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Grenzen direkter Demokratie (in der Legislative)

  • Author: Alexander Balthasar
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Alexander Balthasar, Grenzen direkter Demokratie (in der Legislative) , in: Jusletter IT 20 February 2013
Der Einsatz elektronischer Hilfsmittel hat seit einigen Jahren Forderungen nach Intensivierung direkter Partizipationsformen jenseits von Wahlen einen neuen Schub verliehen. Die auch noch gegenwärtige Präferenz vieler Staaten für repräsentative Formen der Demokratie (sogar) bei legislativen Sachentscheidungen muß jedoch keineswegs nur technische Gründe haben, sondern kann auf der Einsicht in strukturelle Unterschiede zwischen Entscheidungsfindung durch ein Repräsentationsorgan und den «demos» selbst beruhen.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 2. Direkte Demokratie im österreichischen Verfassungsrecht
  • 3. Alternative Modelle in Deutschland und in der Schweiz
  • 4. Die Rechtslage in den anderen Mitgliedsstaaten der EU
  • 5. Deutung

1.

Einführung ^

[1]

Die semantische Übersetzung des gegenwärtigen staatsorganisationsrechtlichen Zentralwertes unserer Rechtsordnung1, «Demokratie», als «Herrschaft des Volkes» – im Sinne einer «Identität von Herrschern und Beherrschten»2 – verdeckt, dass es sich bei dem Nomen «Volk» um einen klassischen Allgemeinbegriff handelt, der selbst unter Vernachlässigung jedweder föderaler Komplizierung3 noch eine Vielzahl verschiedener Individuen (Menschen als «Bürger»4) umfasst. Demnach führt – auch wenn (auch5) viele heutige Demokratien sich mit ihrem ursprünglichen, erfolgreichen Kampf gegen Heteronomie («Tyrannis») legitimieren6 – auch die Etablierung einer Demokratie nicht automatisch zur Autonomie eines jeden Einzelnen, sondern nur im – in aller Regel schon aus Praktikabilitätsgründen vernachlässigbaren7 – Grenzfall der vollständigen und freien Zustimmung8 eines jeden – zumindest aber eines jeden von einer bestimmten Entscheidung «betroffenen»9 – Bürgers. In allen anderen Fällen dagegen bleibt für den überstimmten Bürger die Heteronomie zunächst einmal bestehen.

[2]

Aus diesem (nicht neuen, aber in der politischen Debatte gerne verdrängten) Befund ergeben sich zwei Konsequenzen:

  • Zum einen bedarf gerade in einer «Demokratie» die Forderung, ein einzelner Bürger solle sich der Entscheidung anderer Bürger, die er selbst nicht teilt, überhaupt unterwerfen, besonderer Rechtfertigung, die nicht schon im Willen der Mehrheit als solchem liegen kann.10
  • Zum anderen aber läuft eine formale Vermehrung demokratischer Partizipationschancen für Alle zumindest für all jene, für die deren Gebrauch regelmäßig in gesteigerter Heteronomie endet, inhaltlich auf eine klare Verminderung demokratischer Partizipation hinaus. Auch diese Beeinträchtigung stabiler Minderheiten kann nicht einfach mit dem Autonomie-Gewinn der gegenbeteiligten Mehrheit aufgewogen werden, soll der Charakter einer Demokratie als einer Herrschaft des gesamten Volkes nicht aufgegeben werden.11
[3]
Vor diesem Hintergrund werden die nicht nur in Österreich (Z 2), sondern durchaus auch in anderen Rechtsordnungen (Z 4) enthaltenen Begrenzungen direkter Demokratie bereits intuitiv verständlich; sie lassen sich aber auch theoretisch rechtfertigen (Z 5).

2.

Direkte Demokratie im österreichischen Verfassungsrecht ^

[4]

Auf Bundesebene12 werden Bundesgesetze, einschließlich Bundesverfassungsgesetze und in einfachen Bundesgesetzen enthaltener Verfassungsbestimmungen, ausnahmslos parlamentarisch beschlossen; jedenfalls durch den Nationalrat (NR)13, gegebenenfalls unter Mitwirkung des Bundesrates (BR)14 oder der Länder.15 Dasselbe gilt für vom Bund abgeschlossene «politische Staatsverträge und Staatsverträge, die gesetzändernden oder gesetzesergänzenden Inhalt haben» 16 sowie für StV, «durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden».17 Eine direkte Beteiligung des Bundesvolkes an der Legislative18 des Bundes ist dagegen gegenwärtig lediglich auf dreierlei Weise vorgesehen:

  • «Volksbegehren» nach Art 41 Abs 2 B-VG; mit diesen kann auch die Änderung der Bundesverfassung begehrt werden.19
  • Volksbefragung nach Art 49b Abs 1 B-VG; auch hier sind Änderungen der Bundesverfassung nicht ausgeschlossen20, wohl aber «Wahlen sowie Angelegenheiten, über die ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde zu entscheiden hat».21
  • Nach Art 43 B-VG ist schließlich einer «Volksabstimmung … jeder Gesetzes-beschluss des» NR (vor seiner Beurkundung durch den Bundespräsidenten [BPräs]) «zu unterziehen», wenn dies entweder der NR beschließt22 oder die Mehrheit seiner Mitglieder es verlangt.23 Nach Art 44 Abs 3 B-VG ist ferner eine «Gesamtänderung» jedenfalls einer Volksabstimmung zu unterziehen, und auch eine «Teiländerung» bereits auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder des NR oder des BR.
[5]
Sowohl Volksabstimmungen wie Volksbefragungen werden vom BPräs – jeweils auf Vorschlag der Bundesregierung – angeordnet.24
[6]

