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Was ist eine Präambel wert?

Eine neuerliche Auseinandersetzung mit einem alten Thema aus Anlass der nunmehrigen Berufung der Europäischen Union auf ihr «kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe»

  • Author: Alexander Balthasar
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Jurisprudence
  • Citation: Alexander Balthasar, Was ist eine Präambel wert?, in: Jusletter IT 11 September 2014
Der zweite Erwägungsgrund der Präambel zum EUV enthält seit dem Vertrag von Lissabon eine Bezugnahme auf das «kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas» als Quelle der «universellen Werte», die wiederum sichtlich mit jenen im Art. 2 EUV genannten zusammenfallen. Damit gewinnt aber, ausreichende Rechtsverbindlichkeit dieses Erwägungsgrundes vorausgesetzt, gerade auch das «religiöse Erbe Europas» eine der neuzeitlichen säkularen Tradition ganz fremde Bedeutung für die Interpretation der nunmehrigen obersten Werte unserer aktuell geltenden Rechtsordnung. Der folgende Beitrag kann klarerweise diese Interpretation – eine wohl nur interdisziplinär zu bewältigende «Herkulesaufgabe» – selbst nicht leisten; er unternimmt es jedoch, deren künftige Erforderlichkeit zu prüfen.

Inhaltsverzeichnis

  • Vorbemerkung
  • 1. Ein prominenter Anlassfall
  • 2. Die Stellung von Präambeln des EU-Sekundärrechts
  • 3. Die Verbindlichkeit von Präambeln nach Art. 31 WVK
  • 3.1. Die seinerzeitige Position Kelsens zur Satzung der Vereinten Nationen
  • 3.2. Die Systematik des Art. 31 WVK
  • 4. Die Anwendbarkeit der WVK auf das Primärvertragsrecht der EU
  • 5. Sukkus
  • 6. Literatur

Vorbemerkung ^

[1]
Gerade der Jubilar hat sich stets den sprachlichen Aspekten und den geistesgeschichtlichen Verschränkungen der Jurisprudenz gegenüber als besonders sensibel erwiesen. Die Relevanz dieses Ansatzes – und auch die Notwendigkeit einer vom Jubilar gleichfalls stets gepflogenen kritischen Auseinandersetzung mit dem Erbe Hans Kelsens – zeigt sich gerade gegenwärtig im zumal für österreichische Verhältnisse besonders «werthaltigen» Unionsrecht.

1.

Ein prominenter Anlassfall ^

[2]

Mit dem Vertrag von Lissabon hat das Primärrecht der Europäischen Union (EU) eine tiefgreifende Änderung erfahren. Eine dieser Änderungen besteht darin, dass nunmehr im zweiten Erwägungsgrund der Präambel zum Vertrag über die Europäische Union (EUV)1 ebenso wie im zweiten Absatz der Präambel zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRC; dieser kommt, nach Art 6 Abs. 1 EUV idF Lissabon, gleicher rechtlicher Rang wie den Verträgen zu) explizit auf das «kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas» Bezug genommen wird2, und zwar in unmittelbarem Zusammenhang mit denjenigen Werten, auf welche sich, gemäß Art. 2 EUV, nicht nur die EU selbst «gründet» (Satz 1)3, sondern die darüber hinaus auch «allen Mitgliedsstaaten gemeinsam» «sind» (Satz 2) und deren «schwerwiegende und anhaltende Verletzung» nach Art. 7 Abs. 3 EUV zur Aussetzung bestimmter «Rechte»4 des betreffenden Mitgliedsstaates, die «sich aus der Anwendung der Verträge herleiten», führen kann.

[3]

Es ist evident, dass eine derartige Verschränkung auf höchster normativer Ebene der Frage nach dem materialen wie formalen Status eben dieses – gerade auch «religiösen» – «Erbes Europas» im Unionsrecht ebenso wie im Recht der Mitgliedsstaaten5 erhebliche Brisanz verleiht, wobei die präzise Klärung des Inhalts – auch unter Heranziehung anderer Wissenschaften, wie insbesondere der Kultur- und Philosophiegeschichte, aber eben auch der in Betracht kommenden verschiedenen6 theologischen Dogmatiken7 – umso dringender ist, je verbindlicher die Norm ihrer Art nach ist.8

[4]

Eine derartige inhaltliche Klärung wäre, schon allgemein angesichts zunehmender Entfremdung zwischen den verschiedenen Fakultäten, im Besonderen aber aufgrund der neuzeitlichen umfassenden Emanzipation des weltlichen Rechts von transzendenten Bezügen9, nichts weniger als eine – wohl nur interdisziplinär10 zu bewältigende – intellektuelle Herkulesaufgabe, und die rechtliche Verpflichtung hiezu überdies zumindest für viele Rechtsordnungen eine Art «kopernikanischer Wende», d.h. ein fundamentaler Paradigmenwechsel.11

[5]
Im Folgenden soll daher zunächst einmal lediglich der Frage nach dem Grad der formellen Verbindlichkeit von Präambeln im Unionsrecht nachgegangen werden:

2.

Die Stellung von Präambeln des EU-Sekundärrechts ^

[6]
In ständiger Rechtsprechung hält der EuGH fest:
    «… kann ein Erwägungsgrund einer Verordnung zwar dazu beitragen, Aufschluss über die Auslegung einer Rechtsvorschrift zu geben, er stellt jedoch selbst keine solche Vorschrift dar (Urteile des Gerichtshofs vom 13. Juli 1989, Casa Fleischhandels, 215/88, Slg. 1989, 2789, Randnr. 31, und vom 24. November 2005, Deutsches Milch Kontor, C136/04, Slg. 2005, I10095, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).»12
[7]
Auch wenn der EuGH für diese Auffassung weder je eine tiefere dogmatische Begründung gab13, noch offenbar ursprünglich von seiner eigenen Apodiktik ganz überzeugt war14, ja er selbst in Einzelfällen mittlerweile über diese Schwelle etwas hinausgeht15, so scheint die gerade im Text referierte Position doch allgemein akzeptiert zu sein. So meint etwa Köndgen:

«Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Begründungserwägungen … an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, dass aus den Begründungserwägungen … keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können »16

[8]

Die «Begründungserwägungen» bzw. «Erwägungsgründe» (auch) eines generellen Sekundärrechtsaktes werden daher – was ja schon ihr (deutscher) terminus technicus nahelegt – lediglich in einem besonderen Zusammenhang zu der – jedenfalls im deutschen wie österreichischen Recht für generelle Akte allerdings unbekannten – horizontalen Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV gesehen17, durchaus auch mit der Folge einer Aufhebung18 mangels ausreichender, aus den «Begründungserwägungen» ersichtlicher Begründung19, aber eben ohne selbständige normative Qualität.

