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Open Data = All Public Data for Free? Fragen anhand der bevorstehenden Änderung der PSI-Richtlinie

  • Authors: Alexander Balthasar / Alexander Prosser
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Alexander Balthasar / Alexander Prosser, Open Data = All Public Data for Free? Fragen anhand der bevorstehenden Änderung der PSI-Richtlinie, in: Jusletter IT 20 February 2013
Gegenwärtig steht eine Änderung der RL 2003/98/EG «über die Weiterverwendung von Informationen des öffentlichen Sektors» («Public Sector Information», PSI) vor dem Abschluss. Der nachfolgende Beitrag diskutiert aus diesem Anlass die grundsätzliche Problematik des gegenwärtigen PSI-Konzepts anhand mehrerer Gesichtspunkte.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Die Stammfassung
  • 1.1. Das Regime
  • 1.2. Die Natur der Tätigkeit
  • 1.3. Die Natur der Maßnahmen
  • 1.4. Erste Bewertung
  • 1.5. Weiterer Gesichtspunkt
  • 2. Änderungsvorschlag
  • 2.1. Allgemeines
  • 2.2. Materiale Gesichtspunkte
  • 2.2.1. Demokratiepolitischer Gesichtspunkt:
  • 2.2.2. Makroökonomischer Gesichtspunkt: Rückkehr zur scholastischen Wirtschaftsmoral?
  • 2.2.3. Mikroökonomische Gesichtspunkte: Die Form der Kostenorientierung
  • 2.2.3.1. Status Quo
  • 2.2.3.2. Marginal Costs – ein Paradigmenwechsel
  • 3. Résumé

1.

Die Stammfassung ^

1.1.

Das Regime ^

[1]

Die RL 2003/98/EG erfasst, nach dem in Art 3 positivierten «allgemeinen Grundsatz», die Weiterverwendung «von Dokumenten, die im Besitz öffentlicher Stellen sind, für kommerzielle und nichtkommerzielle Zwecke». Sie verpflichtet dazu nach ihrem Art 5 Abs 1 «öffentliche Stellen», «ihre» – dh im Regelfall: in ihrem zivilrechtlichen Eigentum befindliche1 – «Dokumente» Privaten «in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen»; allerdings lässt sie «die geltenden Zugangsregelungen der Mitgliedstaaten … unberührt», verpflichtet also ausdrücklich nicht «zur Gestattung der Weiterverwendung von Dokumenten». 2 Art 6 dir cit schreibt aber immerhin den «öffentlichen Stellen» – wenn sie, nach den betreffenden mitgliedsstaatlichen Regelungen, ihre Dokumente zur Verfügung zu stellen haben – «Tarifgrundsätze» für die Einhebung von «Gebühren» für diese Zurverfügungstellung von «Dokumenten» vor; damit werden diese «Gebühren» – richtiger: «Preise» – der Orientierung an den am betreffenden Markt üblichen – gegebenenfalls auch durchaus höheren – entzogen und durch eine bloße «Kostenorientierung» (freilich gegenwärtig noch ergänzt um eine «angemessene Gewinnspanne») ersetzt. 3 Art 10 dir cit gebietet überdies «nichtdiskriminierende» «Bedingungen für die Weiterverwendung von Dokumenten … für vergleichbare Kategorien der Weiterverwendung».

[2]
Diese Regelungen treffen lediglich die zur Zurverfügungstellung der betreffenden «Information» aus öffentlichen Beständen verpflichteten «öffentlichen Stellen», nicht aber auch die privaten Erwerber.4

1.2.

Die Natur der Tätigkeit ^

[3]
Die Zurverfügungstellung von «Information» als solche kann hoheitlicher, aber auch «unternehmerischer» Natur sein. Letzeres ist, angesichts der von der RL geregelten Weiterverwendung auch zu «kommerziellen» Zwecken, selbstverständlich; dass auch ersteres – und zwar auch bei Entgeltlichkeit – der Fall sein kann, hat der EuGH erst kürzlich in Bezug auf die im österreichischen Firmenbuch gespeicherten Daten klargestellt.5 In eben diesem Urteil wird aber auch, ganz unmissverständlich, auf die ständige Rechtsprechung verwiesen, dass für die Beantwortung der die Frage, ob eine Tätigkeit als eine «wirtschaftliche» sei (und die diese Tätigkeit ausübende organisatorische Einheit daher als «Unternehmen») gelte, die Rechtsform der betreffenden Einheit irrelevant ist.6

1.3.

