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Infrastruktur als notwendige Voraussetzung für elektronische Bürgerbeteiligung – Der Baden-Württembergische Ansatz

  • Authors: Niombo Lomba / Robert Müller-Török
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Niombo Lomba / Robert Müller-Török, Infrastruktur als notwendige Voraussetzung für elektronische Bürgerbeteiligung – Der Baden-Württembergische Ansatz, in: Jusletter IT 20 February 2013
Der Zivilgesellschaft mangelt es oft an notwendigen Ressourcen, um politisch wirksam aktiv zu werden. Gerade zum Thema Bürgerbeteiligung sieht man derzeit auf Europäischer Ebene, dass die Europäische Kommission «zurückrudert» und entgegen den Vorgaben der Verordnung über die Europäische Bürgerinitiative eine elektronische Plattform zur Sammlung von Unterstützungserklärungen unentgeltlich zur Verfügung stellt. Die Landesregierung von Baden-Württemberg beabsichtigt ein Beteiligungsportal zu schaffen, welche den Bürgern und Bürgerinnen die Möglichkeit gibt sich über Beteiligung zu informieren und mitzumachen und zugleich der Landesverwaltung helfen soll, Online-Beteiligungen durchzuführen. Der Beitrag stellt die Konzeption dieses Portals vor, vergleicht diese mit Erfahrungen anderer Plattformen und Initiativen und ermöglicht eine Diskussion dieses Vorgehens.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Angebotene Funktionalitäten des Beteiligungsportals
  • 2.1. «Informieren»
  • 2.2. «Kommentieren» (Konsultation)
  • 2.3. «Mitmachen» bzw. Bürgerdialog (Kooperation)
  • 2.4. Aktives Einbringen der Bürger und Bürgerinnen
  • 3. Technische Umsetzung und Ressourcen
  • 3.1. Systemarchitektur und zur Verfügung gestellte Ressourcen
  • 3.2. Identity Management
  • 3.3. Projektmanagement / Zeitplan
  • 4. Mögliche Effekte und Ausblick

1.

Einleitung ^

[1]
Der in 2011 erfolgte Regierungswechsel in Baden-Württemberg ist, selbstverständlich nicht ausschließlich, aber auch durch die Ereignisse um das Projekt «Stuttgart 21» bewirkt worden. So ist es nicht verwunderlich, dass Bürgerbeteiligung in diesem Bundesland einen hohen Stellenwert hat und auch mit einem eigens hierfür neu eingeführten zuständigen Regierungsmitglied, der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, in der Landesregierung vertreten ist.
[2]

Bereits die ersten Überlegungen, wie denn die Bürgerbeteiligung nun in der Praxis umzusetzen wäre, führten zur Erkenntnis, dass es wenig Sinn macht, viele individuelle Lösungen zu haben. Die Erfahrungen der letzten 10 - 15 Jahre mit Webseiten zeigen, dass bei 16 Bundesländern, hunderten Ministerien, hunderten Landkreisen und zigtausend Kommunen in Deutschland kaum zwei Webseiten auch nur annähernd identisch aussehen. Die Webseiten stellen, v.a. auf regionaler Ebene, inhaltlich eine Art «Gemischtwarenladen mit Verwaltung, Kommunalpolitik, Wirtschaftsförderung, Fremdenverkehrswerbung etc. im Angebot» dar und haben:

  • Kein einheitliches Layout und keine einheitliche Bedieneroberfläche, so dass jeder Bürger und jede Bürgerin sich an die jeweilige Seite neu gewöhnen muss und keinerlei Wiedererkennungswert genießt
  • Unterschiedlichste Inhalte und Strukturierung der jeweiligen Inhalte
  • Individuelle Erstellung, d.h. jedes Ministerium, jeder Landkreis und jede Kommune hat einen Dienstleister nach ihrem eigenen Ermessen beauftragt --> Kosteneffekte!
  • Kein gemeinsames Identity-Management, also bei Identifikationserfordernissen sind demnach 1000 plus x – Logins und Passwörter für einen Bürger auszustellen
[3]

Das ist im kommunalen Bereich, unter der Annahme dass ein einzelner Bürger oder eine einzelne Bürgerin höchstens mit zwei bis drei Gemeinden zu tun hat (z. B. Hauptwohnsitz und Arbeitsplatzgemeinde) akzeptabel, für eine landesweite Bürgerbeteiligung wäre dies allerdings aus folgenden Überlegungen heraus nicht erstrebenswert:

  • Der Bürger soll sich möglichst hindernis- und barrierefrei an Verfahren beteiligen, an denen er sich beteiligen möchte sowie, bei Identifikationserfordernis, hierfür nur eine einzige User-ID und ein einziges Passwort benötigen (Single-Sign-on). Von den Bürgern und Bürgerinnen zu verlangen, sie sollten sich für zehn Ministerien zehn User-IDs und zehn Passwörter beschaffen und merken, erscheint nicht sinnvoll.
  • Eine «Umgewöhnung», indem verschiedene Bürgerbeteiligungsverfahren bzw. deren elektronische Erscheinungen völlig unterschiedlich aussehen, könnte vermieden werden.
  • Ein schneller und belastbarer Überblick, welche Bürgerbeteiligungsverfahren im Bundesland laufen, soll dem Bürger zur Verfügung gestellt werden.
  • Für die Ministerien des Landes soll es kostengünstig möglich sein, Bürgerbeteiligung anzubieten.
[4]
Ein weiteres, aber sehr wesentliches Argument ist, dass es für Bürgerbeteiligung nicht zwingend staatlich angebotener Beteiligungsverfahren und -systeme bedarf. Wie der Fall Martha Payne1 zeigte, können sich Bürger und Bürgerinnen ihre Beteiligung mit der vorhandenen Technologie selbst gestalten und damit höchste Wirkung erzielen. Kurzgefasst, entweder die Verwaltung bietet geordnete Bürgerbeteiligung an, oder die Bürger schaffen sich bei Bedarf ihre eigene Beteiligung. Insoweit entspricht dies dem Schlichterspruch von Heiner Geissler, wonach Demokratie in Anbetracht der vorhandenen Technologie anders funktionieren muss als bisher.
[5]
Aus diesen und anderen Überlegungen heraus beschloss der Ministerrat am 8. November 2011, die Konzeption und Einführung einer Beteiligungsplattform des Landes (im Folgenden «Beteiligungsportal» genannt).

2.

Angebotene Funktionalitäten des Beteiligungsportals ^

[6]
Das Beteiligungsportal soll folgende Funktionalitäten (sogenannte «Säulen») für die Bürger ermöglichen:

2.1.

«Informieren» ^

[7]
In der Beteiligungsforschung wird in der Regel von drei Stufen der Beteiligung gesprochen: Information, Konsultation und Kooperation. Auch das Beteiligungsportal folgt dieser Logik. Zudem ist Bürgerbeteiligung auch für die meisten Bürger und Bürgerinnen etwas vergleichsweise Neues, auch deshalb besteht hier ein gestiegener Informationsbedarf. Die angebotene Information umfasst sowohl Grundlegendes, also welche Beteiligungsrechte haben Bürger und Bürgerinnen und welche Aktionen bietet die Landesregierung hierzu an, als auch Konkretes, nämlich welche Beteiligungsprojekte oder Vorhaben, an denen sich der Einzelne beteiligen kann, gerade angeboten werden. Zusätzlich informiert die Landesregierung in dieser Säule über durchgeführte und weiter geplante Reformen, politische Vorhaben und Initiativen im Bereich Bürgerbeteiligung.
[8]
Dieser Teil des Angebotes verfügt über kein Alleinstellungsmerkmal und ist somit dem – im Internet üblichen – Wettbewerb ausgesetzt, d.h. im Prinzip kann jedermann solche Information anbieten.

2.2.

