1.
Vorbemerkungen ^
Seit 1983 bin ich als Restaurator der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums – der in der Neuen Hofburg in Wien aufbewahrten und weltweit ältesten Sammlung dieser Art – tätig. Ausgelöst von den enormen Klimaschäden an den Sammlungsobjekten in den 1980er Jahren1, habe ich mich mehr als 25 Jahre mit der Entwicklung eines konservatorischen Klimakonzepts für die museal genutzten Bereiche der Neuen Burg beschäftigt. Nach der 1989–1993 durchgeführten Generalsanierung der Musikinstrumentensammlung – die die Wintersituation zwar signifikant verbessert hat, die sommerliche Überwärmung jedoch nach wie vor nicht beseitigen konnte – habe ich 1992 erstmals ein übergreifendes Gesamtklimakonzept formuliert, dieses 20 Jahre lang im Detail ausgearbeitet und 2012 unter dem Titel «Ökosystem Museum» als Dissertation vorgelegt2. Die Arbeit war der 28. (bisher vergebliche) Versuch, die seit langem geltenden konservatorischen Standards im eigenen Wirkungsbereich ganzjährig und auch bei kritischer Witterung umzusetzen. Darüber hinaus wurde auch ein Energiesparpotenzial von ca. 20-30% aufgezeigt – ein Thema, dessen Aktualität nicht weiter betont werden muss.
2.
Entstehungs- und Nutzungsgeschichte ^
Das auf der gegenüber liegenden Seite des großen Burgplatzes (Heldenplatz) spiegelbildlich geplante «Corps de Musée» als Erweiterungsbau für die kaiserlichen Sammlungen sowie der die beiden Flügel verbindende Thronsaal-Trakt kamen nie zur Ausführung: Im November 1918 war der Stadterweiterungsfond (zur Finanzierung des ganzen Kaiserforums) praktisch leer, der Krieg verloren, die Monarchie am Ende – von der gesamten Neuen Hofburg stand nach 23jähriger Bauzeit lediglich der südseitige «Flügel gegen den Kaisergarten» unvollendet und innen teilweise noch im Rohbau da. Im quadratischen, gegen die Ringstraße gelegenen und bereits 1914 baulich weitgehend fertig gestellten Westteil (heute – obwohl niemals bewohnt – «Corps de Logis» genannt), ist seit 1907 im 2. Obergeschoß die sog. Fideikommissbibliothek sowie die Porträtsammlung von Kaiser Franz I. (1768-1835) (beide heute ÖNB) untergebracht. Nachdem die Weltreisesammlung des Thronfolgers Franz Ferdinand bereits ab 1907 im Erdgeschoß des Corps de Logis aufgestellt worden war, wurden in die großen Säle im 1. Stock nach 1916 Teile der sog. Estensischen Sammlung hierher verbracht3. 1919 stand die neue Regierung der 1. Republik vor der schier unlösbaren Aufgabe, für den unfertigen riesigen Baukomplex eine sinnvolle Verwendung zu finden. 1922 wurde die Zweckwidmung der ganzen Neuen Burg (die für jede andere Nutzung als «unverwendbar» angesehen wurde), als Museum erstmals konkret ins Auge gefasst und ab 1924 umgesetzt.4
3.
Anamnese ^
Der schon während der Entstehung äußerst umstrittene Bau war von Anfang an von konzeptuellen Mängeln, Intrigen und ständigen Planungsänderungen begleitet. Nach jahrelangen Querelen wurde 1906 das Hofbaucomité aufgelöst; die Berichte, dass die Planungen seit Jahren praktisch stagnierten, lösten in der Presse eine Flut polemischer Artikel aus. Das «monströse Bauwerk» wurde als Schande für Wien bezeichnet, ja sogar sein Abriss gefordert.5
Im Sommer 1938 wurde im 1. OG (heute die Säle XV-XVIII der Sammlung alter Musikinstrumente) das «Zentraldepot beschlagnahmter Kunstwerke» eingerichtet. In der Folge werden hier bis zu 8‘000 von den Nazis geraubte Kulturgüter aus vorwiegend jüdischem Besitz gelagert7, die nach 1965 in die Kartause Mauerbach übersiedelt und in den 1990er Jahren versteigert wurden.