Was gegenwärtig bei einer Zusammenschau dieser bundesverfassungsrechtlichen Instrumente «fehlt», ist – neben einer zweifelsfreien Anwendbarkeit dieser Instrumente auch auf «Staatsverträge» (diese gelten ja, der Systematik des B-VG entsprechend, als Akte der «Vollziehung», die parlamentarische Komponente daran als «Mitwirkung»25) – eine direkte Verknüpfung von «Volksbegehren» und «Volksabstimmung» derart, dass eine Volksabstimmung auch aufgrund eines ausreichend unterstützten Volksbegehrens, gegebenenfalls auch gegen den politischen Willen (der Mehrheit) des Parlaments, durchzuführen wäre («direkte Volksgesetzgebung»). 26

[7]

Diese Begrenzung kommt nicht von ungefähr: in VfSlg 16.24127 hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) bekanntlich eine Regelung in der vorarlberger Landesverfassung aufgehoben28, mit der es dem Landesvolk ermöglicht wurde, über ein ausreichend unterstütztes «Volksbegehren» und eine daraufhin – für den Fall, dass der Landtag es ablehne, dem Volksbegehren «Rechnung zu tragen» – verpflichtend durchzuführende Volksabstimmung dennoch einen diesem Volksbegehren «inhaltlich entsprechenden» Gesetzesbeschluss des Landtages zu erlangen. Der VfGH erachtete «eine derartige «Volksgesetzgebung»29 als «mit dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie … nicht mehr zu vereinbaren».30 Die in den einzelnen Landesverfassungen enthaltenen direktdemokratischen Instrumente31 bleiben daher – jedenfalls bei bundesverfassungskonformer Interpretation – auch nach wie vor sämtlich unterhalb dieser vom VfGH bezeichneten Schwelle.32

3.

Alternative Modelle in Deutschland und in der Schweiz ^

[8]

Eine direktdemokratischen Instrumenten günstigere Haltung als in VfSlg 16.241 wurde und wird allerdings in unserer Rechtsordnung nahe verwandten Rechtsräumen durchaus eingenommen, näherhin

  • in den Art 73 bis 76 der seinerzeitigen deutschen Reichsverfassung (WRV)35
  • in den aktuellen Verfassungen sämtlicher deutscher Bundesländer36
  • in der Schweiz.37
[9]

Entsprechende Niveausteigerungen sind also auch für Österreich wohl «denkmöglich».38

4.

Die Rechtslage in den anderen Mitgliedsstaaten der EU ^

39

[10]

Andererseits lässt sich die gegenwärtige Ausgestaltung direktdemokratischer Elemente im österreichischen Bundesverfassungsrecht im Rechtsvergleich mit den übrigen EU-Staaten durchaus sehen – immerhin bleiben gegenwärtig 14 Staaten klar hinter dem österreichischen Standard zurück:

[11]

Einige Staaten (Belgien, Niederlande, Zypern) kennen jedenfalls auf der Ebene ihres nationalen Verfassungsrechts bis heute überhaupt keine direktdemokratischen Instrumente, drei weitere lediglich solche jedenfalls formell nicht bindender Art (Finnland, Rumänien, VK); wiederum vier weitere Staaten sehen zwar bindende Referenden vor, jedoch eher nur ausnahmsweise40, vor (Dänemark, Deutschland, Malta, Tschechien), und auch Schweden kennt nur das fakultative Verfassungsreferendum. Auch Bulgarien, Estland und Griechenland kennen, auf der nationalstaatlichen Ebene, nur eine Volksabstimmung auf Beschluss der Nationalversammlung (oder, allenfalls, eines erheblichen Teils der Abgeordneten).

Nur 5 Staaten sind in etwa mit Österreich vergleichbar:

[12]

Polen und Spanien kennen beide neben einer fakultativen Volksabstimmung auf Beschluss des Parlaments auch ein Volksbegehren, Spanien überdies eine verpflichtende Volksabstimmung bei einer Gesamtänderung der Verfassung. Irland dagegen kennt zwar kein Volksbegehren, aber dafür eine obligatorische Volksabstimmung über jede Verfassungsänderung. In Portugal wiederum ist es der Staatspräsident, der «entscheidet», ob ein Volksbegehren einer Volksabstimmung unterzogen wird.41 Auch Frankreich gewährt nach wie vor keine echte «direkte Volksgesetzgebung», sondern lediglich eine Kombination von einer starken parlamentarischen Minorität mit einer starken Minorität der Wahlberechtigten, und letztlich auch kein obligatorisches Verfassungsreferendum.

[13]

In den verbleibenden 7 Staaten (Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Slowenien, Slowakei) allerdings gibt es, jedenfalls im Prinzip, wenngleich manchmal erst seit wenigen Jahren, sehr wohl eine echte «direkte Volksgesetzgebung».

5.

