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Informatische Modellierung der Prinzipien des Gesetzlichen Gestaltungsspielraums im Hinblick auf Wahlsysteme

  • Authors: Stephan Neumann / Anna Kahlert / Maria Henning / Hugo Jonker / Melanie Volkamer
  • Category: Articles
  • Region: Germany, Luxembourg
  • Field of law: E-Democracy
  • Collection: Tagungsband-IRIS-2013
  • Citation: Stephan Neumann / Anna Kahlert / Maria Henning / Hugo Jonker / Melanie Volkamer, Informatische Modellierung der Prinzipien des Gesetzlichen Gestaltungsspielraums im Hinblick auf Wahlsysteme, in: Jusletter IT 20 February 2013
Die zunehmende Mobilität der Gesellschaft führt zu einer Veränderung des Wahlverhaltens. Um dieser gesellschaftlichen Tendenz auch unter Einbeziehung des aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG folgenden Demokratieprinzips Rechnung zu tragen, führte der Bundesgesetzgeber im Jahr 1956 die Briefwahl ein. Während das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl unter Berufung auf den gesetzlichen Gestaltungsspielraum mehrfach feststellte, konnte die Verfassungsmäßigkeit der bei der Bundestagswahl 2005 eingesetzten elektronischen Wahlgeräte aufgrund des Fehlens einer jedermann zugänglichen Kontrollmöglichkeit nicht belegt werden. Ziel dieser Arbeit ist die Identifizierung der Prinzipien des gesetzlichen Gestaltungsspielraums sowie deren informatische Modellierung. Auf Basis dieser Modellierung soll die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit technischer Vorschläge zur Umsetzung elektronischer Wahlen ermöglicht sowie daraus resultierend deren interdisziplinäre Weiterentwicklung unterstützt werden.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Erläuterung des gesetzlichen Gestaltungsspielraums
  • 3. Grundlagen der Modellierung
  • 4. Modellierung der Prinzipien des gesetzlichen Gestaltungsspielraums
  • 5. Herleitung des Grads der Umsetzung für die einzelnen Wahlgrundsätze
  • 5.1. Ableitung konkreter Anforderungen
  • 5.2. Allgemeines Vorgehen zur Bestimmung des Grads der Umsetzung von Anforderungen
  • 5.3. Bestimmung des Grads der Umsetzung für Sicherheitsanforderungen
  • 5.4. Zusammenführung der einzelnen Anforderungen
  • 6. Fazit und Ausblick

1.

Einleitung ^

[1]

