012).

Schwenk, Jörg, Sicherheit und Kryptographie im Internet; Vieweg+Teubner; Wiesbaden; http://www.springerlink.de/content/u259374530106m05/ (2010) (abgerufen am 5. Jan. 2011).

Tapscott, Don, Anthony D Williams, Wikinomics - Die Revolution im Netz; Carl Hanser Verlag; München (2007).

Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen, (1976).

Weick, Karl, Der Prozess des Organisierens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (1998).

Willke, Helmut, Systemtheorie III.: Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme, Lucius & Lucius, Stuttgart, (1998).

Willke, Helmut, Systemisches Wissensmanagement, 2.Aufl., Stuttgart. (2001).

Zeppenfeld, Klaus, Finger, Patrick, Service-orientierte Architektur mit WebService, in: SOA und WebServices, Informatik im Fokus; Springer; Berlin Heidelberg; S. 69-86 http://dx.doi.org/10.1007/978-3-540-76991-0_4, (2009).

 


Maika Büschenfeldt, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Fachbereich 1 Wirtschaftswissenschaften/ Wirtschaftsinformatik.

 

Margit Scholl, Professorin, Technische Hochschule Wildau, Fachbereich Wirtschaft, Verwaltung und Recht, Wirtschafts- und Verwaltungsinformatik.


 

  1. 1 Vgl. dazu auch Willkes Unterscheidung in die Systemdimensionen der Grenzbildung, Ressourcen, Systembildung und Revision (Willke 1996b:206 ff.).
  2. 2 Application Programming Interface.
  3. 3 http://www.twitter.com.
  4. 4 http://www.heise.de/newsticker/meldung/Twitter-200-Millionen-aktive-Nutzer-1771632.html.
  5. 5 „‟, Spiegel Online, 16.01.2009.
  6. 6 Presseerklärung des BMI am 1.8.2012: Die Studie wurde vom Fraunhofer-Institut für Offene Kommu ni kationssysteme FOKUS erstellt, unterstützt durch das Lorenz-von-Stein-Institut für Verwaltungswissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der ÖPP Deutschland AG, abgerufen am: 16.9.2012.
  7. 7 Zitiert nach Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Open_Data, abgerufen am 12.10.2010.