Deutung ^

[14]

Aus den betrachteten Regelungen lassen sich zumindest drei Problemzonen herausschälen.42 Während zwei davon eher technischer Art sind43, rührt die dritte – die Frage nach den für eine direktdemokratische Partizipation überhaupt geeigneten Themen – an das Fundament der Demokratie und sei daher nachstehend näher behandelt:

[15]

Grob gesagt, ist die Haltung der verschiedenen Verfassungen zu den für Volksabstimmungen geeigneten Themen durch zwei latent gegensätzliche Ansätze geprägt:

  • Zum einen sollen Volksabstimmungen gerade nur oder jedenfalls auch bei besonders gravierenden politischen bzw rechtlichen Entscheidungen zum Einsatz kommen.
  • Zum andern aber sollen gerade gravierende Fragen, insbesondere solche, die den staatlichen Haushalt bzw die Verteilung der Steuer- und Abgabenlast, den Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die Verhängung des Ausnahmezustandes oder Fragen der Landesverteidigung, Amnestien oder ganz allgemein die Grundrechte betreffen, ausgeklammert bleiben.44
[16]
Nun mögen für beide thematische Beschränkungen Befürchtungen mitspielen, dass – trotz formaler Herleitung der Legitimität des gesamten Rechtssystems vom «Volk» – ein über konkrete Sachfragen von staatspolitischem Interesse direkt abstimmendes Volk in seiner Mehrheit zur adäquaten Problembeurteilung und -lösung schon rein kognitiv nicht ausreichend in der Lage sei.
[17]

Gravierender erscheint aber – fasslich gerade anhand der Ausnahmen für die Bereiche Haushalt/Abgaben, aber auch für Amnestien bzw Grundrechte allgemein – der Befund, dass es sichtlich nicht nur Individualentscheidungen45, sondern sehr wohl auch generelle Entscheidungen, in Form echter allgemeiner Gesetze, gibt, bei denen der berühmte «Schleier des Nichtwissens» (Rawls46) nicht gilt, wo also bereits vor der Entscheidung objektiv feststeht und auch den Entscheidenden subjektiv bekannt ist, wer von einem bestimmten Vorschlag sicher begünstigt und wer sicher belastet werde.

[18]

Jedenfalls47 in einer derartigen Situation a priori ungleicher48 und als solcher allgemein bekannter konkreter Betroffenheiten stößt aber der Einsatz des Mehrheitskriteriums im Rahmen egalitärer Partizipation des gesamten «demos» an seine gegenwärtige natürliche ethische Grenze:49

[19]
Denn es entscheidet zwar auch ein Parlament letztlich durch Mehrheitsbeschluss.
[20]

Allerdings sind, zumindest der Idee nach50, Parlamentsabgeordnete doch nicht lediglich Vertreter eines bestimmten Partikularinteresses, sondern, wie es paradigmatisch etwa in Art 38 Abs 1 dGG51 heißt, «Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen». Sie sind aufgrund dieser ihrer klaren Verpflichtung auf das Gemeinwohl52 immerhin noch eher53 zumindest auch Wahrer der Rechte selbst von zum Abstimmungszeitpunkt bereits feststehenden und bekannten Minderheiten54 als die je einzelnen Mitglieder des direkt über Sachfragen abstimmungsberechtigten Volkes selbst, denen die gegenwärtigen Verfassungen – anders als noch Rousseau55 – eine derartige, die je individuelle, auch ganz egoistische Perspektive übersteigende Gesamtverantwortung für die Bildung des «Gemeinwillens»56 realistischerweise57 nicht einmal mehr im Ansatz58 zuweisen.59

 


 

Alexander Balthasar, Leiter des Instituts für Staatsorganisation und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt. Dieser Beitrag fußt auf der Rohstudie «Direkte Demokratie im Bereich der Legislative mit besonderem vergleichenden Blick auf die Verfassungsrechtslage in den anderen EU-Staaten» des Bundeskanzleramtes, Institut für Staatsorganisation und Verwaltungsreform (http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=49277).

 


 