Die Durchführung regelmäßiger Parlamentswahlen ist unerlässlich für die Ausübung der Souveränität durch das Volk und zugleich Ausdruck einer demokratischen Staatsform. In der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ist die wesentliche Entscheidung für eine Demokratie in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG getroffen. Danach geht alle Staatsgewalt vom Volke aus und wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Nachdem der Gesetzgeber bei Erlass des Bundeswahlgesetzes (BWG) im Jahr 1956 noch von der grundsätzlichen Durchführung einer Papierwahl ausgegangen war, bei der die Stimmabgabe des Wählers in einem Wahlraum seines Wahlbezirks erfolgt, wurde jedoch bereits im Jahr 1957 die Möglichkeit der Briefwahl etabliert. Diese war allerdings nur in begründeten Ausnahmefällen gestattet. In den folgenden Jahren zeigte sich, dass vor allem aufgrund der wachsenden Mobilität der Gesellschaft die Anzahl der Briefwähler anstieg. Die Briefwahl stellte sich zunehmend nicht als eine bloße Ausnahme zu der konventionellen Präsenzwahl dar.1 Im Jahr 1967 entschied das Bundesverfassungsgericht erstmals über die Verfassungsmäßigkeit der Briefwahl und urteilte, dass hierdurch nicht gegen die Grundsätze der freien und geheimen Wahl verstoßen wird.2 Eine Beeinträchtigung der geheimen Wahl ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts vielmehr durch die Erhöhung der Wahlteilnahme, mithin durch die Gewährleistung des Grundsatzes der allgemeinen Wahl hinzunehmen. Ausgehend von der durch Art. 38 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich vorgegebenen Gesetzgebungskompetenz konstatiert das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber daher einen Gestaltungsspielraum bei der Ausgestaltung des Wahlrechts3, insbesondere auch bei der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem. Dass der Gestaltungsspielraum Grenzen hat, zeigt das Bundesverfassungsgericht mit dem «Wahlcomputerurteil»4 vom 3.3.2009, in dem es die Geräte des privaten Unternehmens Nedap anlässlich ihres Einsatzes bei der Bundestagswahl 2005 für verfassungswidrig erklärte. Dabei hat das Gericht seine Entscheidung auf das Fehlen einer jedermann zugänglichen Kontrollmöglichkeit der wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und Ergebnisermittlung gestützt. So argumentiert das Gericht: «Der Ausschluss unbewusst falscher Stimmzettelkennzeichnungen, unbeabsichtigter Zählfehler und unzutreffender Deutungen des Wählerwillens bei der Stimmenauszählung rechtfertigt für sich genommen nicht den Verzicht auf jegliche Art der Nachvollziehbarkeit des Wahlakts.» Daher empfiehlt es sich, die Verfassungsmäßigkeit des Gestaltungsspielraums für jede Art der Wahldurchführung und damit auch für die Verwendung eines konkreten elektronischen Wahlsystems vor der jeweiligen Einführung zu prüfen. Ziel dieser Arbeit ist der Entwurf einer Vorgehensweise zur Unterstützung eines interdisziplinären Dialogs für die Beurteilung von elektronischen Wahlsystemen. Dazu wird zunächst eine informatische Modellierung der Prinzipien des gesetzlichen Gestaltungsspielraums anhand des Grads der Umsetzung einzelner Wahlrechtsgrundsätze durchgeführt. Dabei dient das jetzige Wahlsystem als Referenzsystem. Schließlich gehen die Autoren auf die Herleitung der Umsetzungsgrade einzelner Wahlrechtsgrundsätze anhand konkretisierter Anforderungen ein.

2.

Erläuterung des gesetzlichen Gestaltungsspielraums ^

[2]

Die Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages ist verfassungsrechtlich in Art. 38 GG festgelegt. Maßgeblich sind insbesondere die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Wahlrechtsgrundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Als sechster Wahlgrundsatz ist die öffentliche Wahl nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 2 GG anerkannt.5 Gemäß Art. 38 Abs. 3 GG bestimmt ein Bundesgesetz Näheres zu den Bundestagswahlen. Dabei enthält Art. 38 Abs. 3 GG keinen Gesetzesvorbehalt, sondern berechtigt und verpflichtet den Bundesgesetzgeber zum Erlass eines Ausführungsgesetzes.6 Diesem Auftrag ist er durch Verabschiedung des Bundeswahlgesetzes nachgekommen. Folglich stellt Art. 38 Abs. 3 GG eine Kompetenznorm dar, die dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zur Ausgestaltung des Wahlrechts der Bundesrepublik Deutschland überträgt.7

[3]

