Jusletter IT

Einführung(en) in die Semiotik(en)

  • Author: Jeff Bernard
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Semiotics
  • Citation: Jeff Bernard, Einführung(en) in die Semiotik(en), in: Jusletter IT 11 September 2014
Jede wissenschaftliche Disziplin hat ihre eigene Terminologie, im Falle der Semiotik gibt es mehrere parallele sowie Begriffe aus anderen Disziplinen und aus der Alltagssprache. Gerade eine Lehre von den Zeichenprozessen sollte mit ihren eigenen Diskursen präzise und sorgsam umgehen und insbesondere verschiedene Objekt- und Metaebenen getrennt halten.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Literatur

    «Instead of complaining that no one in his right senses can possibly know what the noun ‹semiotics› stands for, we should do our best to clear up the matter; I do hope that if we bear in mind the entanglement of semiotic problems, and if we are cautious and tolerant, we shall succeed in making a step or two toward the right path in the semiotic labyrinth. »(Jerzy Pelc 1984: viii)

    «We can agree on a minimal meaning of ‹sign›: ‹whatever is called «sign» by semioticians›». (Andrzej Bogusławski 1984: 25)

[1]
Es gibt nicht nur eine semiotische Terminologie, sondern viele semiotische Terminologien im Gefolge der verschiedenen geistesgeschichtlichen Wurzeln der Semiotik und der Gründerväter und Pioniere, die aus jenen stammen. Sie haben bis in die Gegenwart ihre sprachlichen Spuren hinterlassen. So gibt es eine Reihe von Termini aus dem Gefolge von Saussure, Hjelmslev, Peirce, Morris, Jakobson, Barthes, Jakob von Uexküll; auch andere wichtige, vielleicht im Rahmen moderner Semiotik weniger schulebildende Autoren haben zum Korpus beigetragen, etwa Husserl, Cassirer oder Schütz. Und die nachfolgenden Generationen haben weiterhin kräftig beigesteuert, sowohl die Größen, wie z.B. Sebeok, Greimas, Lotman, Rossi-Landi, Eco, als auch gar manche der vielen, die die semiotic community ausmachen. Dazu kommt, dass beständig Termini aus den Nachbardisziplinen eindringen oder einsickern – sowohl aus den klassischen (Linguistik, Philosophie) als auch aus den neueren System- und Strukturwissenschaften (Systemtheorie, Kybernetik, Kommunikationstheorie, Informatik etc.), da ja die Disziplin Semiotik eigentlich Transdisziplin ist und die Konfrontation mit anderen Paradigmen nicht scheut, sondern eher sucht. Bei vielen Autoren ist dann oft kaum auszumachen, ob die jeweiligen Leihbegriffe «semiotisiert» auftreten oder in den ursprünglichen Bedeutungen (oder vielleicht auch bewusst oder unbewusst mehrdeutig).
[2]
Ein zusätzliches Problem tritt auf, wenn die Alltagssprache mit ins Kalkül kommt. Wir haben es dann mit einem Sprachgemisch zu tun: semiotische Terminologie(n) im strengeren Sinne, andere Wissenschaftssoziolekte und Alltagssprache (in die wiederum oft Wissenschaftssprache in verflachter Form eingedrungen ist). Es gibt daher eine Reihe von Vermittlungsproblemen: zunächst zwischen den verschiedenen semiotischen «Sprachen» selbst; sodann zwischen diesen und anderen Fachsprachen, zwischen diversen Fachsprachen selbst, zwischen Wissenschaftssprachen im Allgemeinen und der Alltagssprache. Es versteht sich, dass für all diese auch ein «vice versa» gilt, aber wir wollen arbeitshypothetisch die Probleme anderer Fachsprachen untereinander und mit der Außenwelt hier ausschließen, ebenso wie die Probleme, die die Gesellschaft hat, den Wissenschaftlern etwas nahezulegen, und letztlich die Barrierenhaftigkeit der Alltagssprache in sich selbst aufgrund ihrer Unschärfe. Fest steht, dass die Semiotik als Transdisziplin und zugleich relativ marginales Phänomen in Academia eine Vielfalt von Vermittlungsproblemen hat, von denen jene mit anderen Wissenschaften noch die geringeren sind, denn dafür gibt es gewisse Schulungen: das Hauptproblem scheint mir die Vermittlung der Anliegen der Semiotik nach außen, an die Gesellschaft.