  1. 1 Art 1 B-VG (demokratische Republik»), Art 2 EUV (die dort genannten Werte, darunter – freilich nur als einer von mehreren – auch «Demokratie», sind «allen Mitgliedstaaten … gemeinsam).
  2. 2 Adamovich/ Funk/ Holzinger/ Frank, Österreichisches Staatsrecht 12 (2011), Rz 11.001; H. Mayer, Bundes-Verfassungsrecht. Kommentar4 (2007), 3.
  3. 3 Für das B-VG vgl Art 2 und Art 3, aber auch Art 120a-120c B-VG; für die EU Art 1 und Art 4 Abs 2 EUV. Konsequenterweise gibt es auch den Begriff der «Demoi-kratie», um eine Mehrzahl der Staatsvölker hervorzuheben (mit Blick auf die EU: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland IV [2012], 624 [do FN 116]; M. Mayer, Die Europafunktion der nationalen Parlamente in der Europäischen Union [2012], 45 [do FN49]; Cheneval Schimmelpfennig, The Case for Democracy in the EU, Paper prepared for EUSA Conference Boston, 2011 [http://euce.org/eusa/2011/papers/8h_cheneval.pdf]; mit Blick auf die Schweiz Abromeit, Probleme einer Demokratisierung der EU, in: Bandelow/ Bleek [Hrsg], Einzelinteressen und Kollektives Handeln in Modernen Demokratien = FS Widmaier [2007], 13ff, 23).
  4. 4 Aus diesem Begriff ergeben sich zumindest drei sub titulo «Identität» erhebliche Exklusionen, einmal der im Staatsgebiet ansässigen Fremden, zum andern der (vornehmlich wegen ihrer Jugend) nicht stimmberechtigten Bürger (zumal nach gängiger Auffassung auch deren Partizipation an der «Herrschaft» nicht von ihren gesetzlichen Vertretern wahrgenommen werden darf), zum dritten aber der im Staatsgebiet ansässigen juristischen Personen (womit, in unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, gerade die Träger der größten Vermögen und damit Wirtschaftsmacht als solche von der legalen Herrschaftsausübung vollständig ferngehalten werden; auch unsere «Demokratie» ist damit als «Herrschaft der Armen» [Aristoteles, Politik, 1280a 3] gekennzeichnet, was die Bildung einer «volonté générale [siehe unten FN 56] erschweren mag).
  5. 5 Das Synonym für «Tyrannis», «Willkürherrschaft», bildet keineswegs primär das Gegenteil gerade nur zur «Demokratie», sondern ganz allgemein zu einem jeden «Rechtsstaat»; demgemäß bietet die Geschichte unzählige Kämpfe gegen Tyrannen auch ohne spezifisch demokratische Zielsetzung.
  6. 6 Abromeit, Probleme, 14. In aller Regel war die Tyrannis in der Person eines bestimmten Monarchen (Autokraten) verkörpert (so schon Aristoteles, Politik, 1279b 7f); die «Wende» in Osteuropa 1989ff richtete sich jedoch gegen als tyrannisch empfundene Parteienherrschaft (mit klerikalen Zügen).
  7. 7 Dagegen erscheint eine sittliche Autarkie eines jeden Einzelnen zumindest lebbar, und auch die nationalökonomischen Modelle beruhen in aller Regel lediglich auf bilateralen Kontrakten.
  8. 8 Die konzeptuell verwandte «Anerkennungstheorie» begnügt sich, für die Zwecke der Geltungsbegründung einer (keineswegs notwendigerweise demokratischen) Rechtsordnung, dagegen mit einem wesentlich schwächeren Grad an Zustimmung: der bloßen «acquiescence» (Balthasar, Die österreichische bundesverfassungsrechtliche Grundordnung [2006], 52 [do FN 206]).
  9. 9 Striktes «Kongruenz-Prinzip», siehe etwa Abromeit, Probleme, 16. Eigentlich ist jedoch geeigneter Ort der Berücksichtigung qualitativ ganz unterschiedlicher Grade konkreter Betroffenheit ein behördliches Verfahren mit gewichteter Parteistellung, während die abstrakte Betroffenheit durch einen Legislativ-Akt bereits mit der Bürger-Eigenschaft als solcher anzunehmen wäre: das Rechtsprinzip «quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari» stammt denn auch ursprünglich aus der zivilrechtlichen Sphäre (Linglois, Quinquaginta Decisiones Imperatoris Justiniani [1622], 81) und gelangte erst über Papst Bonifaz VIII. (Liber Sextus 5.12.29) in politische Bezüge (siehe für diese Bruckmüller, Wurzeln des modernen Parlamentarismus [http://www.bka.gv.at/site/7769/default.aspx]). Vgl auch Balthasar, Die Gewährleistung rechtlicher Beteiligung im Verwaltungsverfahren – eine zunehmende Herausforderung, in: Matzka (Hrsg), E-Partizipation im Verwaltungsverfahren (2011), 15ff, 17ff, sowie unten FN 46.
  10. 10 Siehe unten FN 57 und 59.
  11. 11 Entgegen vielleicht populärem Missverständnis heißt es eben gerade nicht einfach «Polloi-Kratie». Zum komplexen Verhältnis von «Demokratie» und «Mehrheitsprinzip» siehe näher Balthasar, Grundordnung, 352ff, 364ff, mwNw.
  12. 12 Die Landesebene ist bundesverfassungsrechtlich nicht geregelt, jedoch ermächtigt Art 117 Abs 8 B-VG den einfachen Landesgesetzgeber, im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden «die unmittelbare Teilnahme und Mitwirkung der zum Gemeinderat Wahlberechtigten vor[zu]sehen». Diese Ebene bleibt jedoch im Folgenden, da nach hA nicht der Legislative zugehörig, außer Betracht.
  13. 13 Art 42 Abs 1, Abs 5, Art 44 Abs 1 B-VG. Vgl auch Art 3 Abs 4 oder Art 30 Abs 2 B-VG.
  14. 14 Art 42 Abs 2, Abs 3 (Einspruchsrecht), Art 35 Abs 4 bzw Art 44 Abs 2 (Zustimmungsrechte) B-VG.