Bei der Ausgestaltung der Materie des Wahlrechts ist der Gesetzgeber grundsätzlich an die verfassungsrechtlichen Vorgaben gebunden, sodass insbesondere die Wahlrechtsgrundsätze berücksichtigt werden müssen. Bei dem Bestreben, alle Wahlgrundsätze zu verwirklichen, kann es allerdings zu Kollisionen der Grundsätze untereinander kommen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts können die Wahlgrundsätze nicht stets «in voller Reinheit verwirklicht werden».8 Dem Gesetzgeber eröffnet sich aus dem Zwang zur Ausbalancierung der verschiedenen Wahlrechtsgrundsätze daher ein (weiter) Gestaltungsspielraum.9 Kollidierende Wahlgrundsätze müssen einander hierbei so zugeordnet werden, dass jeder von ihnen in bestmöglicher Weise erfüllt wird.10 Mithin ist im Rahmen der Abwägung der allgemeine Grundsatz der Einheit der Verfassung11 zu berücksichtigen. Hiernach ist die Einschränkung einer verfassungsrechtlich geschützten Position nur zulässig, sofern eine Kollision mit einem anderen Wert von Verfassungsrang besteht und durch die Einschränkung eine «praktischen Konkordanz»12 zu diesem Verfassungswert hergestellt werden kann.13 Praktische Konkordanz wird erlangt, wenn den konkurrierenden Rechtswerten zur optimalen Entfaltung verholfen wird. Bei der vorzunehmenden Abwägung kommt auch dem Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Bedeutung zu.14 «Verhältnismäßigkeit bezeichnet in diesem Zusammenhang eine Relation zweier variabler Größen, und zwar diejenige, die jener Optimierungsaufgabe am besten gerecht wird, nicht eine Relation zwischen einem konstanten Zweck und einem oder mehreren variablen Mitteln».15 Dabei stehen alle Wahlgrundsätze grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander16, sodass einzelfallabhängig zu entscheiden ist, welcher Grundsatz zugunsten eines anderen einschränkbar ist. Entscheidet sich der Gesetzgeber jedoch dafür, einen bestimmten Wahlrechtsgrundsatz in besonderer Weise umzusetzen, wie es mit Einführung der Briefwahl im Hinblick auf den Grundsatz der allgemeinen Wahl geschehen ist, so ist dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange die Entscheidung nicht mit einer übermäßigen Einschränkung oder Gefährdung der anderen Wahlrechtsgrundsätze verbunden ist.17

3.

Grundlagen der Modellierung ^

[4]
Die Umsetzung der einzelnen Wahlgrundsätze durch ein konkretes Wahlsystem lässt sich grafisch durch ein sogenanntes Netzdiagramm darstellen, in dem die umzusetzenden Grundsätze die Eckpunkte bilden (siehe Abb. 1). Auf den jeweiligen Achsen wird markiert, zu welchem Grad der jeweilige Wahlrechtsgrundsatz erfüllt ist. Je stärker der entsprechende Wahlrechtsgrundsatz umgesetzt ist, desto weiter außen wird der entsprechende Punkt auf der Achse aufgetragen. Grundsätzlich ist eine rechtliche Abwägung nicht nötig, wenn alle Wahlrechtsgrundsätze zu 100% erfüllt werden (fette Linie in Abb. 1). Heute eingesetzte Wahlsysteme setzen einzelne Wahlrechtsgrundsätze nur zu einem gewissen Grad um (beispielhaft durch die gestrichelte Linie in Abb. 1 dargestellt).

Abbildung 1: Visualisierung in Netzstruktur

[5]
Um die Prüfung zu ermöglichen, ob ein neues System als verfassungskonforme Alternative zum Referenzsystem eingesetzt werden kann, müssen zunächst die Prinzipien des gesetzlichen Gestaltungsraums modelliert werden. Darüber hinaus ist zu definieren, wie sich der Grad der Umsetzung einzelner Wahlgrundsätze berechnen lässt. Diesen beiden Herausforderungen werden wir uns in den folgenden Abschnitten annehmen.

4.

Modellierung der Prinzipien des gesetzlichen Gestaltungsspielraums ^

[6]
Aus dem in Kapitel 2 erläuterten gesetzlichen Gestaltungsspielraum leiten wir drei Prinzipien ab: der Gesamterfüllungsgrad, die Verhältnismäßigkeit und der Mindesterfüllungsgrad. Nach gegenwärtiger allgemeiner Auffassung erfüllt das aktuelle Präsenzwahlsystem (Ausgangssystem) die Wahlgrundsätze insgesamt in bestmöglicher Weise, sodass dieses auch den Bezugspunkt darstellt, an dem sich ein neues System messen lassen muss. Die Prinzipien sind gleichermaßen in Relation zum existierenden Wahlsystem zu erfüllen.
[7]
Der Gesamterfüllungsgrad sieht vor, dass die Summe der Grade aller Wahlrechtsgrundsätze zusammen im vorgeschlagenen System größer ist als im bisherigen System, folglich also zumindest ein Grundsatz gestärkt werden kann. So kann für einen Wahlgrundsatz die Umsetzung innerhalb eines neuen Systems gegenüber dessen Umsetzung im alten System eingeschränkt werden (Differenz negativ), wenn ein anderer Grundsatz gleichzeitig durch die neue Umsetzung gestärkt werden kann (Differenz positiv). Die Einhaltung des Prinzips der Gesamterfüllung wird dadurch beschrieben, dass die Summe der Differenzen über alle Wahlrechtsgrundsätze im positiven Bereich liegt. Informatisch wird dieser Zusammenhang wie folgt modelliert:
[8]