[3]
Jeder Semiotiker und jede Semiotikerin macht im Alltag des Öfteren die Erfahrung, gefragt zu werden, was denn nun Semiotik eigentlich sei. Es gibt zur Beantwortung verschiedene Strategien, die ich hier nicht ausführen will, weil sie sehr stark kontextuell bestimmt sind (manchmal genügt es zurückzufragen: Sagt Ihnen der Name Umberto Eco etwas? Begeisterte Bejahung mag dann hinreichen, obwohl dies kaum etwas besagt…). Ein Problem der Semiotik liegt darin, dass der Zeichenbegriff der Alltagssprache diffus ist und zudem offenbar etwas nicht allzu Wichtiges meint (z.B. Sprachzeichen gar nicht mit einschließt), es handle sich ja «nur» um Zeichen, wie oft zu hören ist, während der Zeichenbegriff der Semiotik ein sehr umfassender und zugleich ein sehr zentraler ist, was die gesamte menschliche Performanz betrifft. Es bedarf schon eines gewissen Aha-Erlebnisses seitens sprachlicher Durchschnittsverbraucher, um sich auf den dynamisch-relationalen Zeichenbegriff der Semiotiker (aller Schulen) zumindest versuchshalber einzulassen (oft scheitert die Kommunikation darüber dann doch daran, dass der non-semiotische Partner befindet, dass ein Begriff, der so vieles Unterschiedliches umschließt, auch wieder nicht sehr hilfreich sein kann; dasselbe gilt erfahrungsgemäß für den erweiterten Textbegriff, der in der Außenwelt auch nicht sehr gut «ankommt» ).
[4]
Ein weiteres Problem liegt darin, dass das semiotische Zeichenverständnis offenbar zu komplex zu sein scheint, um einer Disziplin oder Transdisziplin einen unmittelbar einleuchtenden Namen zu geben. Zum Vergleich. Alltagssprachlich gesehen: jeder glaubt zu wissen, was die Psyche ist, zu welcher es eine Psychologie als Wissenschaft oder Lehre davon gibt; jeder ist sich sicher, dass es in der Biologie um bios, Leben, also Organisches und nicht um Anorganisches geht; jeder geht davon aus, dass kommuniziert wird, tut man es doch selbst, und also eine Kommunikationswissenschaft legitim und naheliegend ist; auch was Kultur ist, davon hat jeder einen «Begriff» (glaubt zumindest jeder einen Begriff zu haben), also ist Kulturwissenschaft bzw. sind Kulturwissenschaften nichts Rätselhaftes; usw. usf. dass sich die Relationen dieser Begriffe bzw. gemeinten Felder und der zugehörigen Wissenschaften bei näherer Betrachtung oft ganz anders, viel komplexer darstellen, ist dabei zunächst gar nicht von vorrangigem Belang. Nur im Falle der Semiotik funktioniert kein derartiger kurzschlüssiger Übertragungs- oder Identifikationsmodus; man könnte meinen, es läge vielleicht an der griechischen Wortwurzel, allerdings liegen die Dinge mit «Zeichentheorie» oder «Lehre» bzw. «Wissenschaft von den Zeichen» nicht viel besser. Das Alltagsverständnis des Zeichens ist eher ein Hindernis als eine Brücke zum semiotischen Zeichenbegriff. Es besteht also massiver Übersetzungs- und Erläuterungsbedarf.
[5]
Nun, dies sind bereits intersubjektive Probleme, die Ursache aber liegt – speziell was die Semiotik betrifft – noch tiefer. Das zuvor geschilderte Sprachengemisch besteht nicht nur in sozialen Räumen, sondern bereits auch im wissenschaftlichen Text selbst, der immer aus den Fachterminologien und aus Alltagssprache besteht, weil und wodurch ja auch textinterner Übersetzungsbedarf besteht. Im transdisziplinär-semiotischen Texten tritt zunächst einmal eine semiotische Terminologie auf, aber oft auch mehrere semiotische Terminologien («Sprachen», «Diskurse») zugleich, es treten weiters gegebenenfalls eine oder mehrere andere Wissenschaftssprachen auf, und auf jeden Fall auch die Alltagssprache. Von