  15. 15 Bemerkenswerterweise schreibt Art 42a B-VG den Ländern nicht die Befassung ihrer Landtage vor.
  16. 16 Art 50 Abs 1 Z 1 B-VG idF BGBl I 2008/2 (keine Genehmigung mehr als «verfassungsändernd»!).
  17. 17 Art 50 Abs 1 Z 2 B-VG. Die Mitwirkung des NR und des BR nach Art 48 Abs 6 und 7 EUV (dh an Beschlüssen des Europäischen Rates) richtet sich dagegen nach Art 23f Abs 1 B-VG.
  18. 18 Direkte (gegebene oder denkbare) Beteiligungen in anderen Staatsfunktionen (etwa nach Art 60 Abs 1 bzw Abs 6 B-VG oder nach Art 91 Abs 1 B-VG (bzw in der Gebarungskontrolle) bleiben hier unberücksichtigt.
  19. 19 Bußjäger, Glosse zu Art 41 B-VG, in: Kneihs/Lienbacher [Hrsg], Rill-Schäffer-Kommentar (6. Lfg 2010), Rz 52. Dies stellt eine naheliegende Konsequenz aus der Natur Österreichs als eines Staates, der über seine Verfassung selbst – in der Form eines «Gesetzes» (vgl: Art 44 Abs 3 B-VG «nach Beendigung des Verfahrens gemäß Art. 42») – verfügt, dar. Auch die EU bewegt sich in den Verfahren nach Art 48 Abs 6 und Abs 7 EUV bereits in diese Richtung, vgl EuGH (Plenum), Urteil vom 27. 11. 2012, C-370/12 (Pringle), Rz 31, 33ff.
  20. 20 Merli, Glosse zu Art 49b, in: Korinek/Holoubek (Hrsg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (1 . Lfg 1999), Rz 18f; aA Mayer, B-VG, 236.
  21. 21 Trennung zwischen politischer und verfahrensrechtlicher Partizipation (vgl oben FN 10).
  22. 22 Hiefür ist eine «Mehrheit seiner Mitglieder» nicht erforderlich, vielmehr genügt «die unbedingte Mehrheit der abgegebenen Stimmen» bei «Anwesenheit von mindestens einem Drittel der Mitglieder» (Art 31 B-VG iVm §§ 82, 84 GOG-NR), also ein Sechstel.
  23. 23 Damit kann eine Obstruktion des Präsidiums des NR umgangen werden. Das Quorum ist allerdings deutlich höher als im Alternativfall (siehe gerade vorige FN).
  24. 24 Art 46 Abs 1 iVm Art 67 Abs 1, ggf auch iVm Art 49b Abs 3 B-VG. Angesichts des Abstellens auf einen «Beschluss» des NR bzw ein «Verlangen» einer gewissen Anzahl von Abgeordneten in Art 43 bzw in Art 44 Abs 3 zweitem Fall B-VG kommt dem BPräs hinsichtlich der Anordnung von Volksabstimmungen über einfache Bundesgesetze und einfaches Bundesverfassungsrecht zwar eine Befugnis zur rechtlichen Prüfung, jedoch kein politisches Ermessen zu (Merli, Art 49b, Rz 36). Anders ist allerdings der Wortlaut bei der Anordnung der Volksabstimmung über eine Gesamtänderung (Art 44 Abs 3 erster Fall B-VG).
  25. 25 Überschrift des Abschnittes E des Zweiten Hauptstückes des B-VG. Lässt sich diese klare formale Unterscheidung wirklich durch ein Umpolen des Gegenstandes der direktdemokratischen Elemente auf ein (fiktives) in eadem re zu erlassendes Bundes(verfassungs)gesetz überspielen (so aber Merli, Glosse zu Art 41 Abs 2 B-VG, in: Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht [1. Lfg 1999], Rz 15; id, Art 49b, Rz 17; Bußjäger, Glosse zu Art 41 B-VG, in: Rill-Schäffer-Kommentar [3. Lfg 2004], Rz 53)?
  26. 26 Anders als in einigen Landesverfassungen enthaltenen Regelung (siehe unten FN 33) fehlt auf Bundesebene bisher auch die Verknüpfung eines «Volksbegehrens» mit einer bloßen «Volksbefragung».
  27. 27 Erkenntnis vom 28. Juni 2001, G 103/00.
  28. 28 Tatsächlich wurde lediglich die Wortfolge «oder das Landesvolk durch Volksabstimmung entschieden» in Art 33 Abs 6 vbg LV aF aufgehoben; gleichwohl dürfte sich, in (bundes-)verfassungskonformer Interpretation, nunmehr der normative Gehalt des in Art 33 Abs 5 const cit weiterhin enthaltenen Begriffes «Volksabstimmung» auf jenen einer den LT nicht bindenden «Volksbefragung» reduziert haben (vgl zu Art  70 stmk L-VG FN 33).
  29. 29 Dh die Option, «dass eine von der Mehrheit der Stimmberechtigten unterstützte Gesetzesinitiative auch gegen den Willen (der Mehrhei) des Landtages «zum Gesetz wird».
  30. 30 Die Diktion deutet auf eine grundordnungsrechtliche Hürde hin, auch wenn die Bezugnahme auf VfSlg 13.500 (vgl auch schon die seinerzeitige Wortwahl in VfSlg 11.500) auch eine andere Lesart erlaubt.
  31. 31 Art 30, 33, 67, 68 bgld L-VG; Art 31 Abs 2, Art 34, 43 K-LVG; Art 26, 27f, 46, 47a nö LV; Art 59f oö L-VG; Art 5 Abs 1, 21 Abs 2, 22 Abs 4, 23 Abs 2, 29 Abs 3 sbg L-VG; Art 69f, 72 - 75 stmk L-VG; Art 37, 39 tir LO; Art 33, 35, 57, 58 vbg LV; §§ 112a-112h, 131b und 131c wr StV.
  32. 32 Selbst dort, wo eine Volksabstimmung direkt vom Volk initiiert werden kann, richtet sich diese nicht auf den Inhalt eines Volksbegehrens, sondern auf einen vom Landtag bereits gefassten Gesetzesbeschluss (Art 33 Abs 1 bgld L-VG; Art 27f nö LV; Art 72 Abs 1 Z 2 lit a stmk L-VG; Art 39 Abs 1 tir LO; Art 35 Abs 1 lit a vbg LV); alternativ oder kumulativ dazu kann die Nichtentsprechung eines Volksbegehrens durch den LT zu einer Volksbefragung – mit im Erfolgsfalle verstärkter Behandlungspflicht durch den LT – führen (Art 59 Abs 5 oö L-VG; Art 70 stmk L-VG, Art 33 Abs 5 vbg LV, trotz der in den beiden letzteren Fällen jeweils irreführenden Bezeichnung «Volksabstimmung»).
  33. 33 Siehe näher Wiegand, Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte (2006).