Für einen Wahlrechtsgrundsatz w aus der Menge der Wahlrechtsgrundsätze WRG (Ʃw∈WRG), bezeichnet der Term GradWS den Grad der Umsetzung dieses Grundsatzes w in System S. Ʃw∈WRGDifferenzw entspricht der Summe der Differenzen über alle Wahlrechtsgrundsätze. Dieser Zusammenhang ist beispielhaft für zwei beliebige Wahlsysteme in Abbildung 2 dargestellt.

[9]
Ein System, das zwar den Gesamterfüllungsgrad einhält, könnte jedoch gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, indem es einen Wahlrechtsgrundsatz, dessen Umsetzung in dem Ausgangssystem bereits zu einem hohen Grad gegeben war, weiter stärkt sowie einen Wahlrechtsgrundsatz, dessen Umsetzung im Ausgangssystem zu einen niedrigen Grad gegeben war, weiter schwächt (siehe Abb. 3). Denn das Verhältnismäßigkeitsprinzip fordert systemintern eine Balance der Wahlrechtsgrundsätze einzuhalten. Die Entscheidung über die Balance der Wahlrechtsgrundsätze erfolgt dabei anhand der maximalen graduellen Abweichung der Umsetzung von Wahlrechtsgrundsätzen innerhalb des Ausgangssystems. Folglich gilt, dass für beliebige Wahlrechtsgrundsätze innerhalb eines Systems der Grad ihrer Umsetzung nie weiter voneinander abweichen darf, als dies durch das Ausgangssystem gegeben ist. Informatisch lässt sich dieser Zusammenhang wie folgt modellieren:
[10]
Hierbei bezeichnet maxa,b∈WRGGradSa-GradSb innerhalb eines Systems S die größte Differenz im Grad der Umsetzung für alle Wahlrechtsgrundsätze a und b aus der Menge der Wahlrechtsgrundsätze (a,b∈WRG).
[11]
Das Prinzip des Mindesterfüllungsgrads fordert, dass ein Mindestgrad der Umsetzung für alle Wahlrechtsgrundsätze erreicht werden muss. Folglich ist ein Wahlsystem an den minimalen Grad der Umsetzung aller Wahlrechtsgrundsätze gebunden. Als Referenzwert zur Bestimmung des Mindesterfüllungsgrads eines neuen Wahlsystems kann der Mindesterfüllungsgrad des Ausgangssystems genommen werden. Informatisch wird dieser Zusammenhang wie folgt dargestellt:
[12]

Erfüllt ein System die Prinzipien (1) - (3) unter Einbeziehung des Referenzsystems, so kann dieses System aufgrund der restriktiven Modellierung der Prinzipien als rechtlich vertretbar angenommen werden. Sind nicht alle Prinzipien erfüllt, so zieht dies eine Einzelfallentscheidung nach sich und bedarf einer weiteren interdisziplinären Betrachtung.18

Abbildung 2: Gesamterfüllungsgrad

Abbildung 3: Verhältnismäßigkeit

5.

Herleitung des Grads der Umsetzung für die einzelnen Wahlgrundsätze ^

[13]
Nachfolgend sollen Möglichkeiten dargestellt werden, wie man den Grad der Umsetzung der Wahlgrundsätze bestimmen kann. Dazu werden zunächst die Wahlrechtsgrundsätze zu einzelnen Anforderungen konkretisiert. Anschließend werden erste Überlegungen zur Bestimmung des Grads der Umsetzung für unterschiedliche Anforderungen präsentiert, wobei der Fokus auf den sicherheitsrelevanten Anforderungen liegt. Abschließend werden die Anforderungen zusammengeführt, um daraus resultierend den Grad der Umsetzung für Wahlrechtsgrundsätze zu bestimmen.