[9]

Diese Sichtweise findet sich bekanntlich bereits bei Platon – der zwischen «zwingenden» und «überredenden» Textteilen unterscheidet20 – und deckt sich, jedenfalls im Ergebnis, auch mit jener noch zu Beginn der österreichischen Republik von Kelsen vertretenen21, der sogar den ersten beiden Artikeln der – präambellosen – österreichischen Bundesverfassung22 lediglich den Charakter einer unverbindlichen «Deklaration», weil ohne «relevanten Rechtsinhalt», zugestehen wollte.23

[10]
Konsequenz dieser altehrwürdigen Sichtweise ist dennoch, zumindest unter den Bedingungen heutiger Jurisprudenz, eine merkwürdige Inkonsistenz:
[11]

Denn ein – gerade durch den horizontalen Anwendungsbereich des Art. 296 Abs. 2 AEUV ja nahegelegter – Vergleich der Rechtswirkungen von Präambeln genereller Rechtsakte mit den Begründungen der Entscheidungen des EuGH zeigt, dass letzteren sehr wohl maßgebliche Wirkung für die Fortbildung des Unionsrechts zukommt, und zwar nicht nur den engeren rationes decidendi, sondern sogar den bloßen obiter dicta.24

[12]

Wie plausibel ist daher diese restriktive communis opinio hinsichtlich legislativer Präambeln, zumal als Ausgangspunkt für eine allfällige Übertragung auf andere Rechtsbereiche wie, im hier in Rede stehenden Fall, auf das EU-Primärrecht?25

3.

Die Verbindlichkeit von Präambeln nach Art. 31 WVK ^

[13]

Dass die gerade in Kapitel 2 referierte Auffassung jedenfalls rechtslogisch gesehen (bzw der Natur der Sache nach) nicht die einzig mögliche ist26, zeigt Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK), der – ohne semantische Binnendifferenzierung – mit Blick auf völkerrechtliche Verträge vom «Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen»27 spricht.

3.1.

Die seinerzeitige Position Kelsens zur Satzung der Vereinten Nationen ^

[14]

Allerdings hatte seinerzeit Kelsen auch zum Stellenwert der Präambel der Satzung der Vereinten Nationen (SVN) – also zu einer Rechtsquelle des Völkervertragsrechts, freilich zeitlich noch vor der Ausarbeitung der WVK28 – ausgeführt:

    «The Preamble is part of the Charter. Consequently it has virtually the same legal validity, that is to say, the same binding force as the other parts of the Charter. The binding force of a statement does actually depend not only on its being part of a statute or a treaty but also on its contents. Statutes and treaties often contain legally irrelevant elements. The contents of a statute or a treaty has binding force only if it has a normative character, that is to say, if its meaning is to establish by itself or in connection with other contents of the statute or treaty an obligation. A legal obligation to behave in a certain way is established if a sanction is attached to the contrary behaviour. A statement whose meaning is to establish an obligation is a norm. A statement has normative character even if it may be used only for the purpose of interpreting other statements having the character of true norms.

The meaning of the Preamble is not to establish by itself obligations. … The Preamble sets forth certain political ideals without guaranteeing their realisation by the sanctions stipulated by the Charter. Thus it has rather an ideological than a legal importance. »29

[15]

Was hier behauptet wird, ist im Kern Folgendes:

  • Die bloße formale Zugehörigkeit eines Textes zu einer Rechtsquelle (innerstaatliches Gesetz/Verordnung oder völkerrechtlicher Vertrag) sage, für sich allein genommen, noch nichts darüber aus, ob diesem Text auch wirklich die maßgeblichen Wirkungen einer rechtlichen Norm – insbesondere Verbindlichkeit – zukommen.
  • Der Rechtscharakter eines Textes setze vielmehr die Erfüllung zusätzlicher Kriterien voraus, namentlich, dass
    • er eine Verpflichtung enthalte und
    • die Übertretung dieser Verpflichtung sanktioniert sei.
[16]

Dabei ist – auch vor dem Hintergrund seiner Selbsteinschätzung als «Rechtspositivist»30 – bemerkenswert, dass Kelsen als Interpret mit seinen beiden zusätzlichen Kriterien

    (i) sichtlich den tatsächlichen Autor der konkreten formellen Rechtsquelle desavouiert (da es zur Bestimmung des «wirklichen» Rechtscharakters ja nicht etwa auf dessen Intention, auf seinen Setzungsakt als solchen, ankomme),

    (ii) ja allenfalls sogar – unter der Prämisse, dass der normative Inhalt des nachmaligen Art. 31 WVK bereits zum Zeitpunkt der Annahme der SVN bzw der Abfassung des Kommentars hierüber geltendes Völkergewohnheitsrecht gewesen sein sollte31 – generelle rechtliche Anordnungen, welche Texte als taugliche Träger normativer Inhalte zu betrachten seien, negierteund stattdessen

    (iii) der autonomen Rechtswissenschaft (näherhin: der Rechtstheorie) die Letztentscheidung darüber vorbehält, welche Kriterien ein – bereits formell als «Recht» erlassener! – Text zu erfüllen habe, damit ihn auch der Interpret als «wirkliches» Recht anerkenne.32

[17]

Die in (iii) fassliche Hybris der Rechtswissenschaft33 hat freilich eine Kehrseite:

[18]

Denn unabhängig von der Frage der inhaltlichen Plausibilität oder Zweckmäßigkeit der von Kelsen angeführten zusätzlichen beiden Kriterien ist die unmittelbare Konsequenz von (iii) jedenfalls, dass die Leugnung der bindenden Wirkung von solchen Bestimmungen formalen Rechts, die weder für sich allein noch im Verein mit anderen sanktionsbewehrte Verpflichtungen beinhalten, nur vom Standpunkt eines bestimmten rechtstheoretischen Vorverständnisses aus schlüssig ist. Dies bedeutet aber e contrario, dass es genügte, zumal in einer die Freiheit der Wissenschaft garantierenden Rechtsordnung34, eine alternative rechtstheoretische Position (die etwa diese beiden Kriterien nicht für zwingend erachtete) einzunehmen, um zu ganz anderen, auch vollständig gegenteiligen Aussagen zu gelangen.35

3.2.

Die Systematik des Art. 31 WVK ^

[19]

Nun hat zwar wohl auch Art. 31 WVK im Wesentlichen lediglich bereits zuvor bestanden habendes Völkergewohnheitsrecht kodifiziert.36 Dies schließt freilich nicht aus, dass dennoch bestimmte früher bestanden habende Interpretationsspielräume bewusst verengt bzw in einzelnen Streitfragen klare(re) Entscheidungen getroffen wurden37; eben dies könnte nun auch mit der gerade referierten Position Kelsens der Fall gewesen sein, die jedenfalls in Art. 31 WVK38 keine Deckung mehr findet:

[20]

Im bewusst als einheitliches System konzipierten (und deshalb auch als «Allgemeine Auslegungsregel» im Singular überschriebenen39) Schema dieses Artikels findet sich nämlich eine wiederholte Betonung der Wichtigkeit der der jeweiligen Bestimmung in ihrem textlichen Zusammenhang zukommenden Bedeutung:

  • zunächst stellt schon Abs. 1 auf die «Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung» ab;
  • sodann präzisiert der Einleitungsabsatz des Abs. 2, dass unter dem nach Abs. 1 so maßgeblichen «Zusammenhang» in allererster Linie der «Vertragstext samt Präambel und Anlagen» zu verstehen sei;
  • schließlich hält Abs. 4 noch fest, dass «eine besondere Bedeutung … einem Ausdruck beizulegen [ist], wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben».
[21]

Ganz im Einklang mit diesem (nachmaligen) Text liest man im (vorangegangenen) Bericht der International Law Commission40 zu dieser Bestimmung41:

«… the ordinary meaning of a term is not to be determined in the abstract but in the context of the treaty … the context is not merely the article or section of the treaty in which the term occurs, but the treaty as a whole42 … Paragraph 2 seeks to define what is comprised in the ‹context› for the purposes of the interpretation of the treaty. That the preamble forms part of a treaty for purposes of interpretation is too well settled to require comment »43