Die Natur der Maßnahmen ^

[4]

Aus grundrechtlicher Sicht sind staatliche Preisregelungen ebenso wie spezifische Gleichbehandlungsgebote inter privatos Einschränkungen der Privatautonomie, näherhin Beschränkungen des Eigentumes bzw des Grundrechtes auf Erwerbsfreiheit. Derartige Einschränkungen sind zwar nicht schlechthin unzulässig, bedürfen aber dem (Grund-)Rechtsträger gegenüber einer spezifischen Rechtfertigung.7 Dies gilt grundsätzlich auch, insoweit in Formen des öffentlichen Rechts eingerichtete Rechtsträger als Grundrechtsträger anerkannt werden.8 Allerdings können diese zugleich auch anderen Grundrechtsträgern gegenüber grundrechtsverpflichtet sein9, etwa zur Gleichbehandlung10 (diesfalls konstitutiert eben diese Verpflichtung eo ipso die erforderliche Rechtfertigung für den Eingriff). Gerade der Grundsatz der Gleichbehandlung ist aber jedenfalls in bestimmten Konstellationen (insbesondere jener der «faktischen Übermacht» bzw der «Monopolstellung» eines Beteiligten11), aber auch hinsichtlich bestimmter, als besonders sensibel erachteter Tatbestände (Gleichstellung der Geschlechter12, Schutz vor Diffamierung13) auch schon als genuine Private unmittelbar verpflichtend erachtet worden.

[5]
Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist – vom Standpunkt einer auf dem Prinzip «freien Wettbewerbs» beruhenden «Marktwirtschaft» aus – insbesondere die Verpflichtung eines Anbieters auf eine kostenorientierte Preisbildung als eines der zwei gängigen Mittel14 zur Reaktion auf ein Monopol – in dessen «Herrschaftsbereich» der Natur der Sache nach kein «Wettbewerb» existiert – bekannt.15

1.4.

Erste Bewertung ^

[6]

Während die Verpflichtung sämtlicher «öffentlicher Stellen» zur diskriminierungsfreien Zurverfügungstellung «öffentlicher Information» nach dem Gesagten als solche unspektakulär ist16, deutet die Ausrichtung der «Tarifgrundsätze» auf einen «kostenorientierten» Ansatz darauf hin, dass sämtliche von der PSI-RL erfassten öffentlichen Stellen eo ipso als «Monopolisten» betrachtet wurden, dh als Anbieter singulärer Information, für die deshalb auch insoweit, als die «öffentlichen Stellen» als «Unternehmer» handeln sollten, eine Preisbildung im Wege «einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb»17 a priori nicht in Betracht kommt.

[7]

Ist diese Abgrenzung aber wirklich – zumal in dieser Ausschließlichkeit und Automatik – sachgerecht? Diese Frage lässt sich in zweierlei Richtung hin entfalten:

  • Kann es nicht, zumal bei unionsweiter Betrachtung, jedenfalls für einzelne von «öffentlichen Stellen» gehaltene Datenkategorien sehr wohl einen echten Markt geben?
  • Kann es nicht auch umgekehrt auch noch beim privaten Ersterwerber (und allenfalls Weiterverarbeiter) der betreffenden Information zu einer jedenfalls faktischen Monopolsituation kommen?18
[8]

In dem Ausmaß nun, in dem das von der RL gewählte formale Kriterium der Unterscheidung nach der Rechtsform19 und das sachliche – ob hinsichtlich der konkreten Datenkategorie ein «Monopol» vorliege, das, faute de mieux, eine staatliche Preisregelung (mittels des «kostenorientierten Ansatzes») erfordere – nicht zusammenfallen sollten, bewirkte Art 6 dir cit eine sekundärrechtliche Ungleichbehandlung der «öffentlichen Stellen» gegenüber den privaten Erwerbern20, die mit der abschließenden Garantie der Verträge, wonach diese «die Eigentumsordnung in den verschiedenen Mitgliedstaaten unberührt» lassen (Art 345 AEUV), nicht vereinbar sein dürfte.21

1.5.

Weiterer Gesichtspunkt ^

[9]
Überdies ist aber auch nicht ersichtlich, wie durch dieses Regime des Art 6 dir cit die Ziele des Art 26 AEUV – Verwirklichung/Gewährleistung des «Binnenmarktes» (Art 3 Abs 3 EUV/Art 26 Abs 1 AEUV), umfassend «einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist» (Art 26 Abs 2 AEUV) – befördert werden sollten:
[10]

Denn durch dieses nach der bloßen Rechtsform des Datenanbieters gespaltene Preisregime wird wohl bereits jetzt