allen Disziplinen muss man daher aus methodischen Gründen ein gewisses Sprachbewusstsein in Bezug auf die leitenden Termini fordern, das höher liegt als in der Alltagssprache. Für gewisse Disziplinen, die auch selbstreflexive Aufgaben und Qualitäten haben (sollten), gilt das ganz besonders, z.B. für die Philosophie und die Linguistik, und in ganz besonderem Maße für die (Meta)Disziplin Semiotik, der noch mehr abzufordern ist, weil sie das Zeichen selbst zentral thematisiert – das Zeichen als Bedeutungsträger –, ich nenne diese Forderung eine nach semantischer Hygiene, die also ein wesentliches Anliegen von Semiotikern darstellen sollte. Die vorliegenden Überlegungen sollen den gesteigerten Bedarf danach deutlich machen.
[6]
Ich beschränke mich hierbei zur Veranschaulichung eines gewissen Unbehagens, das mich beim Lesen semiotischer Literatur oft und oft beschleicht, auf zwei allerdings grundlegende Begriffe, nämlich Semiotik und Semiosis. Semiotik ist die Wissenschaft von der Semiosis (alias Zeichenprozess, fundamentaler noch als der Begriff des Zeichens). Darüber ließe sich in semiotischen Kreisen doch wohl weitestgehende Einigkeit erzielen, erlaube ich mir anzunehmen. Dennoch findet sich immer wieder semiotische und semiotiknahe Literatur zuhauf, in der von «semiotischen Systemen» und «semiotischen Prozessen» die Rede ist, z.B. bei der Beschreibung und Analyse nonverbaler Kommunikation, oder des Theaters, oder sogar auch des Sports und in allerhand weiteren «angewandten» Bereichen semiotischer Forschung, es ließen sich hier schier endlos Beispiele anführen. Nimmt man These 1, Semiotik = LehreSemiosis ernst, ist klar, dass es sich um semiosische Systeme und Prozesse handelt, die da beschrieben und/oder untersucht werden (wobei damit indirekt sogleich die schwieriger zu beantwortende Frage auftaucht, wo das Primat ist, bei «System» oder «Prozess»; dem soll hier aber nicht nachgegangen werden). In strikter Zuordnung zur Objekt- bzw. Metaebene ergibt sich unausweichlich, dass «semiotische Systeme und Prozesse» nur dann zustande kommen, präziser: produziert werden, wenn dies innerhalb der Semiotik passiert (oder zumindest innerhalb eines Vorgangs, der jenen in der Semiotik nahekommt oder gleichgestellt werden kann, in anderen Wissenschaften oder möglicherweise auch im Alltag), denn «semiotisch» ist schlicht das Adjektiv zu «Semiotik» (auch das Adverb, d.h., wenn ich z.B. etwas «semiotisch», semiotically, ausdrücke). Alles im Felde außerhalb ist «semiosisch» (falls es sich um Vorgänge oder Strukturen handelt, in die Zeichen involviert sind, nicht also z.B. in die Vorgänge in einem Atomkern oder am und im Sirius oder sonstwo im Weltall oder im Erdkern; dass wir diese natürlich auch bezeichnen können, ist ihnen total äußerlich und konstituiert in ihnen noch keine semiosische und schon gar nicht semiotische Relation). Es ist «semiosisch», weil es sich um «Semiosen» handelt, die da vor sich gehen (produziert werden) und die wir gegebenenfalls «semiotisch» untersuchen. (Ganz so einfach liegen die Verhältnisse zwar auch nicht, wir kommen am Schluss noch darauf zurück, doch fürs erste können wir durch die strikte Trennung grundsätzlich Ordnung im Reich der Zeichen inklusive Zeichenbeschreibung und analyse schaffen.)
[7]
Wieso also findet man dennoch so viele Verwechslungen von Objekt- und Metaebene (auch und sogar) in semiotischer Literatur vor? Es mag oft an Gedankenlosigkeit liegen oder an unscharfem Denken oder an einer gewissen Nonchalance oder auch an terminologischem Imponiergehaben (möglichst oft den Terminus «semiotisch» einzuführen macht einen Artikel jedoch nicht «semiotischer»), die Gründe können aber auch tiefer liegen, d.h. können semiotik-geschichtlicher Art sein, und sind daher noch ernster zu nehmen und daher auch eingehender zu diskutieren. Um uns dies zu vergegenwärtigen, biete ich ein Diagramm an (Tafel 1), das stark an Überlegungen angelehnt ist, die Jerzy Pelc, führender Spezialist im Feld der Logischen Semiotik und Präsident der IASS von 1984 bis 1994, an mehreren Orten und Stellen vorgetragen bzw. veröffentlich hat (u.a. 1986; 2000).