[22]
Die klare Kernaussage aus Konventionstext wie aus den hiezu gegebenen Erläuterungen ist also die folgende:
  • eine Präambel ist niemals für sich allein «term», sondern stets nur «context» in Bezug auf einen anderen «term»,
  • hinsichtlich der Interpretation eines solchen Terms gibt eine Präambel aber nicht nur unverbindliche Hinweise, sondern ist bindender Kontext, gerade auch zur Ausscheidung solcher Interpretationshypothesen, die man bei isolierter Betrachtung des je einzelnen Terms (oder auch nur dessen unmittelbarer normativer Umgebung) vielleicht noch vertreten könnte.
[23]

Eine Präambel ist also, nach dem klaren Regime des Art. 31 WVK, keineswegs, wie dies Kelsen noch ganz generell vermeinte, «irrelevant», auch wenn sie weder für sich allein noch im Verein mit anderen Bestimmungen betrachtet sanktionsbewehrte «obligations» enthalten sollte. Die Relevanz einer Präambel liegt vielmehr gerade darin, die «gewöhnliche Bedeutung», die einem konkreten «term» in einem bestimmten Vertrag zukommt, verbindlich festzulegen44 und geht damit auch über den Status einer bloßen Interpretationshilfe (wie für das Unionssekundärrecht vom EuGH angenommen) klar hinaus.45

[24]

Der Präambel kommt damit nach der WVK, insoweit in bemerkenswerter Übereinstimmung mit Erkenntnissen der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts46, die Funktion der verbindlichen, expliziten Vorgabe (Konstituierung) jener lebensweltlichen Hintergrundannahmen, die den eigentlichen Sprechakt, d.h. den konkreten «term», erst hinreichend verständlich werden lassen47, zu. Dass diese Funktion einer Präambel gerade in solchen internationalen Bezügen eigens hervorgehoben wird, in denen, aufgrund der regelmäßig je und je gegebenen größeren Verschiedenheit der Ausgangsmilieus der Vertragspartner bzw Normadressaten, die fraglose Voraussetzung48 einer gemeinsamen Lebenswelt wesentlich problematischer (und damit diese «Lebenswelt» verbindlicher Normierung bedürftiger) sein muss als in den engen Grenzen eines einzigen Staates, wie, in extremis, dem platonischen Magnesia, leuchtet unmittelbar ein.49

4.

Die Anwendbarkeit der WVK auf das Primärvertragsrecht der EU ^

[25]

Wenngleich der EuGH gerne von der «Autonomie des Rechtssystems» der (nunmehrigen) Union spricht50, so kann daraus noch nicht gefolgert werden, dass auch die primären Rechtsquellen dieses Rechtssystems selbst51 sich von ihrer völkerrechtlichen Basis vollständig gelöst hätten.52 Konsequenterweise darf daher auch die Auslegung des Primärrechts nicht völlig «autonom», d.h. ohne jede Bedachtnahme auf im allgemeinen Völkerrecht etwa auffindbare einschlägige Regeln erfolgen.

[26]

Die WVK als solche stellt freilich offenkundig weder zwingendes Völkerrecht dar noch wurde sie bisher auch nur von allen gegenwärtigen Mitgliedsstaaten der EU ratifiziert53; «eine direkte Anwendbarkeit der WVK» auf das gegenwärtige vertragliche Primärrecht der EU «ist damit» weiterhin «nicht gegeben».54 Wenn überdies gerade in Bezug auf Art. 31 WVK die oben eingangs des Unterkapitels 3.2 angesprochene Möglichkeit zutreffen sollte (dass hier eben nicht, wie weithin, einfach bereits bestehendes Völkergewohnheitsrecht tel quel kodifiziert, sondern in eine bestimmte Richtung hin präzisiert worden wäre), dann schiede diesbezüglich auch der übliche Ansatz, auf die WVK dennoch als Indiz des weiterhin allgemein geltenden Völkergewohnheitsrechts zurückzugreifen55, aus.

[27]
Nun hat sich aber der EuGH selbst, und zwar ausgerechnet in jenem seiner Urteile, in dem er überhaupt erst die Grundlage der gerade angesprochenen «Autonomie» des (damaligen) Gemeinschaftsrechts schuf, zur normativen Ableitung dieses Ergebnisses tragend auf die Präambel des damaligen EWGV gestützt:

    «Das Ziel des EWG-Vertrages ist die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, dessen Funktionieren die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft; damit ist zugleich gesagt, dass dieser Vertrag mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet. Diese Auffassung wird durch die Präambel des Vertrages bestätigt, die sich nicht nur an die Regierungen, sondern auch an die Völker richtet.»56

[28]
In eben diesem Urteil hat der EuGH außerdem den damals auszulegen gewesenen Vertrag ausdrücklich als einen «völkerrechtlichen» bezeichnet und von der «Gemeinschaft» als einer «neuen Ordnung des Völkerrechts» gesprochen. Daraus kann nun schon einmal abgeleitet werden:
[29]

Offenbar gebot, zumindest nach der Ansicht des EuGH, bereits das damalige Völkerrecht keineswegs, die Präambel des damaligen EGWV als rechtlich «irrelevant» zu betrachten; vielmehr hat der EuGH bereits damals, und ungeachtet des Umstandes, dass es damals die WVK noch gar nicht gab, in Bezug auf die Stellung einer Präambel im vertraglichen Primärrecht einen dem nachmaligen Art. 31 WVK vollkommen kongruenten Standpunkt vertreten. Dies ist, zumal angesichts der nach wie vor ungebrochenen Akzeptanz dieses Urteils, doch ein deutliches Indiz dafür, jedenfalls im Ergebnis nunmehr auch den normativen Inhalt des Art. 31 WVK zur Bestimmung des Stellenwertes der gegenwärtigen Präambeln des Primärrechts heranzuziehen.57

[30]

Weiters: Auch in jenem dem gerade erwähnten bald nachfolgenden Urteil, in dem erstmals explizit die «Autonomie» der Gemeinschaftsrechtsordnung aufscheint, wird der letztlich völkerrechtliche Charakter der Rechtsgrundlagen des Gemeinschaftsrechts keineswegs geleugnet, sondern nur der «Unterschied» zu «gewöhnlichen internationalen Verträgen» hervorgehoben, und betont, dass «spätere einseitige Maßnahmen» der Mitgliedsstaaten nicht der gemeinschaftlich geschaffenen Rechtsordnung vorgehen könnten.58 Wenn man will, kann man den damals (und seither) vom EuGH hinsichtlich des (im Übrigen bekanntlich immer noch nicht lückenlosen59) Vorranges des (nunmehrigen) Unionsrechts zum mitgliedsstaatlichen Recht vertretenen Ansatz als einen (radikalen) Monismus mit Primat des Unionsrechts60 einordnen; daraus folgt jedoch keineswegs die subjektive Leugnung der weiteren Zugehörigkeit des Unionsrechts zum Völkerrecht durch den EuGH (oder gar deren objektive Inkompatibilität mit den dem Unionsrecht vom EuGH nach innen zugeschriebenen Wirkungen)61 – außer für jene, für die eine dualistische Konzeption des Verhältnisses von Völkerrecht zu Staatsrecht zu den essentialia dieses Verhältnisses zählt.62

[31]
Es besteht daher, nimmt man alle Elemente zusammen, weder ein Anlass, die völkerrechtlichen Regeln über den Stellenwert von vertraglichen Präambeln nicht auch auf das aktuelle EU-Primärrecht anzuwenden, noch, den normativen Inhalt dieser völkerrechtlichen Regeln nicht im Einklang mit Art. 31 WVK zu bestimmen.