3.1.
Deutung aus systemtheoretischer Sicht ^
Die Neue Burg ist v.a. als Museum «dysfunktional». In meiner Dissertation habe ich in einer systemtheoretischen Analyse gezeigt, dass die von Mitarbeitern der Neuen Burg über Jahrzehnte beobachteten und beklagten Dysfunktionalitäten wie Kommunikationsprobleme, zähe Informationsflüsse und Verwaltungsabläufe, fehlende Entscheidungen für dringend geforderte Verbesserungsmaßnahmen etc. fast zwangsläufig aus den gegebenen Organisationssystemen und Verwaltungsstrukturen resultieren, die von unterschiedlichen Akteuren mit unterschiedlichen Teilinteressen und Abhängigkeiten bespielt werden10.
3.2.
Betrachtung aus einem anderen Blickwinkel ^
Ein Aspekt wurde bisher kaum thematisiert – die architektonische Dynamik der Anlage. «Von allen Arten der Kunst ist Architektur die einzige Disziplin, der sich kein Mensch entziehen kann; lebt er doch im Innen- und Außenraum und wird von Geburt an von ihren Formen und Farben determiniert.»12 Die Neue Burg ist unvollendete, besser «verhinderte» (Erich Fries13) Herrschafts-Architektur: Die mächtige kolonnadenbewehrte Fassade mit dem Haupteingang gleicht einem großen Konkavspiegel, dessen Achse und Fokus nach Nordwesten weisen – auf die Nachtseite. Diese Himmelsrichtung (im Jahreskreis dem November entsprechend) ist noch um einen Grad «trostloser» als die darauf folgende «Mitternacht» (Wintersonnenwende, «Weihnachten»), ab der ja bereits die Hoffnung auf den heraufkommenden neuen Tag spürbar wird. Grund für diese Dynamik ist die Leerstelle auf der gegenüberliegenden Seite des Heldenplatzes für das spiegelbildlich konzipierte, aber nie gebaute «Corps de Musée». Dieser weitere Museumsbau mit dem «Leuchten» darin aufbewahrter Schätze und dem akkumulierten universalen «Wissen» des kulturellen Zentrums der Monarchie, hätte mit der nach Südosten («Sonnenaufgang» ) weisenden Achse die Dynamik der Dunkelheit kompensiert. Der bestehende Teil der Neuen Burg fokussiert ohne Pendent «absolute Dunkelheit» auf den Platz und den ominösen Balkon.
3.3.
Exkurs in ein außereuropäisches Denksystem ^
4.
«Energetische Heilung» der Neuen Burg durch ein institutionsübergreifendes Nutzungskonzept ^
4.1.
Ort der Völkerverständigung und Weltoffenheit Weltmuseum Wien / Museum für Völkerkunde ^
Das Museum soll «dem besseren Verständnis einzelner Kulturen oder Weltregionen gewidmet» sein und sich «auf vergleichende Weise mit der Bandbreite menschlicher Kulturäußerungen und den Gemeinsamkeiten von Kulturen [befassen]. In ihrer Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit und mit dem, was alle Menschen miteinander verbindet, leisten ethnologische Museen einen wichtigen Beitrag zum Verständnis einer durch verbesserte Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation geschrumpften und durch Migrationsströme zunehmend multikulturellen Welt.»14
4.2.