  34. 34 Siehe näher Rohner, Die Wirksamkeit von Volksinitiativen im Bund 1848 – 2010 (2012); Kaufmann/ Büchi/ Braun, Guide (de l’Institut Européen sur l’Initiative et le Référendum) de la démocratie directe en suisse et au-delà (2007), aber auch Wiegand, Direktdemokratische Elemente, 495ff.
  35. 35 Diese (vom 11. 8. 1919) lag zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über das B-VG am 1. 10 1920 bereits vor. Daraus – iVm der seinerzeitigen einhelligen politischen Perspektive einer Eingliederung «Deutsch-Österreichs» in das Deutsche Reich und damit auch in dessen damalige Verfassung – erklärt sich wohl der in VfSlg 16.241 hervorgehobene Umstand, dass zunächst «die meisten Vorentwürfe zu Art 43 B-VG» jedenfalls ein «Vetoreferendum» vorsahen; siehe näher etwa Merli, Art 43 B-VG, Rz 3.
  36. 36 Das dGG, das selbst einen nicht nur gegenüber der WRV, sondern auch gegenüber dem B-VG deutlich niedrigeren Standard direktdemokratischer Instrumente aufweist, duldet also, trotz seiner im Vergleich zu Art 99 Abs 1 B-VG («insoweit dadurch die Bundesverfassung nicht berührt wird») strengeren Formel des Art 31 («Bundesrecht bricht Landesrecht») «direkte Volksgesetzgebung» in den Länderverfassungen, während, nach VfSlg 16.241, diese in Österreich auch in den Ländern verboten ist. Die gegenwärtige deutsche – gespaltene – Position gleicht insoweit derjenigen der USA (vgl Wiegand, Direktdemokratische Elemente, 505).
  37. 37 Auf Bundesebene gibt es allerdings derzeit keine «allgemeine Volksinitiative» (auf Änderung auch des einfachen Gesetzesrechts) ; eine solche wurde zwar seit mehr als hundert Jahren erwogen, endlich auch am 9. Februar 2003 mit großer Mehrheit angenommen, jedoch bereits mit Volksabstimmung vom 27. September 2009 wieder gestrichen, da sich die prozedurale Ausgestaltung als zu kompliziert erwies (Rohner, Wirksamkeit, 12ff; es ist aber nicht verboten, solche Inhalte als Begehren auf Teilrevision der Verfassung zu betreiben [ ib, 27f]).
  38. 38 Kritisch hinsichtlich einer Verengung des Demokratiebegriffs auf die «Repräsentationstechnik des Parlamentarismus» schon seinerzeit Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer Grundriß (1935), 3ff.
  39. 39 Für eine Einzel-Darstellung der jeweiligen Rechtslage siehe die Rohstudie (FN 1).
  40. 40 Etwa für den Übergang zu einer ganz neuen Verfassung, für einen (ja bereits erfolgten) Beitritt zur EU, für eine Neugliederung des Staatsgebietes, für bislang nie erfolgte Verfassungsänderungen oder lediglich für eine Verlängerung der Parlamentsperiode.
  41. 41 Die Formulierung scheint hier deutlich anders zu sein als etwa in Art 95c Abs 1 slowakV, wo ein Referendum vom Staatspräsidenten angeordnet wird, wenn dies durch eine ausreichend unterstützte Petition beantragt wird.
  42. 42 Hinter der in VfSlg 16.241 gegebenen, formalen Begründung mögen eben diese Problemzonen gestanden sein.
  43. 43 A) Frage nach dem Verhältnis von Volks- zu Parlamentsgesetzgebung: vermag das Parlament das Ergebnis einer Volksabstimmung bereits in der nachfolgenden logischen Sekunde zu korrigieren oder bestehen Hürden (etwa Sperrfristen, höhere Quoren)? Ersteres schwächt die demokratische Legitimität des Parlaments, letzteres die Funktionsfähigkeit der Gesetzgebung, vor allem bei Einbeziehung auch materieller Derogationswirkungen. B) Wird «das Volk» stets als «Souverän» begriffen, auch dann, wenn es auf tieferen legislativen Stufen waltet, dann könnte ein unangebrachtes Zurückweichen der Verfassungsgerichtsbarkeit die Folge sein.
  44. 44 Auch die EU ist diesem Paradigma sichtlich gefolgt, als sie die Geltung des Art 11 Abs 4 EUV für den EURATOM-Vertrag ausdrücklich – durch Nichtaufnahme in den Art 106a EURATOM – ausgeschlossen hat.
  45. 45 Diese sind eigentlich mittels je individueller Zumutbarkeitsprüfung in behördlichen Verfahren abzuhandeln (siehe oben FN 10). Auch wenn aber einmal die Führung von Individualverfahren bei sehr hohen Beteiligtenzahlen an ihre natürliche Grenze stoßen und deshalb ausnahmsweise die betreffende Entscheidung Parlamenten in der Form allgemeiner Gesetzgebung anvertraut werden sollte (wie etwa in Art 2 Abs 2, letztem Satz der Aarhus-Konvention [BGBl III 2005/88] bzw Art 1 Abs 5 der RL 85/337/EWG), dann heißt dies noch nicht, dass deshalb auch gleich die Entscheidung solcher Angelegenheiten in direkter Volksgesetzgebung zulässig wäre. Vielmehr wäre es wohl richtiger, den im Kern judikativen Charakter solcher konkreter Parlamentsentscheidungen (und damit die Mehrfachfunktionalität auch unserer modernen Parlamente) stärker herauszuarbeiten (idR das zu den gerade genannten Rechtsgrundlagen ergangene Urteil des EuGH vom 18. Oktober 2011, C-128/09 et al [Boxus], insbes Rz 53; siehe Balthasar, Neues von Aarhus, IRIS 2012, 221ff).