5.1.

Ableitung konkreter Anforderungen ^

[14]

Da Wahlrechtsgrundsätze sehr abstrakt gehalten sind, ist es sinnvoll, zunächst aus den einzelnen Wahlrechtsgrundsätzen konkrete Anforderungen abzuleiten. Konkrete Anforderungen ermöglichen deren Grad der Umsetzung präziser zu bestimmen, als dies für Grundsätze möglich ist. Eine Konkretisierung abstrakter Wahlgrundsätze kann zum Beispiel mit der Methode KORA (Konkretisierung rechtlicher Anforderungen)19 durchgeführt werden. So lassen sich aus der Gleichheit der Wahl u.a. folgende Anforderungen ableiten: Das Wahlsystem muss so ausgestaltet sein, dass es den Wahlberechtigten ermöglicht, ihrer Intention in eindeutiger Weise Ausdruck zu verleihen (Benutzbarkeit); das Wahlsystem muss sicherstellen, dass jeder Wahlberechtigte genau eine verbindliche Stimme abgeben kann (Wahlberechtigung). Aus dem Grundsatz der allgemeinen Wahl lassen sich u.a. folgende Anforderungen ableiten: Einerseits muss das Wahlsystem allen Wahlberechtigten zugänglich sein (Erreichbarkeit), andererseits kann analog zur gleichen Wahl auch die allgemeine Wahl nur umgesetzt werden, wenn das System es den Wahlberechtigten erlaubt, ihre Stimme in eindeutiger Weise abzugeben (Benutzbarkeit).20 Aus der Öffentlichkeit der Wahl lassen sich beispielsweise die Anforderungen der Verständlichkeit, also die Tatsache, dass «die wesentlichen Schritte der Wahlhandlung und der Ergebnisermittlung vom Bürger zuverlässig und ohne besondere Sachkenntnis überprüft werden können»21, und Verifizierbarkeit22 ableiten, d.h., das Wahlsystem muss sicherstellen, dass jeder Wähler überprüfen kann, dass seine Stimme richtig verarbeitet (cast-as-intended, stored-as-cast) und richtig ausgezählt (tallied-as-stored) wird. Aus dem Grundsatz der geheimen Wahl lässt sich u.a. ableiten, dass es keinem möglich sein darf, die Verbindung zwischen dem Wähler und der von ihm abgegebenen Stimme zu ermitteln (Anonymität) oder zu ermitteln, wer an der Wahl teilgenommen hat und wer nicht (Vertraulichkeit).23

5.2.

Allgemeines Vorgehen zur Bestimmung des Grads der Umsetzung von Anforderungen ^

[15]
In einem nächsten Schritt ist für jede der identifizierten Anforderungen festzulegen, wie für diese Anforderung der Grad der Umsetzung bestimmt wird. Dabei sind unterschiedliche Ansätze zu verwenden. Die Erreichbarkeit eines Wahlsystems kann beispielsweise über die Anzahl der potentiellen Wähler ausgedrückt werden. Die Benutzbarkeit eines Systems hingegen kann mittels Benutzerstudie mit Hinblick auf die Kriterien Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit eingestuft werden. Während für viele Anforderungen individuelle Regelungen identifiziert werden müssen, gibt es eine Gruppe von Anforderungen, die gleich behandelt werden können, und zwar die Anforderungen, deren Umsetzung wegen der Präsenz eines Angreifers gesichert werden muss. Der Grad der Umsetzung dieser sogenannten Sicherheitsanforderungen lässt sich über die Analyse zugrunde liegender Angreifermodelle und deren Auswirkung auf das Wahlsystem bewerten. Aufgrund der wesentlichen Bedeutung dieser Gruppe von Anforderungen wird deren Grad der Umsetzung im folgenden Abschnitt genauer betrachtet.

5.3.