«Kommentieren» (Konsultation) ^

[9]
Die bereits auf dem Landes-E-Government-Portal service-bw.de vorhandene Funktionalität zur Kommentierung von Gesetzesvorhaben und sonstigen Regelungsentwürfen (diese nur, soweit sie von hohem öffentlichem Interesse sind oder grundlegende Bedeutung entfalten) die nach Verwaltungsvorschrift einem Anhörungsverfahren unterzogen wird, wird auf das Beteiligungsportal überführt. Hier besteht eine «Grundlast» von schätzungsweise ca. 20-30 Gesetzesinitiativen pro Jahr. Konkret werden die Gesetzentwürfe und Vorschriften, die sich gemäß Verwaltungsvorschrift-Regelungen im Anhörungsverfahren befinden, online veröffentlicht und können von den Bürgern und Bürgerinnen kommentiert werden. Aus den Erfahrungen gescheiterter Bürgerbeteiligungen wie z. B. punktereform.de des Bundesverkehrsministeriums oder des Bürgerdialoges der Bundeskanzlerin, die keine 1.700 bzw. 12.000 Beiträge aus einer Grundgesamtheit von fast 80 Mio. Bürgern und Bürgerinnen zur Beteiligung motivierten, lässt sich schließen, dass eine Grundlast und ein bereits eingeführtes, regelmäßiges Verfahren essentiell für den nachhaltigen Erfolg einer Bürgerbeteiligung sind.
[10]
Ein weiterer, wesentlicher Erfolgsfaktor von Bürgerbeteiligung ist die von der sich beteiligenden Bürgerschaft erzielte / erhoffte Wirkung (sog. Impact). Bürgerbeteiligungsverfahren, bei denen vorab, vorzugsweise in der schriftlichen Form, geregelt ist, was die Spielregeln sind, haben regelmäßig mehr Erfolg i.S.v. Beteiligung als solche, bei denen der Impact beliebig ist – wie z. B. bei den zitierten Beteiligungsversuchen von Bundesverkehrsministerium und Bundeskanzleramt. Die Motivation, sich zu beteiligen, ist stärker, wenn sowohl die rechtliche Qualität des Beitrages (rechtliches Nullum in den erwähnten Fällen) als auch das anzuwendende Verfahren vorab bekannt sind.
[11]
Was den Impact betrifft, so obliegt es den einzelnen Ministerien im Rahmen ihrer Ressortverantwortlichkeit, wie sie mit den Konsultationsbeiträgen umgehen. Vor dem Hintergrund, dass Bürgerbeteiligung ein Schwerpunktthema der Landesregierung ist, sind die Ressorts politisch gehalten, die Beiträge ernsthaft zu behandeln und zumindest in aggregierter Form im Rahmen einer Stellungnahme zu beantworten (sog. qualifizierte Stellungnahme). Dies ist wesentlich abhängig von der tatsächlichen quantitativen Beteiligung: Von einem Ressort die Einzelbeantwortung zigtausender Beiträge zu verlangen, ist nicht realistisch.
[12]
Was die Integration der «Online-Anhörung» in die weiterhin bestehende Verbandsanhörung betrifft, ist es ebenfalls die Verantwortlichkeit der Ressorts, hier einen entsprechenden Weg zu finden, um eine Integration zu erreichen.

2.3.

«Mitmachen» bzw. Bürgerdialog (Kooperation) ^

[13]
Den Ministerien wird eine Infrastruktur angeboten, die sie für die Durchführung umfassender Online-Beteiligungsverfahren verwenden können. Dies beinhaltet einen Dialog sowie ein Content Management System. Den Ressorts wird empfohlen, wichtige politische Vorhaben mit Bürgerbeteiligung zu realisieren. Dabei kann sinnvollerweise ein Mix aus Online- und Offline-Beteiligung angewandt werden. Es ist allen Beteiligten bewusst, dass eine reine Online-Beteiligung keinesfalls alle Bürger und Bürgerinnen erreicht2. Die Beteiligungsplattform ermöglicht es, einen kompletten Beteiligungsprozess darzustellen, und bietet die technischen Möglichkeiten, eine Online-Konsultation durchzuführen.
[14]

Am Ende eines solchen Prozesses können als Ergebnis ein Maßnahmenplan, andere politische Initiativen oder konkrete Inhalte für Gesetzentwürfe stehen. Ein Beispiel ist das vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst durchgeführte Beteiligungsverfahren zur Einführung der Verfassten Studierendenschaft www.wir-wollen-deinen-kopf.de, welches in 2012 als Pilot durchgeführt wurde.

[15]
Es wird hierbei seitens des Staatsministeriums die technische Plattform zur Verfügung gestellt und, soweit darstellbar, Beratung geboten. Der Echteinsatz bleibt in der Verantwortlichkeit des jeweiligen Ressorts.
[16]
Als erstes umfassendes Pilotprojekt ist ein Dialog über den zu erstellenden «Leitfaden für eine neue Planungskultur» beabsichtigt.

2.4.

Aktives Einbringen der Bürger und Bürgerinnen ^

[17]

Es ist seitens der Landesregierung beabsichtigt, im Jahr 2013 eine vierte Funktionalität zu konzipieren und in das Beteiligungsportal zu integrieren, über die Bürger und Bürgerinnen ihre politischen Anliegen direkt an die Landesregierung tragen können und so von den Bürgern und Bürgerinnen angestoßene Bürgerbeteiligung gelebt werden kann.

3.

Technische Umsetzung und Ressourcen ^

[18]
Die Beschaffung des Beteiligungsportals wurde im Dezember 2011 ordnungsgemäß im EU-Amtsblatt veröffentlicht. Insgesamt stand ein Budget von EUR 225.000,00 zur Verfügung3.

3.1.