  • die überhaupt nach diesem Regime zur Verfügung gestellte Information tendentiell geringer sein als dann, wenn bereits die (nichtmonopolistische) «öffentliche Stelle» einen fairen Marktpreis erzielen dürfte22,
  • der vom Endverbraucher zu bezahlende Marktpreis tendentiell höher sein als bei Konkurrenz durch die öffentliche Hand, zumal sich durch deren Ausschluss aus dem Markt die Homogenität der verbleibenden privaten Anbieter und damit die faktische Gefahr von Preiskartellen erhöht.23
[11]
Damit liegt aber die Einschätzung nahe, dass sich schon die Stammfassung der PSI-RL letztlich zu Unrecht auf (den nunmehrigen) Art 114 AEUV gestützt habe.
[12]
Dabei ist der Vollständigkeit halber noch hervorzuheben, dass sich zwar auch die RL 2004/17/EG und 2004/18/EG im Bereich des öffentlichen Auftragswesens auf Rechtsgrundlagen aus dem Bereich des Binnenmarktes, insbesondere (den nunmehrigen) Art 114 AEUV, berufen, das dortige Regime allerdings gerade kein «gespaltenes Preisregime» oder einen «Eingriff in das öffentliche Eigentum», sondern, genau gegenteilig, die Geltung fairer Marktpreise auch im Bereich der öffentlichen Beschaffung intendiert.24

2.

Änderungsvorschlag ^

2.1.

Allgemeines ^

[13]

Soweit zu sehen, werden die problematischen Aspekte der Stammfassung durch den gegenwärtigen Änderungsvorschlag durchwegs verschärft:

  • Die Möglichkeit des vollständigen opting-out hinsichtlich bestimmter Informationskategorien wurde verstärkt, da Art 2 Abs 3 nunmehr nicht mehr auf die «existing access regimes in the Member States» abstellt, sondern die RL schlicht «without prejudice to access regimes in the Member States» gelten soll, also auch künftige Herausnahmen möglich werden;
  • Dafür soll nun als «Allgemeiner Grundsatz» gelten, dass für die Information, für die die RL nach der Entscheidung der Mitgliedsstaaten – gilt, der von öffentlichen Stellen verlangbare Preis auf «marginal costs incurred for supplying and allowing the re-use of documents» beschränkt bleiben soll (Art 3 iVm Art 6 Abs 1).25
  • Lediglich ausnahmsweise sollte die vormalige Regel – Erlaubnis zur Erzielung eines angemessenen Gewinns, auf der Basis des kostenorientierten Ansatzes – noch gelten26, aber auch hier erschwert durch erhöhte interne Kontrollpflichten, also durch erhöhten Verwaltungsaufwand.27

2.2.

Materiale Gesichtspunkte ^

2.2.1.

Demokratiepolitischer Gesichtspunkt: ^

[14]

Der 9. Erwägungsgrund der Stammfassung nimmt – als vergleichsweise frühes Zeichen der angestrebten Grundrechtskonformität28 – auch auf Art 41 und Art 42 der EUGRC Bezug. Während nun Art 41 Abs 2 lit b ch cit offensichtlich lediglich ein «Recht jeder Person auf Zugang zu den sie betreffenden Akten» im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens29 gewährt, findet Art 42 ch cit «seine Grundlage im Demokratieprinzip».30 Aus keinem der beiden berufenen Grundrechte ergibt sich nun aber ein grundrechtlicher Anspruch auf Überlassung öffentlicher Datenbestände zu anschließender kommerzieller Nutzung durch Private! Der Änderungsvorschlag stipuliert nunmehr zwar routinemäßig31 die generelle Vereinbarkeit des Textes mit grundrechtlichen Anforderungen32, beruft sich aber selbst33 nicht mehr explizit darauf, zumindest auch in Ausführung grundrechtlicher Verpflichtungen ergangen zu sein. Vielmehr heißt es im neuen zweiten Erwägungsgrund, wesentlich unspezifischer, nur mehr:

«Open data policies which encourage the wide availability and re-use of public sector information for private or commercial purposes, with minimal or no legal, technical or financial constraints, can play an important role in kick-starting the development of new services …»

[15]

Nun trifft es durchaus zu, dass «Open Data policies» auch und gerade wirtschaftliche bzw wirtschaftspolitische Zielsetzungen verfolgen34; was freilich im Ansatz vermieden werden sollte, ist, auf diese – durchaus legitimen, aber doch letztlich profanen – ökonomischen Interessen die gemeinhin höhere rechtsstaatliche oder demokratiepolitische Dignität überzuleiten.35 Damit empfiehlt sich aber eine getrennte Betrachtung des Umganges mit öffentlicher Information exakt an dieser Scheidelinie, nämlich

  • einmal unter dem Aspekt (rechtsstaatlicher oder) demokratischer Partizipation
  • das andere Mal unter dem Aspekt der Wirtschafts- (und Finanz-)Politik.