  46. 46 Eine Theorie der Gerechtigkeit (dt 1979), 159ff. Rawls beruft sich hier auf von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gemachte Voraussetzungen. Vgl jedoch, expliziter, Kant, Zum ewigen Frieden (hrsg und kommentiert von Eberl/Niesen, 2011), 23 (AkAusg VIII 352; HniO), mit Blick auf die direkte Demokratie (wie aus den unmittelbar nachfolgenden Ausführungen über die repräsentative Regierungsform hervorgeht): «Unter den drei Staatsformen» (dh «Autokratie, Aristokratie und Demokratie») «ist die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Worts, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist» (vgl hiezu auch Eberl/Niesen, Kommentar, 218f).
  47. 47 Auch andere ethische Fehlhaltungen (wie etwa die Degenerierung der Partizipation zum Gesellschafts-Spiel) sind natürlich denkbar, sollen hier jedoch außer Betracht bleiben.
  48. 48 Der Gleichheitssatz ist nicht zufällig Zentralnorm sowohl des demokratischen wie des rechtsstaatlichen Bauprinzips, insbesondere der Grundrechtsordnung und steht daher «auch dem Verfassungsgesetzgeber im Sinn des Art 44 Abs 1 B-VG … nicht zur beliebigen Disposition» (cit VfSlg 15.373), gehört also in seinem Kern der bundesverfassungsrechtlichen Grundordnung an. Tatsächlich wäre wohl die in VfSlg 15.373 gegenständlich gewesene Rückwirkung nicht nur unter dem (dort allein thematisierten) Gesichtspunkt des «Vertrauensschutzes», sondern, schärfer, unter dem des bei rückwirkenden Normen der Natur der Sache nach unwirksamen «Schleiers des Nichtwissens» zu problematisieren gewesen. Auch das im Anwendungsbereich des Art 5 StGG/Art 1 1. ZP EMRK verpönte «Sonderopfer» (siehe etwa Mayer, B-VG, 594) wird durch Mehrheitsentscheidungen bei «gelüftetem Schleier» strukturell begünstigt. Colliot-Thélène, Demokratie ohne Volk (dt 2011), sieht überhaupt den «ganzen Sinn der modernen Demokratie» nur mehr in der «Forderung nach Gleichheit der Rechte» (195f).
  49. 49 Siehe, wenngleich weniger von einem normativen, denn von einem empirisch-sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus, jüngst etwa Christmann, Die Grenzen direkter Demokratie. Volksentscheide im Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat (2012).
  50. 50 Dies findet sich bereits bei Sieyès so ausgesprochen, fand Eingang in Titel III, Kapitel 1, Abschnitt 3, Art 7 der französischen Verfassung 1791 und, nach diesem Vorbild, in weitere europäische Verfassungen; vgl, mit Blick auf Art 20f WRV, Poetzsch-Heffter, Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 19193 (1928), 161.
  51. 51 Auch nach Art 10 Abs 2 bzw Art 14 Abs 2 EUV sind die «Bürger … auf Unionsebene unmittelbar im» EP «vertreten bzw setzt sich das EP «aus Vertretern der … Unionsbürger zusammen». Das B-VG jedoch enthält zwar die mit diesem Kerngedanken der Gesamt-Repräsentation eng verbundene Gewährleistung des «freien Mandats» (Art 56 Abs 1), nicht aber diesen Kerngedanken selbst. Diese Auslassung lässt sich als Indiz einer etwas größeren Offenheit des demokratischen Bauprinzips des B-VG für rätedemokratische Elemente, wie insbesondere für das «imperative Mandat», deuten (Balthasar, Grundordnung, 267ff), nicht jedoch deswegen auch schon als Abstandnahme vom Konzept der «volonté générale» (siehe gleich unten FN 56); vielmehr weist sogar, genau gegenteilig, die 1920 beispielgebend gewesene Ausgestaltung der generellen Normenkontrolle als effektiver Schutzmechanismus auf eine Bekräftigung dieses Konzepts (und Absage an deren Vermengung mit der «volonté de tous») hin (siehe aaO, 374ff).
  52. 52 Bereits Aristoteles erachtete nur solche Regierungsformen, die auf das «Gemeinwohl» bezogen waren, als «gerecht» (Politik, 1279a 18-20). Der Inhalt des «bonum commune» bedarf naturgemäß (ebenso wie sein Ausfluss, das «suum cuique») näherer Determinanten; gerade solche bieten aber die hochrangigen Schichten unserer gegenwärtigen Rechtsordnung (Grundwerte, Staatsziele und insbes Grundrechte) mittlerweile im Überfluss. Vielleicht nimmt eben deshalb seit einigen Jahren die Rede vom «Gemeinwohl» wieder zu? Vgl etwa Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats4 (1994), 678 (Nachwort; HniO): «Das demokratische Rechtssetzungsverfahren ist darauf angelegt, daß die Staatsbürger von ihren Kommunikations- und Teilhaberechten auch einen gemeinwohlorientierten Gebrauch machen …», und Offe, Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?, in: Wingert/ Günther (Hrsg), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit = FS Habermas (2001), 459ff, insbes 486ff, sowie Dworkin, Gleichheit, Demokratie und die Verfassung: Wir, das Volk, und die Richter, in: Preuß (Hrsg), zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen (1994), 171ff, insbes 194ff, zum Unterschied zwischen «gemeinschaftlicher» und «bloß statistischer Demokratie» (HniO).