[8]
Ich gehe davon aus, dass das Diagramm weitgehend selbsterklärend ist und fasse nur kurz zusammen: seiner Beobachtung und logischen Klassifikation gemäß gibt es verschiedene Ebenen (Komplexitäts- bzw. Abstraktionsgrade) semiotischer Aktivität, von rein deskriptiver ohne Verwendung eines dynamisch-relationalen Zeichenbegriffs, Semiotik1, über mehrere Stufen hin bis Semiotik4, der «reinen» Semiotik, dazu noch mehrere Semiotiken5, spezielle Semiotiken, deren Resultate modellhaft auch zum Korpus von Semiotik4 beigetragen haben (Metzs Große Syntagmatik wäre wohl so ein Beispiel). All diese sind die hierarchischen Metabenen, die sich über Semiosis entfalten, indem sie sie beschreiben, analysieren, er-theoretisieren (Semiotik selbst ist zugleich eine semiosische und semiotische Aktivität; durchgängig Metaebene ist sie also nur im letzteren funktionalen Aspekt).
[9]
Das terminologisch-historische Problem beginnt nun aus dieser Perspektive auf der Objektebene der real vorkommenden Zeichensysteme und Zeichenprozesse, also Semiosis. Es war einer der Gründerväter, nämlich Hjelmslev, der hier bereits einen «devianten» Usus pflegte: bei ihm war das Zeichensystem, das er vorrangig untersuchte, die Sprache, selbst eine «Semiotik», während, was gemeinhin seit Peirce unter «Semiotik» verstanden wird (ich beschränke mich auf die «moderne Semiotik» und lasse die Vorgeschichte beiseite), von Hjelmslev als «Metasemiotik» deklariert wurde. Er hatte seine theoretischen Gründe dafür, aber dieser Usus hat sich nicht durchgesetzt, es sei denn als Relikt im fahrlässigen Sprachgebrauch (es soll allerdings nicht verschwiegen werde, dass der wichtige Soziosemiotiker Halliday ebenfalls Sprache als «a social semiotic» charakterisierte; seine Schüler haben sich dem à la longue aber nicht angeschlossen, wie deren Organ Social Semiotics bereits namentlich beweist). Von besonderer Relevanz für die gegenwärtige Diskussion ist aber die Tatsache, dass Semiotik1, ein umfangreiches Korpus von Texten, wie es teilweise auch in semiotischen Zeitschriften erscheint, sich also offenbar als «semiotisch» versteht, gemäß Pelcs Vorschlag eher «Semiosik» (semiosics) genannt werden sollte: zwar Metaebene, aber theoretisch anspruchslos, bloß «Zeichensammlung» mit allenfalls Adhoc-Theorien zu deren Interpretation. Nun, Pelc hat sich damit nicht durchgesetzt, wer wollte schon die eigene Textproduktion abqualifizieren, ist doch die Konnotation in diesem Kontext einigermaßen negativ. Auch wäre «Semiosik» evidentermaßen nicht «disziplinfähig» (obwohl natürlich auch Materialsammlungen plus Materialbeschreibungen ein gewisser Wert nicht abzusprechen ist).
[10]
Wir wollen nun allerdings den terminologischen Vorschlag von Jerzy Pelc für ein kleines «Sprachspiel», ein kleines Gedankenexperiment heranziehen, aus dem hervorgehen sollte, welch weitreichende Folgerungen die Akzeptanz des Begriffes «Semiosik» hätte bzw. wie prekär die terminologische Lage eigentlich ist, wenn man darauf verzichtet. Dieses Gedankenexperiment kann anhand der Tafel 2 durchgezogen bzw. nachvollzogen werden.
[11]