2.2.2.

Makroökonomischer Gesichtspunkt: Rückkehr zur scholastischen Wirtschaftsmoral? ^

[16]

Wenn oben36 die Kostenorientierung des geltenden Art 6 der PSI-RL unter dem Gesichtspunkt unzulässiger Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Eigentum hervorgehoben wurde, dann ist hier noch wie folgt zu ergänzen: Gerade weil eine solche Differenzierung primärrechtlich unzulässig sein dürfte, könnte die Festschreibung des «kostenorientierten Ansatzes» zunächst bei «öffentlichen Stellen» und, wenngleich mit umgekehrter Zielrichtung, auch bei marktbeherrschenden privaten Unternehmen37, schließlich, zumal bei «dual nature-Tätigkeiten»38, zu einer Ausweitung dieses Ansatzes auch auf die zulässige Preisgestaltung bei genuinen Privaten führen; an die Stelle des im Grundsatz durch Angebot und Nachfrage subjektiv und (mittels Kooperation der Marktteilnehmer) autonom ermittelten Marktpreises träte dann flächendeckend die Kalkulation anhand letztlich von der Wirtschaftsbehörde39 (und damit heteronom) zugeteilter, von dieser als «objektiv» gerechtfertigt erkannter, und in diesem Sinne «angemessener Gewinnspannen».

[17]

Könnte das dann entstandene Wirtschaftssystem aber noch als «soziale Marktwirtschaft» iSd Art 3 Abs 3 EUV bzw als «offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» iSd Art 119 AEUV begriffen werden?40 Bekanntlich stellt die Lehre vom «iustum pretium» – und die Brandmarkung eines auf die Erzielung von Gewinn ausgerichteten Handels als unmoralisch – ein wesentliches Element der vormodernen Lehre etwa Thomas von Aquins dar.41

2.2.3.

Mikroökonomische Gesichtspunkte: Die Form der Kostenorientierung ^

2.2.3.1.
Status Quo ^
[18]
Die Stammfassung der Richtlinie 2003/98/EG beschreibt in ihrem Art 6 die Preisbildung für verkaufte öffentliche Daten folgendermaßen:

«Soweit Gebühren erhoben werden, dürfen die Gesamteinnahmen aus der Bereitstellung von Dokumenten und der Gestattung ihrer Weiterverwendung die Kosten ihrer Erfassung, Erstellung, Reproduktion und Verbreitung zuzüglich einer angemessenen Gewinnspanne nicht übersteigen.»

[19]

Dies kann als Vollkostenorientierung aufgefasst werden, d.h. als Einbeziehung sämtlicher anfallender Kosten (also sowohl der direkt zurechenbaren Kosten von Erfassung, Erstellung etc. der Daten wie der kalkulatorischen Overheads, seien es nach dem Umlage- oder dem Zuschlagsverfahren gebildete kalkulatorische Sätze42). Diese Vollkostenorientierung wird noch durch die Aufnahme einer «angemessenen Gewinnspanne» verstärkt.

[20]

Natürlich erhebt sich die Frage, welche Kosten nun hinein gerechnet werden können; hier schwieg sich die Stammfassung aus und legte lediglich fest, dass die Preise «unter Beachtung der für die betreffenden öffentlichen Stellen geltenden Buchführungsgrundsätze berechnet werden.»43 Dies ist ein implizites Eingeständnis, dass jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Erlassung diese «Grundsätze» von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat verschieden waren – was an sich schon Fragen der Vergleichbarkeit bzw, wie angesichts solcher Verschiedenheiten eine fairer Wettbewerb sichergestellt werden könne, aufwirft. Dazu kommt aber noch, dass solche Grundsätze jedenfalls (wie immer im Detail gestaltet) eine «Doppelte Buchführung in Konten» («Doppik»44) voraussetzen; in einem rein kameralen System dagegen kann ex definitione ein solcher Kostensatz betriebswirtschaftlich aussagekräftig nicht ermittelt werden. Nun kann man aber schon sehr bezweifeln, dass bis dato bereits sämtliche Mitgliedsstaaten überhaupt auf Doppik umgestellt haben; denn selbst Österreich hat dies erst mit Beginn des heurigen Jahres getan.45

2.2.3.2.
Marginal Costs – ein Paradigmenwechsel ^
[21]

Die geplante Neufassung der Richtlinie stellt nun nicht mehr auf Vollkosten, sondern auf «marginal costs incurred for supplying and allowing the re-use of documents»46 ab: Dies wirft einige grundlegende Fragen auf.