5.

Sukkus ^

[32]

Folgt man den obigen Ausführungen, so führt an der Rechtsverbindlichkeit der Präambel des EUV als bindendem Kontext des übrigen Primärrechts kein Weg vorbei63; dann aber ist, angesichts des zweiten Erwägungsgrundes dieser Präambel, bereits seit dem 1. Dezember 2009, dem Tag des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon und damit der Rechtsverbindlichkeit auch dieses Erwägungsgrundes, vornehmlich im Bereich des Unionsrechts, angesichts der normativen Reichweite des in diesem Erwägungsgrund angesprochenen Art. 2 EUV aber auch mit Wirkung für die Verfassungen der Mitgliedsstaaten insgesamt, die oben in Kapitel 1 umrissene «Herkulesaufgabe» zu bewältigen.64 Hiefür wird man gerade Juristen vom Schlage des Jubilars dringend benötigen.65

6.

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Alexander Balthasar, Leiter des Institutes für Staatsorganisation und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt, Österreich.

  1. 1 Bereitsdie unterzeichnete Fassung eines Vertrages über eine Verfassung für Europa (ABl 2004 C 310, 1) enthielt diesen Erwägungsgrund, damals sogar an allererster Stelle, und auch der Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes des vorangegangenen Entwurfs (ABl 2003 C 169, 1) differierte nur unwesentlich.
  2. 2 Imzweiten EG der Präambel zum EUV heißt es in der deutschen Sprachfassung, dass «sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte» «aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas» – aus dem die vertragschließenden Organe der Mitgliedsstaaten schöpfen – «entwickelt haben», während nach dem zweiten Absatz der Präambel zur EUGRC «sich die Union» «in dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes … auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität» «gründet»; im nächsten Satz wird noch hinzugefügt, dass die Union auf den «Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit» «beruht». Nun trifft es zwar zu, dass von allen Sprachfassungen nur die deutsche auch im Charta-Erwägungsgrund explizit das «religiöse» Erbe beruft, wogegen der Doppel-Ausdruck «geistig-religiös» etwa in der englischen wie in der französischen Fassung mit dem einheitlichen Begriff «spiritual»/«spirituel» wiedergegeben wird. Allerdings scheint das «religiöse Erbe» auch in den beiden anderen Sprachfassungen des EUV auf («Drawing inspiration from the cultural, religious and humanist inheritance of Europe»/«S’Inspirant des héritages culturels, religieux et humanistes de l’Europe»), so dass insgesamt gesehen der Ausdruck «religiöses Erbe» in der aktuellen «Präambelmasse» des EU-Primärrechts zu stark verankert sein dürfte, um – etwa als deutscher Übersetzungsfehler (so die Mindermeinung einiger deutscher Mitglieder des Grundrechte-Konvents, siehe Meyer, Präambel, Rz. 32) – im Zuge der (nach der Rechtsprechung des EuGH ja gebotenen) harmonisierenden Betrachtung sämtlicher Sprachfassungen vernachlässigt werden zu dürfen. Vielmehr wird man im – zeitlich jüngeren – Erwägungsgrund des EUV die fortschreitende doppelte Angleichung an deutschen Einfluss wie an die Religion als Teil des europäischen Erbes zu erblicken haben (vgl. Pichler/Balthasar, Introduction, 21 [FN 11]).
  3. 3 Danach sind «die Werte, auf die sich die Union gründet, … die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören». Wie leicht zu sehen, kongruieren sämtliche drei hier parallelisierten Stellen hinsichtlich der zentralen Werte Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit vollständig. Überdies lässt sich die im EUV- Erwägungsgrund gebrauchte Formel von den «unverletzlichen und unveräußerlichen Rechten des Menschen» leicht als Synonym sowohl zur «Achtung der Menschenwürde» wie zur «Wahrung der Menschenrechte» verstehen, so dass innerhalb des EUV letztlich keinerlei sachliche Divergenz besteht; der Charta-Erwägungsgrund wiederum nennt die «Würde des Menschen» explizit, fügt noch im gleichen Rang den – durchaus auch christlichen – Wert der «Solidarität» hinzu (der im EUV etwas abgesetzt genannt wird [vgl. den sechsten Erwägungsgrund iVm Art. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV]), vergisst allerdings, ausgerechnet, auf die explizite Nennung der «Wahrung der Menschenrechte» (!).
  4. 4 Die «sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedsstaates sind dagegen für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich» (Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV). Damit ähnelt dieses Institut – das «Schöpfen» aus dem u.a. «religiösen … Erbe» intuitiv bestätigend – frappant der Exkommunikation nach römisch-katholischem Kirchenrecht, welche gleichfalls nur den Entzug bestimmter Rechte, nicht aber auch den Entfall der mit der Mitgliedschaft verbundenen Pflichten bewirkt (can 96 iVm can 1331 CIC 1983).
  5. 5 Art. 2 Satz 2 EUV («Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten … gemeinsam …») entfaltet ja Wirkung auch über den sonstigen Anwendungsbereich des Unionsrechts (wie vom EuGH definiert, vgl. die Hw im zweiten Absatz der offiziellen Erläuterungen [2007/C 303/02] zu Art. 51 EUCFR sowie jüngst das Urteil des EuGH vom 26. Februar 2013, C-617/10 [Åklagaren v Hans Åkerberg Fransson], Rz. 17-23) hinaus.
  6. 6 Darunter fallen wohl jedenfalls sämtliche solche christlichen Bekenntnisse, die in einem Teil des gegenwärtigen Unionsgebietes einmal staatlich anerkannt waren, aber wohl auch das (in sich auch wieder in verschiedene Richtungen aufgefächerte) Judentum; hinsichtlich des Islam freilich könnte die Zugehörigkeit zum «Erbe» fraglicher erscheinen, zumal sich «Europa» historisch, beginnend mit Karl Martell, sodann in den Kreuzzügen und deren Fortsetzungen in Spanien oder in den Türkenkriegen, ja gerade in Abgrenzung zum Islam entwickelt und gefunden hat. Angesichts der heutigen zahlenmäßigen Bedeutung islamischer Gemeinden in Europa, und zwar gerade auch unter Unionsbürgern, könnte die Beurteilung künftig jedoch anders ausfallen; Voraussetzung hiefür wäre dann aber, dass der Begriff «Erbe» nicht statisch, d.h. bezogen auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon, sondern dynamisch verstanden würde (für eine solche Lesart etwa Heintschel, Präambel zum EUV, Rz. 4).
  7. 7 Deren Ergebnisse erhellen das juristische Tatbestandselement «kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe», sind also in der betreffenden Rechtsordnung nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt über den bzw. nach Maßgabe des in diesem Rechtsbegriff enthaltenen rechtlichen Verweis(es) verbindlich.