Wir haben hier drei Rubriken, (Zeichen)Praxis, (Zeichen)Theorie und (Zeichen)Deskription, letztere im Sinne der Semiosik. «Semiosis» ist das zentrale Phänomen im Gegenstandsbereich. Der «Semiosis» zugeordnet ist das Adjektiv «semiosisch»; es gibt also nur semiosische Vorgänge im Felde, wie wir schon festhielten. Nun kommt mit ins Spiel, dass auch in der Tier- und eventuell Pflanzenwelt semiosische Vorgänge auftreten. Es gibt hierüber ein Spektrum von Meinungen in der semiotic community: von strikter Ablehnung diese Faktums (nur Anthroposemiosis bzw. semiotik möglich) bis zu sehr umfassenden Sichtweisen (Symbiosis = Semiosis), dazwischen vermittelnde (z.B. Benteles Schichtenmodell: von Signalen über Präzeichen bis zu Zeichen sensu stricto).
[12]
Wir einigen uns hier des Experimentes halber auf einen neuen Begriff, der dieses Problem eigentlich offen lässt, d.h. «Protosemiosis», und meinen damit alle biosemiosischen und semiosis-artigen Vorgänge zumindest am Wege zum Zeichen schlechthin, und dass diese einen speziellen Gegenstandsbereich konstituieren (dieser könnte auch Maschinensemiosis mit einschliessen, obwohl mir eine solche eher als pseudosemiosisch zu deklarieren wären, doch das ist hier ein Nebenaspekt). In diesem Sinne würde auch das Adjektiv «protosemiosisch» sinnhaft und wichtig. Alles, was nicht semiosisch ist, gehört in nonsemiosische Gegenstandsbereiche und ist «nonsemiosisch», ist de facto Kosmos abzüglich Leben, womit sich dann verschiedene «zuständige» Disziplinen zu beschäftigen hätten und dies ja auch de facto tun.
[13]
Es macht aber keinen praktischen Sinn, für diese den umfassenden Begriff «Non-Semiotik(en)» zu prägen, obwohl sie dies sind. Hingegen ist der Begriff «nonsemiotisch» bereits gebräuchlich (manchmal falsch für «nonsemiosisch», manchmal richtig, d.h. auf Metaebene (Rubrik Theorie), doch wäre er in unserer Systematik eher zu ersetzen durch «asemiotisch» für eine Betrachtungsweise (auch und insbesondere der Zeichen) aus semiotik-freier Perspektive (wofür wiederum es wenig hilfreich erscheint, all diese Perspektiven in einer «Asemiotik» zusammenzufassen, obwohl es deren zuhauf gibt). Hingegen können wir berechtigterweise von einer «Präsemiotik» und/oder «Kryptosemiotik» sprechen, damit Ansätze meinend, die dem der Semiotik nahekommen oder implizit, also versteckterweise bereits sind (ich erinnere daran, dass Eco bereits in den 1970er Jahren in vergleichbarem Sinne im Rahmen seiner semiotik-historischen Betrachtungen von expliziten und impliziten Semiotiken sprach und zudem von unterdrückten). Dementsprechend wären auch Bezeichnungen wie «prä-» und «kryptosemiotisch» akzeptabel. Alles Prä- und Kryptosemiotische strebt letztlich danach, sich als «Semiotik» zu entfalten und sich «semiotisch» zu artikulieren, und die haben wir ja empirisch in Form der semiotic community, in der es sogar verschiedene genuine Semiotiken gibt, und in der meist tolerant mit Prä- und Kryptosemiotikern und sonstigen semiotik-nahen Ansätzen umgegangen wird (zumindest seit sich so etwas wie eine «Intersemiotik» entwickelt hat; die Semiotik-Polizisten sind nahezu verschwunden).
[14]
Nun kommen wir aber zur dritten Rubrik. Hier könnten wir allenfalls zwischen einer «Semiosik» und einer «Präsemiosik» unterscheiden, wenn wir der ersteren eine Art latentes «semiotisches Bewusstsein» unterstellen und der letzteren absprechen (was in der Praxis vielleicht nicht immer in aller Schärfe durchzuhalten ist). Daher macht «semiosikal» für das Adjektiv noch einigermaßen Sinn, «präsemiosikal» kaum mehr (abgesehen davon, dass es sich um hässlich klingende Wortschöpfungen handelt, zugegeben; ich bitte um Verbesserungsvorschläge). Hingegen kann man sehr wohl in Analogie zu «Protosemiotik» von einer «Protosemiosik» sprechen, wenn der Gegenstandsbereich derselben im «protosemiosischen» Felde liegt (penible Beobachtung und Aufzeichnung des Kommunikationsverhaltens einer tierischen Spezies, zum Beispiel, ohne Zuhilfenahme semiotischer Modelle). Die restlichen Felder in Rubrik 3 bleiben leer. Es braucht kaum erläutert zu werden, dass wir uns in unserem «Sprachspiel» verlieren würden, würden wir hier auch noch nachsetzen.