Systemarchitektur und zur Verfügung gestellte Ressourcen ^

[19]

Das zur Verfügung gestellte System beinhaltet

  • Ein Content Management System, hier Typo3 in der Version 4.7
  • Open Source
  • Die Typo3-basierte Beteiligungsplattform
  • Q3-Webtracking
  • Suchfunktionen, hier Solr (Lucene)
  • Einbindung von Karten via OpenLayers (JavaScript-Bibliothek)
  • Vorlesetool Linguatec-Voice-Reader Web für Sehbehinderte
  • Medien- und Dokumentenmanagement, hier MMC bzw. DAM 2.0
  • Dashboard
[20]
Seitens des Staatsministeriums wird der Betrieb (Hosting), Technischer Support, Top-Level-Admin, die redaktionelle Betreuung der 1. Säule sowie gewisse Beratung zur Verfügung gestellt.

3.2.

Identity Management ^

[21]
Das Portal arbeitet mit einem einfachen Login, der aus einem – frei wählbaren – Namen und einer gültigen Mailadresse besteht. Diese niedrigschwellige «Identifikationserfordernis» soll einerseits minimalen Schutz vor Spam etc. bieten und andererseits die Hemmschwelle für eine echte Beteiligung so niedrig wie irgend möglich halten. Ob und wie dieser Ansatz weiter entwickelt werden muss, wird die Nutzungsphase zeigen.

3.3.

Projektmanagement / Zeitplan ^

[22]
Im Laufe des Februars 2013 soll das Portal live geschalten werden und erste Bürgerbeteiligungsverfahren begonnen werden. Es ist seitens des Staatsministeriums angedacht, die erste Phase wissenschaftlich begleiten zu lassen.

4.

Mögliche Effekte und Ausblick ^

[23]

Elektronische Bürgerbeteiligung ist, trotz einer mittlerweile über zehnjähriger Historie, noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Verfahren sind in einem Reifezustand, der mit Serienfertigung verglichen werden kann. Dieses Beteiligungsportal des Landes Baden-Württemberg soll einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass die elektronische Bürgerbeteiligung vom Stadium der Pilotprojekte, Versuche und sonstiger Einmaligkeiten hinweg in einen Zustand der Normalität überführt wird. Ein wesentlicher Anspruch des Projektes ist eine nachhaltige Implementierung dieser Beteiligungsform in die alltägliche politische Realität. Diese, hoffentlich auf diesem Weg erreichbare Realität, ist gekennzeichnet durch:

  • Eine zentrale Anlaufstelle im Internet, wo die politisch interessierten Bürger und Bürgerinnen qualifizierte Information zu allen Beteiligungsangelegenheiten des Landes Baden-Württemberg gratis erhält (1. Säule)
  • Die Möglichkeit erhält, an einer zentralen Stelle rechtzeitig alle Gesetzes- und sonstigen Regelungsentwürfe vor Inkrafttreten zu lesen und ggf. zu kommentieren, wobei sichergestellt ist, dass diese Kommentierung auch gelesen und angemessen gewürdigt wird (2. Säule)
  • Eine mögliche Beteiligung bei wichtigen politischen Verfahren, wobei diese Beteiligung auch online, gratis und ohne wesentliche Barrieren erfolgen kann

Wir hoffen hiermit einen wesentlichen Beitrag zu einer aktiveren Einbindung der Bürger und Bürgerinnen in die Politik auch außerhalb des Wahltages zu leisten.

 


 

Niombo Lomba, Leiterin der Stabsstelle der Staatsrätin für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft, Staatsministerium Baden-Württemberg.

  

Robert Müller-Török, Professor, Hochschule für Öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg.

 


 

 

  1. 1 Die neunjährige schottische Grundschülerin Martha Payne begann infolge Unzufriedenheit mit dem in der Schulkantine angebotenen Mittagessen im Mai 2012 das Blog neversconds.blogspot.com und erzielte damit höchste Wirkung. Infolge eines nach einem Blogverbot erfolgten und von BILD bis La Repubblica und El Pais getragenen «Shitstorm» kapitulierten die schottischen Behörden. Das Schulessen wurde erheblich besser.
  2. 2 In Anbetracht von 4 % echtem Analphabetismus und 14 % funktionalem Analphabetismus in der erwerbsfähigen Bevölkerung laut einer aktuellen Studie des BMBF ist es völlig illusorisch, reine Online-Beteiligung anzubieten (vgl. hierzu http://www.bmbf.de/de/426.php , per 12.12.2012).
  3. 3 Vgl. EU-Amtsblatt vom 20.12.2011, 2011/S 244-396261.