  8. 8 Auf eine sowohl vom Umfang der berührten anderen Disziplinen her wesentlich geringere wie auch vom Status der betroffenen Norm her unproblematischere, jedoch gleichfalls dem Juristen noch genug Schwierigkeiten bereitende Norm – die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten wie der Union auf den «Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb» in Art. 119 Abs. 1 AEUV – sei an dieser Stelle lediglich hingewiesen.
  9. 9 Den Beginn dieser Emanzipation kann man freilich bereits im Konflikt Kaiser Heinrichs IV. mit Papst Gregor VII. sehen, vgl. Boeckenfoerde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 92ff.
  10. 10 Vgl. für einen bescheidenen Schritt in diese Richtung, etwa die am 15. Mai 2012 in Wien durchgeführte Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft katholischer Verbände in Österreich zum Thema «Würde des Menschen – Versuch einer Klärung», mit einem Theologen, einem Philosophen und einem Juristen auf dem Podium (siehe näher Zemanek, academia 4/2012).
  11. 11 Gerade auch vom Standpunkt der österreichischen bundesverfassungsrechtlichen Grundordnung und des in dieser, als Bestandteil des Prinzips der Volkssouveränität, eingelassenen säkularen Prinzips, könnte man daher durchaus diskutieren, ob – ausreichende Verbindlichkeit des hier thematisierten Bezuges zum «religiösen Erbe» vorausgesetzt – nicht der Vertrag von Lissabon deshalb als gesamtändernd zu bewerten sei (und daher einer verpflichtenden Volksabstimmung nach Art. 44 Abs. 3 Fall 1 B-VG zu unterziehen gewesen wäre). Anderes mag für das deutsche Grundgesetz, dessen Präambel mit den Worten «Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott … hat sich das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben» beginnt, gelten (dies ungeachtet der Frage, in welchem Ausmaß die bundesdeutsche Lehre und Praxis dieser Formel tatsächlich bislang Rechtswirkungen zugestanden haben). Vgl. aber auch Art. 1 Satz 1 der gegenwärtigen französischen Verfassung ex 1958, der nach wie vor lautet: «La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.» Allerdings bezieht sich die «Ewigkeitsklausel» des Art. 89 Abs. 5 const cit nur auf die «forme républicaine du Gouvernement» als solche, während es in Art. 88 Abs. 1 const cit ausdrücklich heißt: «La République participe à l’Union européenne constituée d’États qui ont choisi librement d’exercer en commun certaines de leurs compétences en vertu du traité sur l’Union européenne et du traité sur le fonctionnement de l’Union européenne, tels qu’ils résultent du traité signé à Lisbonne le 13 décembre 2007.»
  12. 12 Cit Urteil vom 11. Juni 2009, C-429/07 (Inspecteur van de Belastingdienst v X BV), Rz. 31 (Hervorhebung nicht im Original); vgl. auch die Schlussanträge vom 29. April 2010 zum Urteil des EuGH vom 2. September 2010, C-453/08 (Panagiotis I. Karanikolas u. a.), Rz. 31 (FN 40: «Erwägungsgründe eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich»), und, ebenso, Urteil des EuGH vom 2. April 2009, C-134/08 (Hauptzollamt Bremen), Rz. 16 («Erwägungsgründe eines Gemeinschaftsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich»).
  13. 13 Inder ersten angegebenen Quelle lautet der Ursprungssatz ganz ähnlich, also keineswegs näher begründet, so: «Eine Begründungserwägung einer Verordnung kann zwar dazu beitragen, Aufschluß über die Auslegung einer Rechtsvorschrift zu geben, sie kann jedoch nicht selbst eine solche Vorschrift darstellen». Auch seither wurde keine Begründung nachgetragen.
  14. 14 ImUrsprungsurteil findet sich, dem in der vorigen FN zitierten Satz unmittelbar, als zweiter Satz der Rz. 31, nachfolgend, folgende weitere Begründung: «Überdies ist die betreffende Begründungserwägung in keiner der anderen sprachlichen Fassungen der Verordnung Nr . 1500/76 enthalten», was ja die Frage aufwirft, welchen Stellenwert der EuGH der in Rede stehenden «Begründungserwägung» im Falle ausreichender sprachlicher Repräsentativität eingeräumt hätte.
  15. 15 Vgl.etwa sein Urteil vom 1. März 2011, C-236/09 (Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL), Rz. 17 (Hervorhebung nicht im Original): «Nach den Art. 21 und 23 der Charta sind zum einen Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten, und zum anderen ist die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen zu gewährleisten. Da im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113 ausdrücklich auf diese Artikel Bezug genommen wird, ist die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie mit Blick auf diese Bestimmungen der Charta zu beurteilen.» Hier scheint also, zumindest der Formulierung zufolge, dem genannten Erwägungsgrund immerhin die Kraft, einen ansonsten nicht heranzuziehenden (?) grundrechtlichen Maßstab für eine sekundärrechtliche Norm zu konstituieren, zuzukommen, was doch etwas mehr als ein bloßer «Aufschluss über die Auslegung» wäre. Jüngst hat der EuGH aber sogar Erwägungsgründe einer Richtlinie ausdrücklich als Bestandteile des maßgeblichen «Regelungszusammenhangs» («legislative context» «contexte réglementaire») bezeichnet (Urteil vom 28. Februar 2013, C-483/10 [Kommission/Spanien], Rz. 43 iVm. Rz. 44f.) und damit wie eine Präambel nach Art. 31 WVK (siehe unten Kapitel 3.2) behandelt.
  16. 16 Köndgen, Rechtsquellen Rz. 40.
  17. 17 Köndgen, Rechtsquellen, Rz. 39. Diese Parallelisierung von individuellen Akten der Rechtsprechung und generellen Akten der Rechtssetzung drückt sich bekanntlich auch im Aufbau etwa der Urteile des EuGH (sowie des EuG und des DG, aber auch des EGMR) aus, deren Spruch jeweils der Begründung nachfolgt. Diese Reihenfolge wiederum entspricht wohl besser dem «normalen wissenschaftlichen Verfahren, durch Gründe einen bestimmten Standpunkt» erst «zu gewinnen» (cit Merkl, Demokratie und Verwaltung, 27f.), als die unsrige, umgekehrte.
  18. 18 Vgl. das Urteil des EuGH vom 8. Juli 2010, C-343/09 (Afton Chemical Limited), Rz. 34, iVm seinem dort verwiesenen Urteil vom 7. September 2006, C-310/04 (Spanien/Rat), Rz. 122 ff, 137.
  19. 19 Zu den formellen Anforderungen an eine solche Begründung siehe etwa das Urteil des EuGH vom 17. März 2011, C-221/09 (AJD Tuna Ltd), Rz. 58–60.