  53. 53 Abgeordnete sind überdies von den meisten ihrer eigenen Beschlüsse zumindest weniger direkt betroffen – und damit aber auch weniger persönlich «befangen» – als die von ihnen repräsentierten Wähler. Ihre Kommunikationsbedingungen entsprechen daher auch deswegen wohl noch eher jener «idealen Sprechsituation», die Habermas nicht nur als Vorbedingung für die Wirksamkeit konsensualer Wahrheitsfindung (siehe etwa seine Entgegnung in: Honneth/ Joas [Hrsg], Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas» «Theorie des kommunikativen Handelns» [2002], 327ff, 352), sondern auch für die Legitimität der Rechtserzeugung (vgl Faktizität und Geltung, 674: «kontrafaktische Idee allgemeiner Zustimmungsfähigkeit» [HniO]) sieht. Nur scheinbar im Gegensatz hiezu denkt Offe (Gemeinwohl, 488 [HniO]) primär an jene Bürger, die sich «hinter einem «Schleier der Unmaßgeblichkeit … entscheiden» und es sich deshalb leisten können, «von Interessensgesichtspunkten abzusehen»; Für das Feld praktisch wirksamer Politik vgl jedoch Kohler-Koch/ Quittkat, Die Entzauberung partizipativer Demokratie. Zur Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung von EU-Governance (2011).
  54. 54 Die Wahrung der «Rechte der Personen, die Minderheiten angehören», wiederum stellt spätestens seit dem In-Krafttreten des Vertrages von Lissabon nach Art 2 EUV (auch in rein mitgliedsstaatlichen Bezügen) einen eigenen Grund-«Wert» dar, und zwar im gleichen Rang wie jener der «Demokratie». Dieser Grund-Wert limitiert damit insoweit die Zulässigkeit des Einsatzes des Instruments des Mehrheitsbeschlusses gerade dann, wenn man «Demokratie» als «Herrschaft der Mehrheit» (vgl oben FN 12) missversteht.
  55. 55 Rousseau hat bekanntlich im «Gesellschaftsvertrag» dieses Problem gesehen, und versucht, ihm mit der berühmten Unterscheidung zwischen «volonté générale» und «volonté de tous» beizukommen: Der erstere Wille müsse «von allen ausgehen …, um auf alle angewendet zu werden» (II/4; auf diese Stelle bezieht sich auch Rawls, Theorie, 163), blicke «nur auf das gemeinsame Interesse» (II/3) und verliere «seine natürliche Richtigkeit, sobald er nach einem individuellen und bestimmten Ziel strebt» (II/4), letztere «nur auf das private» (II/3); demnach gebe es eigentlich nur einen einzigen Gemeinwillen («’volonté générale»), und die Mehrheitsentscheidung stelle keine Dezision, sondern nur ein Gutachten (eine Meinungsumfrage) über den genauen Inhalt des – bereits vor der Fällung des Mehrheitsvotums existenten – Gemeinwillens dar (IV/2). Rousseau hält überdies fest (III/4): «Nichts ist bei Staatsangelegenheiten gefährlicher als der Einfluss der Privatinteressen», vermag jedoch selbst nicht zu garantieren, dass die hiefür erforderliche moralische Grundhaltung («Tugend») auch nur bei der Mehrheit (der direkt Abstimmenden) vorhanden sei (II/4, IV/2). Dies gilt letztlich auch für Kant, der ja einerseits sogar privates Handeln nur bei Kompatibilität mit dem Gemeinwohl als moralisch anerkennt (vgl sein «Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft», Kritik der praktischen Vernunft, § 7), andererseits keinerlei Gewähr für die Befolgung dieses «moralischen Gesetzes» durch den Einzelnen (oder gar den gegenbeteiligten Anderen) bieten kann, höbe eine solche doch die Freiheit des Menschen als eines moralischen Subjektes auf (vgl Klemme, Einführung zu der von ihm besorgten Ausgabe dieser Kritik [2003], Xf); auch hier könnte man freilich bereits auf Aristoteles (Topik, 163b 12-16) verweisen.
  56. 56 Nur die Unterwerfung unter diesen bewirkt keine Heteronomie, vgl Rousseau, Gesellschaftsvertrag, IV/2: «Sobald … die Meinung siegt, die meiner entgegengesetzt ist, beweist das nichts anderes, als daß ich mich getäuscht habe. Was ich für den Gemeinwillen hielt, war es nicht. Hätte meine private Meinung den Sieg davongetragen, so hätte ich etwas anderes getan, als ich wollte. Gerade dann wäre ich nicht frei gewesen». Ähnlich Levinas, Humanismus und An-Archie, in: Ders, Humanismus des anderen Menschen (hrsg, eingeleitet und übersetzt von Wenzler, 2005), 61ff, 77 (HniO): «Gerade durch das Gute ist die Verpflichtung zur … auf keine Wahl» (des betreffenden Einzelnen) «zurückgehenden Verantwortung keine Gewalt…, die einer Wahl zuwiderlaufen würde …«. Diese Sichtweise ist letztlich ganz traditionell (vgl schon die Antwort Thomas von Aquins zur geminderten Bindungskraft gemeinwohlwidriger Gesetze [Summa Theologica I/2, Quaestio XCVI, Art IV]).
  57. 57 ’Eine politisch fungierende Öffentlichkeit … ist auch … auf die politische Kultur einer an Freiheit gewöhnten Bevölkerung angewiesen» (cit Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1990], Vorwort zur Neuauflage, 45 [HiO]). Eben diese Voraussetzung liegt aber, nach Habermas» eigener Einschätzung, jedenfalls in den «modernen westlichen Demokratien» (Anm: vielleicht mit Ausnahme der Schweiz?) jedenfalls bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht vor (siehe aaO, insbes 28f, 32ff, 37f).
  58. 58 Angesichts eines derartigen prinzipiellen Befundes hülfe in solchen Konstellationen auch die Anwendung des von Habermas vorgeschlagenen, Rousseau (vorvorige FN) abschwächenden Fehlerkalküls ( (Der Inhalt einer «Mehrheitsentscheidung darf nur» als «das rational motivierte, aber fehlbare Ergebnis einer … vorläufig beendeten Diskussion über die richtige Lösung eines Problems gelten …» [Strukturwandel, Vorwort zur Neuauflage, 42; HniO]) nicht.
  59. 59 Dieses – skeptische – Verständnis von «Demokratie» findet sich bereits bei Aristoteles, Politik, 1279b 8f.