Bestimmung des Grads der Umsetzung für Sicherheitsanforderungen ^

[16]

Im Folgenden gehen wir auf zwei Ansätze zur Bestimmung des Grads der Umsetzung für Sicherheitsanforderungen ein: Bei der schadensgesteuerten Ermittlung des Grads der Umsetzung einer konkreten Anforderung wird zunächst in einem interdisziplinären Dialog der Angreifer identifiziert. Dabei ist zu beachten, dass sich dieser für unterschiedliche Anforderungen unterscheiden kann. Ein Angreifer wird über seine Fähigkeiten definiert. Diese Fähigkeiten können verschiedenartige Aspekte umfassen24, wie finanzielle Aufwände, benötigte Expertise sowie die Bereitschaft des Angreifers, selbst Schaden zu erfahren, was sich durch die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung des Angriffs sowie dem damit verbundenen Strafmaß ausdrücken lässt. Anschließend werden mittels Angriffsanalyse die Angriffsszenarien für beide Systeme (das eingesetzte und das vorgeschlagene elektronische Wahlsystem) identifiziert, die durch diesen zuvor definierten konkreten Angreifer erfolgreich durchgeführt werden können. Im nächsten Schritt ist für jedes Angriffsszenario der dadurch entstehende Schaden bzgl. der betrachteten Anforderung zu ermitteln; so kann beispielsweise die Anonymität eines einzelnen Wählers oder einer größeren Anzahl von Wählern oder gar von allen Wählern verletzt werden. Abschließend wird das maximale Schadensausmaß aller Angriffsszenarien bestimmt, was direkt zum Grad der Umsetzung der betrachteten Anforderungen führt. Aufgrund der Tatsache, dass die Fähigkeiten der Angreifer vor der Sichtung und Analyse der Systeme festgelegt werden, ist in diesem Fall nur eine abstrakte und qualitative Beschreibung dieser Fähigkeiten möglich (z.B. hohe technische Expertise und niedrige technische Expertise). Bei der Analyse ist entsprechend jeweils zu entscheiden, ob eine potentielle Schwachstelle von dem angenommenen Angreifer ausgenutzt werden kann oder nicht. Diese Entscheidung kann im Einzelfall schwierig sein. Statt an dieser Stelle eine Ja/Nein-Entscheidung zu erzwingen, arbeitet der risikogesteuerte Ansatz mit der Bestimmung des Risikos für jede mögliche Schwachstelle und deren Ausnutzung. Entsprechend ist es hierbei nicht erforderlich, im Vorfeld die Fähigkeiten des Angreifers festzulegen und es kann sofort mit der Angriffsanalyse begonnen werden. Für diesen Ansatz spricht, dass die Form der Expertise in papierbasierten und elektronischen Wahlsystemen sehr unterschiedlich sein kann. So ist eine Schwachstelle des Briefwahlsystems der erfolgreiche Einbruch in die zentrale Poststelle, während im Gegensatz dazu das Hacken des Wählerverzeichnisservers eine Schwachstelle eines Internetwahlsystems sein könnte. Das Risiko ergibt sich in der Risikotheorie als Produkt der Angriffswahrscheinlichkeit und dem Schadensausmaß eines Angriffs. Die Angriffswahrscheinlichkeit lässt sich über die notwendigen Fähigkeiten und Aufwände eines Angreifers ableiten. Der maximale Risikowert jeder Anforderung führt schließlich zum Grad der Umsetzung dieser Anforderung. Durch eine Anwendung beider Ansätze im Rahmen zukünftiger Forschung wird sich herausstellen, welcher Ansatz sich am effektivsten anwenden lässt.

5.4.