  • Keine Vollkostendeckung mehr im öffentlichen Sektor?
[22]

In der Betriebswirtschaftslehre ist die Rechnung zu «Grenzkosten» (variable Kosten der jeweils erzeugten Einheit) eine reine Entscheidungsrechnung, etwa zur Ermittlung der kurzfristigen Preisuntergrenze (insbesondere in der Grenzplankostenrechnung).47 Jenseits dieser entscheidungsorientierten Rechnung müssen in einem Unternehmen natürlich letztlich immer die Vollkosten gedeckt werden. Es erschließt sich den Autoren kein Grund, warum dieser Vollkostendeckungsbegriff nicht auch auf den öffentlichen Sektor (weiterhin) anwendbar sein sollte.48 Diese Kostendeckung ist aber natürlich rein mit den Grenzkosten nicht herstellbar.

  • Was sind «marginal costs»?
[23]

Weiters erscheint der hier verwendete Begriff der «marginal costs» als solcher zu unbestimmt: Denn variable Kosten definieren sich immer an den Kosten einer zusätzlichen Leistungseinheit. Was ist nun aber im gegenständlichen Fall diese zusätzliche Leistungseinheit?

  • Im Gegensatz zum traditionellen produzierenden Gewerbe mit hohem variablen Rohstoffeinsatz (man denke an die Herstellung eines Autos) sind die variablen Kosten in der Datenverarbeitung und Telekommunikation in der Regel vernachlässigbar. Dies gilt auch im gegenständlichen Fall einer Datenbereitstellung. In extremer Betrachtung ergeben sich diese Kosten lediglich aus dem Brennen und Versenden einer DVD, was inklusive aller Personalkosten etc. kaum mehr als einige Euros für selbst größte Datenbestände bedeutet.
  • Dieses Ergebnis legt denn doch ein alternatives Verständnis nahe. Bei den nachstehenden Alternativen

      (α) die Aufbereitung vorhandener Daten «allowing the re-use of documents» oder

      (β) die Bereitstellung einer zusätzlichen Datenkategorie

ist jedoch zu beachten, dass aus betriebswirtschaftlicher Sicht dann selbstverständlich sprungfixe Kosten49 in die «marginal costs» einzubeziehen wären, was insbesondere bei Zugrundelegung der Alternative (β) als Leistungseinheit eine große Rolle spielte.

[24]

Diese hier konstatierte Unbestimmtheit wird letzlich auch im Änderungsvorschlag eingestanden, soll die Kommission doch – «in order to contribute to a consistent implementation» – zur Erlassung von «non-binding guidelines» ermächtigt werden.50 Ob ein solches Instrument vollständig unbestimmter Bindungswirkung vor dem Hintergrund der aufgezeigten, zentralen Unbestimmtheit aber zur Erreichung der in Art 114 AEUV genannten (bzw verwiesenen) Ziele genügen wird?

3.

Résumé ^

[25]
Insgesamt vermittelt das gegenwärtige PSI-Konzept nicht den Eindruck, ausreichend durchdacht zu sein. Dafür ist vielleicht auch der Umstand verantwortlich, dass es – ungeachtet seiner grundsätzlichen und horizontalen Implikationen – auf EU-Ebene nicht etwa im Rat «Allgemeine Angelegenheiten», sondern in der Formation «… Telekommunikation…» beraten wurde und wird.

 


 

Alexander Balthasar, Leiter des Instituts für Staatsorganisation und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt.

 

Alexander Prosser, Professor, Wirtschaftsuniversität Wien, Department Informationsverarbeitung und Prozessmanagement.

 


 