[15]
Es versteht sich, dass es bei all diesen Kategorisierungsversuchen Übergangsphänomene und Übergangsformen gibt, die hier vernachlässigt sind; das liegt an der Methode: Definitionslogik ist nicht gleich Dialektik. Allerdings kommen wir hiermit zum Abschluss noch zu einer kleinen, aber nicht unwichtigen Komplikation, die zugleich zu weiteren terminologischen Unschärfebereichen führt. Semiotische Überlegungen, inklusive prä- und kryptosemiotischer und semiosikaler, können auch jenseits der (Trans)Disziplin Semiotik auftreten, sowohl in anderen Disziplinen als gelegentlich auch im Alltag. Wir Semiotiker haben kein Monopol darauf. Es gibt auch intuitive Semiotik (sonst gäbe es ja keine impliziten Semiotiken). Allerdings kommt es in diesem Fall viel öfter zu Verwechslungen. Eine sehr häufig anzutreffende – und dies gilt wiederum auch für Semiotiker selbst! – ist jene der Verwechslung der realweltlichen Phänomene und der gesellschaftlichen Diskurse darüber. Dies wird in Tafel 3 angesprochen.
[16]
Das meiste bleibt gegenüber Tafel 2 gleich; einige Felder mehr bleiben leer, um das Spiel nicht zu weit zu treiben. Ich brauche mich daher nicht zu wiederholen. Von den drei Gegenstandsbereichen Semiosis, Protosemiosis und Non-Semiosis (wir könnten auch übersetzen: Kultur/Gesellschaft, organische Natur, anorganische Natur) kann man auf zweierlei Art Notiz nehmen: als Gegenstandsbereich und vermittelt über das, was wir darüber wissen bzw. zu wissen glauben bzw. wissenschaftlich und non-wissenschaftlich kommunizieren.
[17]
So kann es z.B. dazu kommen, dass sich eine «ökologische Semiotik» entwickelt, aber bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, es handelt sich oft eher um eine Semiotik des ökologistischen Diskurses. Nicht nur Objekt- und Metabene im Sinne von Semiosis vs. Semiotik werden hier meist verwechselt, sondern mehr noch jene im Sinne von Ökologie1 vs. Ökologie2: Ökologie1 dabei das Öko-Megasystem meinend, in das alles Leben samt den höheren Hervorbringungen bis hin zu Kultur und Gesellschaft eingebettet ist und bleibt (denn Natur/Kultur ist keine schlichte Opposition, sondern letztere ein Resultat der ersteren, was nur evolutionär und dialektisch voll zu begreifen ist), und Ökologie2 die Lehre zu Ökologie1. Diese scheinbare Koinzidenz gibt es auch bei anderen wissenschaftlichen Bezeichnungen, z.B. «biologisch» sowohl für (meist umgangssprachlich) «lebendig» als auch für wissenschaftlich erforscht, eben «biologisch» erforscht; oder im Englischen «linguistic» sowohl für «sprachlich» als auch für «sprachwissenschaftlich»; etc.
[18]
Wir könnten nun Stück für Stück semiotische Begriffe abtasten und immer neue Verwechslungs- und Versagensmöglichkeiten dingfest machen – ein Spitzenkandidat dafür wäre der Begriff «Symbol», der bereits in verschiedenen Semiotiken, weiters in verschiedenen Wissenschaftssprachen und zuletzt in der Alltagssprache sehr Verschiedenes, teils sogar Widersprüchliches meint. Aber es ist Zeit, das Gedankenexperiment zu beenden. Es ist mir glasklar, dass ich mit den diesbezüglichen terminologischen Vorschlägen nicht durchdringen werde, ebenso wenig wie Jerzy Pelc mit «Semiosik», aber das war ja auch nicht der Zweck der Übung. Wenn es mir gelungen sein sollte, Ihren Blick für die Fallen der Sprache, speziell der Wissenschaftssprachen und insbesondere der semiotischen Spezialsprachen zu sensibilisieren, bin ich schon zufrieden. Das wäre durchaus im Sinne der erwähnten semantischen Hygiene. Vielleicht lese ich in Zukunft weniger oft von «semiotischen Systemen», wo keine sind.