Ort der Bildung und der Wissensvermittlung Österreichische Nationalbibliothek ^
In einer an den Beginn ihres umfangreichen Leitbildes gestellten Kurzdefinition versteht sich die ÖNB «als dienstleistungsorientiertes Informations- und Forschungszentrum, als herausragende Gedächtnisinstitution des Landes und als vielfältiges Bildungs- und Kulturzentrum.» «Als zentrale wissenschaftliche Bibliothek der Republik Österreich blickt die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) auf eine traditionsreiche Geschichte bis ins 14. Jahrhundert zurück. Sie ist lebendige Brücke zwischen dem reichhaltigen Erbe der Vergangenheit und den zukunftsorientierten Ansprüchen der modernen Informationsgesellschaft.»15 Der gesellschaftliche Anspruch und die politische Stellung dieser Institution ist unbestritten und gefestigt und braucht hier nicht näher erläutert zu werden.
4.3.
Ort der Harmonie und Kooperation Sammlung alter Musikinstrumente ^
Die Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums Wien ist die älteste und vermutlich schönste Sammlung dieser Art und geht auf die 1596 erstmals inventarisierte Kunst- und Wunderkammer Erzherzog Ferdinands II. auf Schloss Ambras zurück. Sie ist in Wien (Stadt der Musik?) weitgehend unbekannt, obwohl sie «über den weltweit bedeutendsten Bestand an Renaissance- und Barockinstrumenten verfügt. Darüber hinaus verwahrt, pflegt und präsentiert sie zahlreiche Instrumente, die von berühmten Musikern und Komponisten gespielt wurden. Zu den besonderen Sammlungsschwerpunkten zählen die einzigartigen Bestände der Wiener Hammerklaviere, der Streichinstrumente Jacob Stainers und der Holzblasinstrumente der Renaissance. Die Klangwelt der Komponisten der Wiener Klassik lässt sich anhand der Objekte der Sammlung alter Musikinstrumente lückenlos nachvollziehen.»16
4.4.
Ort der Reflexion zur heutigen Bedeutung von «Ritterlichkeit» und «Adel» – Hofjagd- und Rüstkammer ^
Die Wiener Sammlung ist «die bestdokumentierte höfische Rüstkammer der abendländischen Welt, da die Objekte durchwegs im Zusammenhang mit hochpolitischen Ereignissen entstanden oder in die Sammlung gekommen sind […]. Keine andere Herrscherfamilie war mit so vielen Ländern Europas durch Heirat verbunden wie die Habsburger. Daher sind fast alle westeuropäischen Fürsten vom 15. bis ins frühe 20. Jahrhundert mit Rüstungen und Prunkwaffen vertreten.»17
4.5.
Ort der Nachhaltigkeit und Verantwortung für die Zukunft «Ökosystem Museum» ^
4.6.
Ort der Reflexion über Machtmissbrauch und strukturelles Unrecht ^
Im Bereich der Neuen Burg fehlt bis heute ein Hinweis auf das hier Geschehene. Auch wenn das Verhalten und die Reaktionen der Akteure aus damaliger Sicht erklärbar sind (verlorener Krieg, Verträge von St. Germain, Verlust von Südtirol, Austrofaschismus, Arbeitslosigkeit etc.), birgt der mit einer Simplifizierung von historischen Fakten verbundene Verdrängungsprozess die Gefahr der Geschichtsverfälschung, nicht zuletzt, weil bald keine Zeitzeugen mehr am Leben sein werden. Das seit Jahren geforderte und aufgeschobene «Haus der Geschichte» wäre so ein Ort des Bedenkens19 – jedoch wurden die Vorschläge zum Standort in der Öffentlichkeit sehr kontroversiell diskutiert.
5.
Neue Zeichen-Setzungen ^
6.
Schlussbemerkung ^
Noch während der Bauzeit wurde die Neue Burg als hässliches «Monstrum» bezeichnet und dessen Abriss gefordert. Es sollte uns zuversichtlich stimmen, dass der lateinische Wortstamm mehrere Bedeutungen zulässt: Das Wort für Ungeheuer, Scheusal oder Monster bedeutete ursprünglich «Zeichen» bzw. «Wunderzeichen»21. Die Umdeutung liegt in unserer Hand.
7.