Zusammenführung der einzelnen Anforderungen ^

[17]

Der gesetzliche Gestaltungsspielraum erlaubt die Beschränkung eines Wahlrechtsgrundsatzes im Interesse eines anderen. Dieser Gestaltungsspielraum bezieht sich jedoch ausschließlich auf Wahlrechtsgrundsätze und kann nicht direkt auf die abgeleiteten Anforderungen übertragen werden. Diese Tatsache lässt sich anhand eines Beispiels erläutern: Für ein neues Wahlsystem ergibt die Auswertung der Grade der Umsetzung für einzelne Anforderungen, dass die Anforderung «cast-as-intended» gestärkt, dabei aber die Anforderung an die «Benutzbarkeit» im gleichen Maße herabgesetzt wird. Auf Ebene der Anforderungen wären dadurch die Prinzipien des Gestaltungsspielraums eingehalten. Auf Ebene der Wahlrechtsgrundsätze sieht dies anders aus: Während die Stärkung von «cast-as-intended» dazu führt, dass der Grad der Umsetzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit steigt, führt die Schwächung der Benutzbarkeitsanforderung zu einer Herabstufung des Grads der Umsetzung mehrerer Wahlrechtsgrundsätze und zwar der gleichen und allgemeinen Wahl (vgl. Abschnitt 5.1). Entsprechend ist hier das Prinzip des Gesamterfüllungsgrads (1) verletzt. Demzufolge müssen die Grade der Umsetzung der einzelnen Anforderungen, die aus einem Wahlrechtsgrundsatz abgeleitet wurden, zu einem Grad der Umsetzung für den entsprechenden Wahlrechtsgrundsatz in adäquater Weise zusammengeführt werden. Zur rechtlichen Abwägung von Systemen über die konkreten Anforderungen sind verschiedene Ansätze denkbar: Eine restriktive Zusammenführung der Anforderungsgrade zum Grad für den entsprechenden Wahlrechtsgrundsatz ist die Verwendung des Minimalwertes aller Anforderungsgrade. In Fällen, in denen alle abgeleiteten Anforderungen eines Wahlgrundsatzes stark umgesetzt sind und eine mittelmäßig umgesetzt ist, kann es sinnvoll sein, eine weniger restriktive Zusammenführung zu verwenden, wie beispielsweise den Mittelwert25 aller Anforderungsgrade. Der restriktive Ansatz stünde im Einklang mit der restriktiven Modellierung der Prinzipien, sodass unter Einhaltung dieser Variante der technische Vorschlag als rechtlich vertretbar angenommen werden kann. Über die Auslegung weiterer Varianten kann hingegen nur im Einzelfall im interdisziplinären Dialog entschieden werden.

6.

Fazit und Ausblick ^

[18]
Während rechtliche Vorgaben für die Durchführung von Wahlen unabhängig von der konkreten Umsetzung Geltung haben, setzen elektronische Wahlsysteme die Anforderungen grundlegend anders um als traditionelle Wahlsysteme. Dabei können sowohl bei papierbasierten als auch bei elektronischen Wahlsystemen nicht alle Grundsätze in gleichem Maße durchgesetzt werden, sodass eine Abwägung dieser Grundsätze stattfinden muss. Aus rechtlicher Sicht ist diese Abwägung durch einen gesetzlichen Gestaltungsspielraum gegeben, der es dem Gesetzgeber erlaubt, die Umsetzung bestimmter Verfassungsgrundsätze zugunsten anderer einzuschränken. Dabei ist der gesetzliche Gestaltungsspielraum jedoch insbesondere an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden. Basierend auf einer rechtlichen und informatischen Betrachtung wurde in dieser Arbeit eine Vorgehensweise dargestellt, wonach rechtliche und informatische Disziplinen unter Einbeziehung des gesetzlichen Gestaltungsspielraums verfassungskonforme, technische Gestaltungsvorschläge entwickeln können. Dabei wurde die Abwägung von Wahlsystemen nur anhand sicherheitsrelevanter Anforderungen vollständig durchgeführt. Allerdings zeigt die Konkretisierung von Wahlgrundsätzen, dass weitere Anforderungen zu bewerten sind. So haben beispielsweise die Benutzbarkeit und die Erreichbarkeit eines Wahlsystems direkten Einfluss auf die Allgemeinheit der Wahl. In der weiteren Forschung soll daher das erarbeitete Vorgehen anhand konkreter rechtlicher Anforderungen, abgeleitet aus den Wahlgrundsätzen, erweitert werden. Die konkrete Anwendung der etablierten Modellierung ist zudem an eine Konkretisierung der Aufwände, die mit Angriffen einhergehen, sowie Aufwände, die ein Angreifer aufbringen kann, verbunden. Zukünftig bleibt auch zu erörtern, wie mit Wahlen, für die kein Ausgangssystem existiert, zu verfahren ist. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Abwägung von Wahlsystemen anhand der Wahlrechtsgrundsätze. Im Kontext von Internetwahlen und der elektronischen Authentifizierung im Wahllokal spielen allerdings weitere Grundrechte eine Rolle: Die informationelle Selbstbestimmung und das Fernmeldegeheimnis. Wie diese beiden Grundrechte in das hier beschriebene Vorgehen einfließen und ob die drei Prinzipien um diese weiteren Grundrechte erweitert werden können, soll im Rahmen zukünftiger Forschungsarbeiten behandelt werden.