  1. 1 Der OGH sprach in seinem Vorlagebeschluss zu Compass (siehe unten FN 7) lieber unbestimmt von einem «sui-generis-Schutzrecht». Art 3 der RL hat, wie gerade im Text erwähnt, dafür «im Besitz öffentlicher Stellen» (bzw, noch unpräziser, «held»).
  2. 2 Art 1 Abs 3 iVm Art 3 («in den Fällen, in denen die Weiterverwendung erlaubt wird») iVm EG 9 der RL; vgl auch Compass (FN 7) Rz 50.
  3. 3 Der wirtschaftliche Kontext ist hier klarerweise ein anderer als etwa im Urteil des EuGH vom 17. 2. 2011, C-52/09 (TeliaSonera), wo es um den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung mittels Einsatzes nicht kostendeckender Preise gegangen war; dass in einem solchen Kontext («Dumping») die eigenen Kosten – als Determinante des zulässigen Preisminimums – herangezogen werden (Rz 41, 46), liegt nahe; dennoch kann sich aus dieser Koinzidenz eine Änderung des wirtschaftspolitischen Paradigmas ergeben (siehe unten Punkt 2.2.2).
  4. 4 Ob die in Art 8 Abs 1 Satz 1 der RL genannten «Bedingungen» eine Überbindung der Preisgestaltungsgrundsätze des Art 6 dir cit auf den Erwerber gestatten, ist höchst unsicher; verpflichtet ist der Mitgliedsstaat hiezu jedenfalls nicht.
  5. 5 Urteil vom 12. Juli 2012, C-138/11 (Compass), Tenor.
  6. 6 Compass (FN 7), Rz 35.
  7. 7 Vgl Art 7, Art 16, Art 17 Abs 1 iVm Art 52 EUGRC.
  8. 8 Diese Frage ist dogmatisch umstritten; vgl zum gegenwärtigen Meinungsstand, mit unterschiedlicher Nuancierung, etwa Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht9 (2012), Rz 705; Borowsky, Art 51, Rz 35, in: Meyer (Hrsg), Charta der Grundrechte der Europäischen Union3 (2011); Balthasar, ZÖR 2011, 67ff; Kotzur, Einführung zur Charta der Grundrechte, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV5 (2010), Rz 13; Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg), Europäisches Verfassungsrecht2 (2009), 685f; Berka, Die Grundrechte (1999), Rz 165ff.
  9. 9 Zur Bindung des Staates auch als Träger von Privatrechten, jedenfalls bei der Besorgung öffentlicher Aufgaben (Fiskalgeltung) siehe etwa Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, Rz 737ff; Berka, Grundrechte, Rz 213ff.
  10. 10 Die Verpflichtung aller öffentlichen Auftraggeber an das Gebot zur Gleichbehandlung (Nichtdiskriminierung) ist bekanntlich wesentliche primärrechtliche Wurzel des gesamten Vergaberechts (Frenz, Europarecht [2011], Rz 449).
  11. 11 Berka, Grundrechte, Rz 234.
  12. 12 Im arbeitsrechtlichen Bezügen (siehe Kotzur, Einführung, Rz 12), daher unter Einbeziehung überdies zumindest eines Elementes der «faktischen Übermacht».
  13. 13 Berka, Grundrechte, Rz 234.
  14. 14 Stocker, Moderne Volkswirtschaftslehre6 (2009), 77.
  15. 15 Vgl schon etwa Lerner, The concept of monopoly and the measurement of monopoly power, Review of Economic Studies, Vol. 1 (1934) sowie Samuelson/Nordhaus, Volkswirtschaftslehre (2005), Kapitel 9.
  16. 16 Problematisieren ließe sich freilich sehr wohl, warum ohne jede weitere Differenzierung von jeder Überbindung dieser Gleichbehandlungsverpflichtung auf private Erwerber Abstand genommen wurde.
  17. 17 Cit Art 119 Abs 1 AEUV. Siehe näher unten Punkt 2.2.2.
  18. 18 Die RL selbst scheint diese Gefahr iZm der in Art 8 erlaubten Lizensierung der Weiterverwendung zu sehen.
  19. 19 Zur Irrelevanz dieses formalen Kriteriums als solchen siehe bereits oben Punkt 1.2.
  20. 20 Art 8 Abs 1 Satz 1 der RL gestattet zwar die Festlegung von «Bedingungen» für die Weiterverwendung, «gegebenenfalls in einer Lizenz»; es ist aber nicht ersichtlich, dass darunter über Art 6 dir cit hinaus weitere «Gebühren» (etwa eine angemessene Gewinnbeteiligung) verrechnet werden dürften.
  21. 21 Vgl Schlussanträge vom 2. 9. 2010 zu TeliaSonera (siehe oben FN 5), Rz 27: «… nach Art 102 AEUV ist es nicht zulässig, zwischen öffentlicher und privater Finanzierung zu unterscheiden, und Art 345 AEUV … würde auch eine Unterscheidung zwischen Eigentumsrechten in diesem Sinne verbieten.» (HniO).