Anhang ^
Die Essenz des I-Ging bilden die bekannten 64 Hexagramme, deren dualer Charakter sich in den beiden verwendeten Ur-Elementen, einer durchgezogenen oder einer unterbrochenen Linie, äußert. Aus den zwei Linien lassen sich vier Zeichen (Digramme) zusammensetzen, die den auch in der abendländischen Philosophie vertrauten vier Elementen entsprechen.
Alfons Huber, Restaurator an der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums Wien. Univ.-Doz. an der Akademie der bildenden Künste Wien. Österreich.
- 1 Hufnagl, Herbert, «Der Museumsskandal», Artikelserie in der Tageszeitung KURIER, Wien 1987.
- 2 Huber, Alfons, Ökosystem Museum, Grundlagen zu einem konservatorischen Betriebskonzept für die Neue Burg in Wien. Dissertation an der Akademie der bildenden Künste, Wien 2011. http://www.khm.at/fileadmin/content/KHM/Forschung/Forschungsprojekte/2012/Dissertation-Huber/diss_120105.pdf.
- 3 Lhotsky, Alphons, Die Baugeschichte der Museen und der Neuen Burg, Wien 1941, S. 157.
- 4 Haupt, Herbert, Das Kunsthistorische Museum, Die Geschichte des Hauses am Ring, Wien 1991, S. 237 und 277.
- 5 Lhotsky, Alphons, Die Baugeschichte der Museen und der Neuen Burg, Wien 1941, S. 133.
- 6 Durchschlag eines Briefes (ohne Anrede) des Direktors der Waffensammlung Dr. Leopold Ruprecht vom 23. August 1938, vermutlich an den Ersten Direktor des KHM Fritz Dworschak.
- 7 Haupt, Herbert, Das Kunsthistorische Museum – Die Geschichte des Hauses am Ring, Hundert Jahre im Spiegel historischer Ereignisse, Brandstätter: Wien 1991, S. 129.
- 8 Persönliche Mitteilung (ca. 1995) von Dr. Hermann Neugebauer, Chirurg und späterer Leiter des orthopädischen Spitals Gersthof.
- 9 Mündlich überliefert von Mag. Eva-Maria Hüttel-Hubert (ÖNB).
- 10 Huber, Alfons, Ökosystem Museum, s. Fn. 2, S. 282-290.
- 11 Simon, Fritz, Einführung in die systemische Organisationstheorie, 2. Aufl., Heidelberg 2009, S. 31.
- 12 Fries, Erich, Macht und architektonische Zeichen, in: Lachmayer, Friedrich / Withalm, Gloria / Fries, Erich (Hg.), Zeichen, Recht und Macht, Wien 1995, S. 12.
- 13 Ders., S. 14.
- 14 http://www.ethno-museum.ac.at/das-museum/.
- 15 http://www.onb.ac.at/about/leitbild.htm.
- 16 http://www.khm.at/besuchen/sammlungen/sammlung-alter-musikinstrumente/.
- 17 http://www.khm.at/besuchen/sammlungen/hofjagd-und-ruestkammer/.
- 18 Lhotsky 1941 (siehe Fn. 5): Abb. 59 und 61
- 19 Rauchensteiner, Manfred / Karner, Stefan, Das Haus der Geschichte der Republik Österreich, Wien 1999.
- 20 An dieser Stelle sei Mag. Christa Angermann, Restauratorin der HJRK, für den langjährigen offenen Gedankenaustausch zu diesem Thema, für die kritische Durchsicht dieses Textes und die zahlreichen Anregungen und Ergänzungen gedankt.
- 21 Rathmeier-Wit, Hedwig, Zeichen und Tabu, in: Lachmayer, Friedrich / Withalm, Gloria / Fries, Erich (Hg.), Zeichen, Recht und Macht, Wien 1995, S. 144.
- 22 I Ging, Text und Materialien, übers. von Richard Wilhelm, 1. Auflage 1924, Kreuzlingen/München 2001. http://de.wikipedia.org/wiki/I_Ging (12. März 2013).