  20. 20 Gesetze 718a–724b, siehe näher Kutschera, Platons Philosophie III, 134; Jaeger, Paideia, 1169, sowie Vitzthum, Form, Sprache und Stil der Verfassung, 378 (do FN 17), Orgad, ICON 2010, 722f.
  21. 21 Gerade bei Kelsen ist eine lebenslange Beschäftigung gerade auch mit Platon evident (siehe z.B. Jabloner / Zeleny, Kelsen und die griechischen Philosophen, 5ff.), und daher auch in dieser Frage eine Beeinflussung zumindest denkbar. Führt man Kelsens Haltung dagegen, wie üblich (siehe etwa Widder, FS Köck, 389) auf dessen nüchternen Rechtspositivismus zurück, dann käme als Ursprung dieser Sichtweise in der deutschen Staatsrechtslehre vor allem Carl Friedrich von Gerber (eher als Paul Laband, mit dem sie gleichwohl oft verbunden wurde) in Betracht (vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland II, 332ff., 346ff-).
  22. 22 Art. 1B-VG: «Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.» Art. 2 Satz 1 B-VG: «Österreich ist ein Bundesstaat. …«
  23. 23 Kelsen / Froehlich / Merkl, Bundesverfassung, 3f. Die Autoren (von denen sich allerdings Kelsen im Vorwort als derjenige präsentiert, der allein die Gesamtverantwortung trage) bieten jedoch zwei verschiedene Begründungen an (Hervorhebung nicht im Original):Hinsichtlich Art. 1 B-VG heißt es: «Ob die Verfassung tatsächlich eine demokratische Republik darstellt, ergibt sich aus ihren organisationstechnischen, materiellrechtlichen Bestimmungen.»Hinsichtlich Art. 2 B-VG heißt es: «Die Beantwortung der Frage, ob es dieser Verfassung gelungen ist, aus Österreich einen Bundesstaat zu machen, wird von der jeweiligen Bestimmung des Bundesstaatsbegriffs abhängen.» Einmal steht also der Gehalt des allgemeinen Begriffs durchaus fest, es wird nur seine normative Verbindlichkeit geleugnet (im Konfliktfalle gehen die «organisationstechnischen, materiellrechtlichen Bestimmungen» vor), das andere Mal wird schon die Beliebigkeit des allgemeinen Begriffes hervorgehoben (ohne, dass nach Möglichkeiten der näheren Bestimmung eben jener Bedeutung, die der Normgeber normiert haben wollte, gefragt würde). Die Konsequenzen dieses Unvermögens, mit Begriffen der Allgemeinen Staatslehre als Rechtsbegriffen umzugehen, zeigen sich freilich umgehend, wenn zum Begriff der «Gesamtänderung» in Art. 44 Abs. 2 B-VG 1920 keinerlei inhaltliche Aufschlüsse gegeben werden (vgl. ib, 124).
  24. 24 Vgl. Wyatt and Dashwood’s European Union Law5, 408 (in der aktuellen 6. Auflage findet sich leider das Kapitel «Judicial Architecture and Judicial Method» nicht mehr).
  25. 25 Dabei sollte nicht übersehen werden, dass beide Seiten der angesprochenen Inkonsistenz in die gleiche Richtung weisen, nämlich in jene einer Erweiterung des Spielraumes richterlicher Rechtsfortbildung zulasten legislativer Determinierung. Dahinter mag, in extremis, durchaus die Ambition richterlicher Souveränität (bzw., anders gewendet, einer veritablen juristischen «Revolution» durch Gerichte; siehe unten FN 64) stehen.
  26. 26 Zur Diskussion von der Warte des vergleichenden Verfassungsrechts aus siehe die von Gamper, Verfassungsinterpretation, 59, dortige FN 150, gebrachten Belege. Gamper selbst formuliert denn auch im Haupttext klar: «Ob Präambeln verbindliche Kraft zukommt, ist eine … letztlich … nur konkret-normativ lösbare Frage».
  27. 27 Nach Art. 85 Abs. 1 WVK sind lediglich der chinesische, englische, französische, russische und spanische, nicht aber auch der deutsche Text authentisch; blickt man daher auf authentische Fassungen, so heißt es in der englischen «text, including its preamble and annexes», in der französischen «texte, préambule et annexes inclus» (laut BGBl 1980/40).
  28. 28 Die – chronologisch frühere – SVN hat jedoch ihren Vorrang auch vor nachfolgender Änderung außerhalb des Verfahrens nach Art. 108f ch cit mittels ihres Art. 103 stipuliert und Art. 30 Abs. 1 WVK hat diesen Vorrang als lex specialis ausdrücklich anerkannt.
  29. 29 Kelsen, The Law of the United Nations, 9 (Hervorhebung nicht im Original).
  30. 30 Siehe etwa Kelsen, Reine Rechtslehre2, 112: «… Reine Rechtslehre … ist … eine Theorie des Rechtspositivismus.» Vgl. auch die von Michael Thaler, FS Adamovich, 693f, gebrachten Belege.
  31. 31 Siehe zu dieser Frage gleich im Unterkapitel 2.
  32. 32 Soweit zu sehen, finden sich derartige Aussagen, früher als bei Kelsen selbst (zu dessen ursprünglicher Fokussierung, zusammen mit Sander, auf die Rechtsanwendung siehe etwa Thaler, FS Adamovich, 692ff.), bei Kelsens Schüler Merkl, z.B. «Was aber im allgemeinen Recht sei …, das bleibt notwendig der Rechtsphilosophie, der Rechtserkenntnistheorie vorbehalten. Mag ein unter dem Titel des Rechtes auftretendes Wort- oder Gedankending noch so entschieden auf seine Rechtsnatur Anspruch erheben, es bedarf doch, um wirklich Recht zu sein, der Inthronisation durch den erkennenden Intellekt» (cit Zum Interpretationsproblem, 1060f; Hervorhebung nicht im Original).
  33. 33 In seiner Haltung gegenüber dem Setzer generellen Rechts entspricht dieses Hochgefühl des Rechtswissenschaftlers genau jenem oben (in FN 25) in Bezug auf Gerichte herausgestellten.
  34. 34 Vgl. nunmehr explizit Art. 13 EUCFR, sowie, auf nationaler Ebene, Art. 17 StGG (Österreich) oder Art. 5 Abs. 3 dGG (Deutschland); dagegen enthalten sowohl die EMRK (Art. 10) wie der IPBPR (Art. 18, 19) lediglich die allgemeinen Freiheiten der Meinungsäußerung, in die die spezifische Wissenschaftsfreiheit erst hineingelesen werden muss.
  35. 35 Jedenfalls eine explizite Statuierung der Freiheit der Wissenschaft bedeutet, im Bereich der Rechtswissenschaft, in vergleichbarer Weise wie die Statuierung der richterlichen Unabhängigkeit (zu deren Spannungsverhältnis zu einem – in der Wissenschaft allerdings gerade nicht vorgesehenen – System instanzmäßiger Hierarchie vgl. jedoch das Urteil des EuG vom 30 September 2010, T-85/09 [Yassin Abdullah Kadi v Kommission], Rz. 112 iVm 121), eine (grund-)rechtliche Absage an die bindende Wirkung von Lehraussagen.
  36. 36 Vgl. etwa Verwey, European Community, 2 (mNw in dortiger FN 10), 88 (mNw in dortiger FN 10), Linhart, Auslegung, 34 (wNw in dortiger FN 116); Ipsen, § 11, Rz. 11. Etwas vorsichtiger Cassese, International Law, 127, und Crawford, Brownlie’s Principles, 367.