  22. 22 Vgl nicht zuletzt den Sachverhalt zu Compass (siehe oben FN 7): Österreich hatte die Bewirtschaftung der Firmenbuchdaten eben von vorneherein als «hoheitlich» gestaltet und nicht dem IWG unterstellt.
  23. 23 Dieses Resultat kann wohl nicht als «hohes Schutzniveau» iSd Art 114 Abs 3 AEUV bezeichnet werden.
  24. 24 Diesem Ziel entspricht auch die (bereits oben in FN 12 angesprochene) Entwicklung des Vergaberechts – dem wie der PSI-RL eine konkrete Kompetenznorm mangelt – gerade aus dem Gebot der Gleichbehandlung bzw der Nichtdiskriminierung (welches aber immerhin seinerseits eine primärrechtliche Basis aufweist).
  25. 25 Siehe näher unten Punkt 2.2.3.2.
  26. 26 Wir gehen in Bezug auf das in Art 6 Abs 2 lit a des Änderungsvorschlages genannte Ausnahme-Kriterium («public sector bodies that are required to generate revenue …») nicht davon aus, dass dieses auch die generelle gesetzliche Verpflichtung des Staates zur Einhebung von Steuern umfasse, obwohl in der Tat unter «öffentlichen Stellen iSd RL auch der Staat als solcher zu verstehen ist (Art 2 Z 1).
  27. 27 Art 6 Abs 4-6 und Art 7.
  28. 28 Mittlerweile enthalten die Präambeln der Sekundärrechtsakte eine horizontale salvatorische Klausel (so auch der Änderungsvorschlag, siehe unten FN 34); zur entsprechenden Grundrechte-Prüfung vgl Butler , Ensuring Compliance with the Charter of Fundamental Rights in Legislative Drafting: The Practice of the European Commission, ELR 2012, 397ff; Benoît-Rohmer, La Charte des droits fondamenteaux de l’Union européenne dix ans après sa proclamation, in: Benedek/Benoît-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg), European Yearbook on Human Rights (2011), 25ff, 29ff.
  29. 29 Vgl Magiera, Glosse zu Art 41, in: Meyer, Charta, Rz 13.
  30. 30 Cit Magiera, Glosse zu Art 42, in: Meyer, Charta, Rz 6.
  31. 31 Vgl oben FN 30.
  32. 32 EG 16: «This Directive respects the fundamental rights and observes the principles recognised by the» EUCFR, «including the right to property … and protection of personal data. Nothing in this Directive should be interpreted or implemented in a manner that is inconsistent with the» ECHR.
  33. 33 Nachdem die RL 2003/98/EG mit dem vorliegenden Vorschlag nur geändert, nicht aber ersetzt werden soll, bleiben die ursprünglichen Erwägungsgründe aber – im Hintergrund – erhalten.
  34. 34 Charakteristischerweise findet sich in der offiziellen Pressemitteilung der Kommission vom 12. 12. 2011 («Digital Agenda: Commission’s Open Data Strategy, Questions & answers»; zugänglich unter http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-11-891_en.htm) auf die Frage «Why is open data important» an erster Stelle die Antwort «New businesses can be built on the back of this data».
  35. 35 In dieser Hinsicht charakteristischerweise noch unklar Parycek/Höchtl, Open Data in Österreich – Potentiale & Status Quo, Abstract in: Schweighofer et al (Hrsg), Tagungsband IRIS 2012 (2012), 211: «Neben demokratiepolitischen Potentialen wird Open Government Data aber auch als zentraler Wirtschaftsfaktor für die Softwareindustrie gesehen …» (Langfassung erschienen im Tagungsband der INFORMATIK 2011 Lecture Notes in Informatics, Band P192 ISBN 978-3-88579-286-4, elektronisch zugänglich unter http://www.user.tu-berlin.de/komm/CD/paper/061121.pdf). Die Ambivalenz ist auch spürbar bei Kloiber, Open Government Data – Zwischen politischer Transparenz und Wirtschaftsförderung. Eine Analyse der Entwicklungen in Deutschland (Masterarbeit 2012, elektronisch zugänglich unter http://igitur-archive.library.uu.nl/student-theses/2012-1004-200536/Masterthesis_3806316_JuliaKloiber.pdf).
  36. 36 Punkt 1.4.
  37. 37 Siehe oben FN 5.
  38. 38 Siehe oben Punkt 1.2.
  39. 39 Auf den dafür nötigen enormen Verwaltungsaufwand sei an dieser Stelle lediglich einmal hingewiesen.