 


 

Stephan Neumann, Doktorand, TU Darmstadt / CASED, Fachbereich Informatik, SecUSo – Security, Usability and Society.

 

Anna Kahlert, Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, Universität Kassel, Institut für Wirtschaftsrecht, Fachgebiet.

 

Maria Henning, Post-Doktorand, Universität Luxemburg, Security and Trust of Software Systems.

 

Melanie Volkamer, Juniorprofessorin, TU Darmstadt / CASED, Fachbereich Informatik, SecUSo – Security, Usability and Society.

 


 

  1. 1 Richter, DÖV 2010, 606.
  2. 2 BVerfGE 21, 200.
  3. 3 BVerfGE 59, 119 (124 f.).
  4. 4 BVerfGE 123, 39.
  5. 5 BVerfGE 123 (29).
  6. 6 Achterberg/Schulte in: v. Mangoldt (2010), Art. 38 GG, Rn. 157; Morlok in: Dreier (2006), Art. 38 GG, Rn. 61.
  7. 7 Morlok in: Dreier (2006), Art. 38 GG, Rn. 125.
  8. 8 BVerfGE 59, 119 (124).
  9. 9 Morlok in: Dreier (2006), Art. 38 GG, Rn. 62.
  10. 10 BVerfGE 59, 119 (124).
  11. 11 St. Rspr des BVerfG; vgl. Nachweise bei Morlok in: Dreier (2006), Art. 38 GG, Fn. 166.
  12. 12 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, C.F. Müller, Heidelberg (1995), § 2, Rn. 72.
  13. 13 Morlok in: Dreier (2006), Art. 38 GG, Rn. 61.
  14. 14 BVerfGE 77, 240 (257).
  15. 15 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, C.F. Müller, Heidelberg (1995), § 2, Rn. 72.
  16. 16 BVerfGE 99, 1 (13).
  17. 17 BVerfGE 59, 119 (125).
  18. 18 Man betrachte ein System, in dem alle Grundsätze zum gleichen Grad umgesetzt sind, die Verhältnismäßigkeit des Ausgangssystems alsomaxSystemalt=0. In diesem Fall kann maxSystemalt in interdisziplinärer Abstimmung festgelegt werden.
  19. 19 Hammer/Pordesch/Roßnagel, Betriebl. Telefon- und ISDN-Anlagen rechtsgemäß gestaltet, Springer, Berlin (1993).
  20. 20 Es sei erwähnt, dass auf Anforderungsebene Überschneidungen verschiedener Grundsätze auftreten können.
  21. 21 BVerfGE 123, 39.
  22. 22 Adida/Neff, Ballot Casting Assurance, Proceedings of the USENIX/Accurate Electronic Voting Technology Workshop 2006 on Electronic Voting Technology Workshop (2006).
  23. 23 Richter, Wahlen im Internet rechtsgemäß gestalten, Nomos, Baden-Baden (2012).
  24. 24 Richter, Wahlen im Internet rechtsgemäß gestalten, Nomos, Baden-Baden (2012); Schneier, Attack Trees, Dr. Dobb’s Journal, v. 24, n. 12, S. 21-29 (1999).
  25. 25 Ein möglicher Mittelwert ist das arithmetische Mittel. Das arithmetische Mittel berechnet sich als Summe aller Anforderungsgrade dividiert durch die Anzahl der Anforderungen.