  37. 37 Vgl. denn auch die klare Aussage im Bericht der International Law Commission an die Generalversammlung der Vereinten Nationen (Jahrbuch der ILC 1966 II, 219): «… having regard to the divergent opinions concerning methods of interpretation, it seemed desirable that the Commission should take a clear position in regard to the role of the text in treaty interpretation». Siehe auch Ipsen, Völkerrecht, § 11, Rz. 4f, 12, Kadelbach, Interpretation, Rz. 7, oder Crawford, Brownlie’s Principles, 379.
  38. 38 Ob, angesichts des Zurücktretens der WVK vor anderslautenden, sich aus der SVN direkt ergebenden normativen Inhalten (siehe oben FN 28) Kelsens Position bezogen auf die SVN (nach wie vor) vertretbar sei, soll hier nicht beurteilt werden. Nach Kadelbach, Interpretation, Rz. 8, ist es zwar mittlerweile «common ground … that the rules on the interpretation as reflected in the VCLT apply to the UN Charter». Allerdings ist bisher die normative Bedeutung der Präambel der SVN dennoch offenbar gering geblieben (siehe Wolfrum, Preamble, Rz. 13).
  39. 39 So ausdrücklich ILC, Jahrbuch 1966 II, 219f.
  40. 40 ILC, Jahrbuch 1966 II, 221 (Hervorhebung nicht im Original).
  41. 41 Im Entwurf noch Art. 27.
  42. 42 Das nachfolgend wiedergegebene Zitat lautet, etwas ausführlicher: «… it is obvious that the Treaty must be read as a whole, and that its meaning is not to be determined merely upon particular phrases which, if detached from the context, may be interpreted in more than one sense» (Hervorhebung nicht im Original).
  43. 43 Crawford, Brownlie’s Principles, 381, drückt das noch ca 45 Jahre später nicht wesentlich anders aus: «A corollary of the principle of ordinary meaning is the principle of integration: the meaning must emerge in the context of a treaty as a whole (including the text, its preamble …) … .» (Hervorhebung nicht im Original).
  44. 44 Von einem rechtstheoretischen Standpunkt aus kann man dies ohnedies als die eigentliche Funktion eines jeden Rechts ansehen, vgl. Balthasar, FS Schweighofer, 49: «Recht» = verbindliche «Information». Ähnlich auch Pfordten, ARSP 2012, 439ff., insbes 441ff, 453ff.
  45. 45 So auch, geradewegs für die Präambel der WVK selbst, Schmalenbach, Preamble, Rz. 2: «Even though the Preamble does not create substantive rights and obligations for the parties to the Convention, its legally binding character entails its normative influence on the understanding of each provision of the Convention in its specific context» (Hervorhebung im Original). Ähnlich auch Treviranus, Preamble, 1098 (Hervorhebung nicht im Original): «… a preamble can be of great importance for establishing the meaning of treaty provisions … .» Vgl. auch, wenngleich die Präambel (mE zu) stark auf das in Art. 31 Abs. 1 WVK vom Element «Kontext» getrennt genannte Element «Ziel und Zweck» beziehend, Dörr, Glosse zu Art. 31 WVK, Rz. 50, und Kadelbach, Interpretation, Rz. 11, 31.
  46. 46 Vgl. parte pro toto, etwa Habermas, Handlungen, insbes 85ff.
  47. 47 Vgl. Habermas, Handlungen, 91: «… Beispiele, mit deren Hilfe J. Searle nachweist, daß die Bedeutung von Sprechakten solange unbestimmt bleibt, wie nicht deren semantische festliegende Gültigkeitsbedingungen durchHintergrundannahmen ergänzt werden».
  48. 48 Dies wäre der eigentliche modus der «Lebenswelt», vgl. Habermas, Handlungen, 92: «Wie alles unthematische Wissen ist der lebensweltliche Hintergrund implizit und präreflexiv gegenwärtig. Was ihn auszeichnet, ist … der Modus einer unvermittelten Gewissheit. … Absolute Gewissheiten bleiben unerschütterlich, bis sie schockartig zerfallen; …». Auch im in der vorigen FN gebrachten Zitat werden (im dort ausgelassenen Passus) die «Hintergrundannahmen» als «intuitiv gewußte, implizit und unthematisch bleibende, als völlig unproblematisch vorausgesetzte» charakterisiert.
  49. 49 Damit ist keineswegs gesagt, dass nicht auch in rein nationalen Bezügen die normative Explizierung des «kulturwissenschaftlich zu erschließenden Wurzelgrundes» seinen guten Sinn haben mag, vgl. etwa Häberle, Präambeln insbes 188ff., unter charakteristischem Hinweis auf das KPD-Urteil des dBVerfG vom 17. August 1956, das «einen Meinungsumschwung in Richtung auf solche Ansichten, die in der Präambel» des dGG «mehr als nur einen pathetischen Vorspruch sahen», bewirkt habe (cit ib, 189). Aber auch außerhalb Deutschlands zeigt sich eine zunehmende Akzeptanz der Normativität von Präambeln staatlicher Verfassungen (vgl. die von Orgad, ICON 2010, 726ff., gebrachten Belege). Diese Praxis bestätigt damit zumindest im Ergebnis den bereits frühen Ansatz Carl Schmitts, der schon 1928 gerade in der Präambel einer Verfassung deren grundlegende verbindliche Wertentscheidungen ausgedrückt sah, die, wenn überhaupt, dann nur unter gegenüber der Änderung des übrigen Verfassungsrechts erschwerten Bedingungen abänderbar seien (Verfassungslehre, 20ff., insbes. 25; siehe auch Orgad, ICON 2010, 726ff).
  50. 50 Etwa prominent in jüngerer Zeit in seinem Urteil vom 3. September 2008, C-405/05 P (Kadi), Rz. 282. Im Ergebnis, vom Standpunkt des allgemeinen Völkerrechts aus, durchaus kritisch etwa Witte, ZÖR 2012, 679ff.
  51. 51 Vornehmlich handelt sich dabei nach wie vor um völkerrechtliche Verträge der Mitgliedsstaaten (bzw. um in solchen Verträgen vorgesehene Beschlüsse von mit diesen Verträgen geschaffenen Organen [vgl. Art. 48 Abs. 6 bzw. Abs. 7 EUV]). Aus der in Art. 19 Abs. 1 EUV gebrauchten Wendung, wonach der «Gerichtshof … die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge» sichere, kann zwar, ebenso wie aus Art. 6 Abs. 3 EUV, wo von – ungeschriebenen – «allgemeinen Grundsätzen» des Unionsrechts die Rede ist, auf die Existenz auch von ungeschriebenem Primärrecht geschlossen werden. Auch dessen Existenz spricht aber nicht gegen die Deutung des gesamten Primärrechts als (partikuläres) «Völkerrecht», zumal auch das allgemeine Völkerrecht seine «allgemeinen Rechtsgrundsätze» iSd Art. 38 Abs. 1 lit c des IGH-Statuts seinerseits in exakt gleicher Weise den nationalen Rechtsordnungen entnimmt (vgl. Rotter, Die Allgemeinen Rechtsgrundsätze, Rz. 431, 438), wie dies, bezogen auf die «gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten», Art. 6 Abs. 3 EUV angibt bzw. der EuGH letzlich bereits seit dem Urteil vom 12. Juli 1957, Rs 7/56 u.a. (Algera), Slg 1957, 83ff, 118f, tut (vgl. hiezu, freilich ohne jede Bedachtnahme auf die hier angesprochene Kategorisierung, erst unlängst Schwarze, Die Rolle allgemeiner Rechtsgrundsätze, 114ff).
  52. 52 So auch, in Rücknahme früherer Tendenzen (Simma / Vedder, Art. 281 EGV, Rz. 36ff), nunmehr Dörr, Art. 47 EUV, Rz. 78; ebenso Vitzthum, Begriff, Rz. 40. Nicht so eindeutig dagegen («Schwebezustand») etwa Herdegen, Völkerrecht, § 1, Rz. 8f.