  40. 40 Siehe zur Bedeutung (und grundsätzlichen Justiziabilität) dieses Begriffes näher etwa Häde, Art 119 AEUV, Rz 8ff, in: Callies/Ruffert (Hrsg), EUV/AEUV. Kommentar (2011); Kempen, Art 119 AEUV, Rz 14ff, insbes Rz 15 («Festsetzung von Preisen … dem staatlichen Zugriff dem Grunde nach entzogen …»), in: Streinz/Kruis/Michl (Hrsg), EUV/AEUV2 (2012); Bandilla, Art 119 AEUV, Rz 23ff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg), Das Recht der europäischen Union (Loseblatt, 48. EG 2012); Hatje, Art 119 AEUV, Rz 9ff, in: Schwarze (Hrsg), EU-Kommentar3 (2012). Vgl auch Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht 12 (2011), Rz 10.023f.
  41. 41 Siehe näher etwa Emmert, Auf der Suche nach den Grenzen vertraglicher Leistungspflichten: die Rechtsprechung des Reichsgerichts 1914-1923 (2001), 171ff, mit der bezeichnenden Aussage (ib, 172 [HniO]): «Ein mäßiger Gewinn (lucrum moderatum) für ein notwendiges oder ehrenhaftes Ziel wird anerkannt, sofern der Händler ihn als Ertrag seiner Arbeit und nicht als Ertrag seines Kapitaleinsatzes anstrebt.» Vgl auch M. Burckhardt, Die wuchernden Zeichen, in: Nicolas von Oresme, De Mutatione Monetarum: Tractatus (übersetzt von N. Burckhardt, 1999), 105f, wonach das scholastische Denken von einem «ontischen Wertbegriff» ausgeht (einem «Begriff des Wertes, der sich an den Dingen selbst festmacht, nicht aber an ihrer Wert-Schätzung durch die Menschen» [kursive HiO]).
  42. 42 Für eine praktische Einführung in diese Verfahren, ihre Einordnung in die (industrielle) Produktkalkulation und ihre Umsetzung in ERP-Systemen vgl. Prosser/Bagnato/Müller-Török, Integration Management with SAP® ECC2 (2009).
  43. 43 Art 6 letzter Satz.
  44. 44 Das Kunstwort «Doppik» bedeutet die Anwendung der kaufmännischen doppelten Buchführung im öffentlichen Sektor, für eine Einführung vgl etwa König, Doppik oder Kameralistik in der kommunalen Kernverwaltung? Zur Diskussion über die Reform des öffentlichen Haushalts- und Rechnungswesens (2007).
  45. 45 § 19 BHG 2013 legt zunächst die Verwendung der Doppik fest, d.h. die Erstellung eines Vermögenshaushaltes (Bilanz), eines Ergebnishaushaltes (G&V) und eines Finanzhaushaltes (Cash-Flow-orientierte Ein- und Auszahlungsrechnung, im wesentlichen die bisherige Kameralistik). Diese Verpflichtung zur Doppik ist überhaupt erst die Voraussetzung für eine Kosten- und Leistungsrechnung, wie sie nunmehr im 4. Hauptstück, Abschnitt 3 (§§ 108-110) des BHG in den Grundsätzen normiert ist (konsequenterweise fordert § 45 BHG 2013 von jedem haushaltsführenden Organ einen Ressourcen-, Ziel- und [vor allem] Leistungsplan, wobei letzterer der leistungsseitige Input für die Kosten- und Leistungsrechnung ist; die Daten der Doppik wiederum sind der kostenseitige Input). Erst mit einer solchen Kostenrechnung im klassischen betriebswirtschaftlichen Sinne lassen sich die in Art 6 der Stammfassung der Richtlinie 2003/98/EG zu ermittelnden «Kosten ihrer [=der Daten, Anm.] Erfassung, Erstellung, Reproduktion und Verbreitung» überhaupt seriös ermitteln.
  46. 46 Art 6 Abs 1.
  47. 47 Kilger/Pampel/Vikas, Flexible Plankostenrechnung und Deckungsbeitragsrechnung11 (2002).
  48. 48 Auch der zum neuen Art 6 Abs 1 geschaffene 12. Erwägungsgrund enthält hiezu nichts. Betrachtet man den Effekt, dann handelt es sich in gerade dem Ausmaß, in dem den «öffentlichen Stellen» nicht einmal die Vollkosten refundiert werden, um einen Eingriff in das öffentliche Eigentum, also um eine vom Unionsrecht angeordnete Enteignung dieser Stellen bzw ihrer Rechtsträger (zur Frage der Berufbarkeit auf Art 17 Abs 1 EUGRC siehe oben FN 10). Dieser Eingriff kann nun auch nicht etwa damit pauschal gerechtfertigt werden, dass die ursprünglichen Datenlieferanten als Steuerzahler diese Daten ohnedies bereits einmal bezahlt hätten: denn wer sagt denn, dass es sich bei dem privaten Erwerber der betreffenden «öffentlichen Information», zumal zu «kommerziellen» Zwecken, um einen Rechtsträger handle, der in dem betreffenden Mitgliedsstaat (oder in der EU) jemals einen Cent Steuern bezahlt habe?
  49. 49 Kosten, die in einem bestimmten Leistungsintervall konstant sind und bei marginalem Überschreiten des Intervalls einen – oftmals erheblichen – zusätzlichen Kostenblock erzeugen, dann aber in einem Intervall wieder fix bleiben.
  50. 50 Art 6 Abs 6 des Änderungsvorschlages.