1.

Literatur ^

Bentele, Günter, Zeichen und Entwicklung, Vorüberlegungen zu einer genetischen Semiotik, Narr: Tübingen 1984

Bernard, Jeff,
 Objekt- und Metaebene – ein «semiotisches» Problem?, in: Panier, Louis / Lamizet, Bernard (eds.). Signs of the World. Interculturality and Globalization. Proceedings of the 8th Congress of the IASS-AIS, Lyon 2004 / Les signes du monde – Interculturalité et globalisation. Lyon 2007; Web online: http://jgalith.univ-lyon2.fr/Actes/articleAsPDF/
BERNARD_Terminol_pdf_20061022124328
, retrieved: 2007-11-12

Bogusławski, Andrzej
, On the Problem of Sign Typology, in: Pelc, Jerzy et al. (eds.). Sign, System and Function. Berlin, New York & Amsterdam 1984: Mouton: 25–35

Eco, Umberto
, Proposals for a History of Semiotics, in: Borbe, Tasso (ed.); Semiotics Unfolding. Proceedings of the Second Congress of the International Association for Semiotic Studies, Vienna, July 1979 (= Approaches to Semiotics 68). Berlin, New York, Amsterdam 1984, vol. I: 75–89

Pelc, Jerzy
, Preface, in: Pelc, Jerzy et al. (eds.). Sign, System and Function. Berlin, New York & Amsterdam 1984: Mouton, v–x

Pelc, Jerzy
, Semiotics, in: Sebeok, Thomas A. (gen.ed.), Encyclopedic Dictionary of Semiotics; Berlin, New York, Amsterdam 1986: Mouton de Gruyter [2nd ed. 1994], pp. 893–912

Pelc, Jerzy
, The methodological status of semiotics: Sign, semiosis, interpretation and the limits of semiotics, in: Deledalle, Gérard (gen.ed.), Balat, Michel / Deledalle-Rhodes, Janice (eds.); Signs of Humanity. Proceedings of the 4th Congress of the International Association for Semiotic Studies / L’homme et ses signes. Actes du IVe Congrès Mondial de l’Association Internationale de Sémiotique, Barcelona–Perpignan 1989 (= Approaches to Semiotics 107). Berlin, New York 1992: Mouton de Gruyter, pp. 23–34

Pelc, Jerzy
, Semiosis and semiosics vs. semiotics. 2000, Semiotica 128(3/4): 425–434


 

Jeff Bernard (†),Sozialwissenschaftler und Semiotiker; langjähriges Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Semiotik ÖGS (zuletzt als Vorsitzender) und der International Association for Semiotic Studies IASS (Generalsekretär bzw. Vize-Präsident), Gründungsvorsitzender des Instituts für Sozio-Semiotische Studien; Forschungsschwerpunkte: allgemeine Semiotik, Sozio-Semiotik, Ferruccio Rossi-Landi; autonome Kulturarbeit, behinderte Menschen.

Der Beitrag beruht auf dem gleichnamigen Vortrag, den Jeff Bernard am 13. Juni 1995 im Rahmen von Friedrich Lachmayers Seminar «Semiotik des Rechts» am Juridicum der Universität Wien gehalten hat. Ursprünglich sollte der Aufsatz in einem Friedrich Lachmayer und seinem Seminar gewidmeten Band erscheinen, den Jeff Bernard gemeinsam mit Thomas Ballhausen herausgeben wollte. Leider konnte dieses Publikationsvorhaben nicht realisiert werden. Da er beim 8. Kongress der International Association for Semiotic Studies (Lyon 2004) im Rahmen eines Round Table zu Fragen der Semiotic Terminology die hier diskutierten Gedanken zur begrifflichen Präzisierung vorgetragen hat, wurde der Beitrag in die online-Proceedings aufgenommen (Bernard 2007). 

Die Artikel einiger weiterer Autorinnen und Autoren dieser Festschrift waren ebenfalls zur Veröffentlichung in diesem Nachfolgeband von Zeichen, Recht und Macht (hrsg. von Friedrich Lachmayer, Gloria Withalm & Erich Fries. Wien: ISSS Institut für Sozio-Semiotische Studien 1995) geplant oder bereits verfasst worden und erscheinen hier in der originalen oder leicht überarbeiteten Form: Thomas Ballhausen, Vladimir Biti, Anton Fürlinger, Dinda L. Gorlée, Rolf-Dieter Hepp, János Kelemen, Rita Sabine Kergel, Helga Kerschbaum, Susan Petrilli & Augusto Ponzio, Karl Purzner, Sigrid Schmid-Bortenschlager, Gloria Withalm.