  53. 53 Immer noch fehlen Frankreich und Rumänien.
  54. 54 Cit Hummer, JRP 2005, 265.
  55. 55 Vgl. Hummer, JRP 2005, 265.
  56. 56 Cit Urteil vom 5. Februar 1963, Rs 62/62 (Van Gend & Loos), Slg 1963, 1ff., 24.
  57. 57 Der EuGH hat sich denn auch bereits früh explizit auf die WVK als für ihn maßgebliche Rechtsquelle berufen (siehe Verwey, European Community, 88). Siehe auch Crawford, Brownlie’s Principles, wonach nicht nur der EuGH üblicherweise der WVK folgt, sondern die WVK heute, ungeachtet des konkreten Ratifikationsstatus, «in practice is applied as customary international law in any event», jedenfalls bei plurilateralen Verträgen (368, auch dortige FN 6).
  58. 58 Siehe das Urteil vom 15. Juli 1964, Rs 6/64 (Costa E.N.E.L), Slg 1964, 1251ff., 1269ff.
  59. 59 Siehe zur nach wie vor nicht als solcher gegebenen horizontalen Wirkung von Richtlinien bei klar entgegenstehendem Wortlaut der nationalen Regelung etwa das bekannte Urteil des EuGH vom 19. Jänner 2010, C-555/07 (Kücükdeveci), Rz. 46ff, sowie allgemein Öhlinger / Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, 72ff, Leidenmühler, Jahrbuch 2012, 20ff, letzterer unter besonderem Hinweis (24f) auf das Urteil des EuGH vom 24. Jänner 2012, C-282/10 (Maribel).
  60. 60 Folgt man der von Ermacora / Hummer (Völkerrecht, Recht der Europäischen Union und Landesrecht, Rz. 564f.) gegebenen Unterscheidung zwischen «gemäßigtem» und «radikalem» «Monismus mit Primat des Völkerrechts», dann mangelte dem unionsrechtlichen Vorrang zur vollen «Radikalität» die Wirkung der formellen absoluten Nichtigkeit entgegenstehenden nationalen Rechts (verglichen mit dieser maximal denkbaren Wirkung begnügt sich das Unionsrecht in der Tat mit einer «schonenderen» Kollisionsregel, vgl. Öhlinger / Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, 85, die communis opinio referierend); andererseits fordert freilich der spezifische Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch mehr als die bloße Staatenverantwortlichkeit bei Nichtentsprechung, die für den «gemäßigten» Primat typisch wäre. Zur Reichweite des Vorrangs auch vor nationalen Grundrechten, und zwar trotz Art. 53 EuGRC, nach Ansicht des EuGH siehe jüngst dessen Urteil vom 26. Februar 2013, C-399/11 (Melloni), Rz. 57-64; vgl. auch, vom selben Tag, Fransson (FN 5), Rz. 43-48.
  61. 61 Auch Cassese, International Law, 178f, führt den Anwendungsvorrang des (damaligen) Gemeinschaftsrechts unter der Rubrik «implementation of binding decisions of international organisations» an.
  62. 62 Zur Unterscheidung siehe etwa Bleckmann, Völkerrecht, 135ff., Crawford, Brownlie’s Principles, 48ff. Dem dualistischen Ansatz folgen wohl auch Öhlinger / Potacs, wenn sie (EU-Recht und staatliches Recht, 55) ausführen: «Das Unionsrecht teilt … den Adressatenkreis des staatlichen Rechts. Es unterscheidet sich dadurch seinem Anspruch nach grundlegend vom traditionellen Völkerrecht, das – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – prinzipiell an die Staaten adressiert ist und von staatlichen Organen gegenüber Privatpersonen nur dann und nur soweit anzuwenden ist, als es in die staatliche Rechtsordnung kraft einer staatlichen (verfassungsrechtlichen) Regelung inkorporiert wurde», und darausanders als der EuGH in Van Gend & Loos, der eine unmittelbare Adressierung an die Völker mit der Völkerrechtsqualität des Gemeinschaftsrechts als durchaus vereinbar angesehen hatte (siehe gerade oben im Text)! folgern, es sei «sinnvoll, das Unionsrecht nicht mehr als einen Teil des Völkerrechts zu betrachten …». Denn vom Standpunkt eines «Monismus mit Primat des Völkerrechts» aus kommt es eben ausschließlich dem primatialen Völkerrecht als solchem zu, seine Wirkungen gegenüber dem staatlichen Recht mehr oder weniger «radikal» zu regeln, und damit auch selbst zu entscheiden, ob bzw. inwieweit es sich mit einer Adressierung an die Staaten begnüge oder, gegenteilig, eine unmittelbare Durchgriffswirkung auf die Individuen für erforderlich halte (wie gegenwärtig insbesondere im Kriegsvölkerrecht und im Bereich des grundlegenden Menschenrechtsschutzes). Vgl. zur hier zugrundegelegten «universalistischen» Konzeption des Völkerrechts allgemein bereits Balthasar, Grundordnung, 104ff., mwNw. Siehe auch das Plädoyer Schönbergers (ZaöRV 2007, 1123ff.) für einen «Abschied vom Entweder-Oder zwischen ‹Gemeinschaftsrecht› und ‹Völkerrecht›» sowie jenes Rietikers (NJIL 2010, 245ff), bezogen sogar auf vergleichbare Versuche einer Herauslösung der EMRK aus dem Völkerrecht. Vgl. auch das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts vom 12. Oktober 2012, 2C 828/2011 (Punkt 5 der Begründung) zur Reichweite des Vorranges der EMRK als eines lkerrechtlichen Vertrages auch vor späterem nationalen Verfassungsrecht.
  63. 63 Soweit zu sehen, wird diese Konsequenz in der Literatur gegenwärtig noch keineswegs überall gezogen: So erwähnen etwa Wyatt and Dashwood’s European Union Law6, 24, gerade einmal die Existenz der Präambel des EUV, ohne sie bei der Interpretation dann weiter zu beachten; auch Callies / Ruffert, EUV/AEUV, verzichten auf jede Kommentierung der Präambeln, ebenso wie Schwarze, EU-Kommentar. Die grundsätzliche Rechtsverbindlichkeit betonen dagegen etwa Hilf / Terhechte, Präambel zum EUV, Rz. 9ff; Streinz / Pechstein, Präambel zum EUV, Rz. 17–19; Heintschel, Präambel, Rz. 2.
  64. 64 Freilich gibt es immer eine Alternative: So anerkennt zwar die kanadische Verfassung in ihrer Präambel die «supremacy of God», die Gerichte weigern sich jedoch, dieser Formel irgendeine rechtliche Relevanz zuzuerkennen, vornehmlich deshalb, weil sonst die nachfolgende, in Art. 1 getroffene Festlegung, wonach Kanada eine «free and democratic society» darstelle, beeinträchtigt werden könnte (anstatt umgekehrt diese Festlegung im Lichte der «supremacy of God» auszulegen; siehe Orgad, ICON 2010, 722f). Ist dies noch Interpretation oder schon Revolution?
  65. 65 Dies wurde übrigens, natürlich mutatis mutandis und vollkommen unabhängig vom hier hergestellten konkreten normativen Zusammenhang, schon vor einigen Jahren von einem der Herausgeber dieses Bandes in Bezug auf einen dem Jubilar in verschiedener Hinsicht vergleichbaren Altersgenossen thematisiert, vgl. Marko / Handstanger, icl-journal 2/2009, 66ff.