[11]
Wie in [2] beschrieben hat sich im vergangenen Jahrhundert unser Verhalten durch die Verschmelzung von den drei wesentlichen Ideologien Darwinismus, Marxismus und Taylorismus verändert. Es hat sich ein neues Praxismodell etabliert, welches durch den Vorteil desjenigen, der eine Information als erster zur Verfügung hat und zu nutzen versteht (Darwin), durch die kostenlose Informationsbereitstellung im Internet (Marx), durch eine Arbeitsoptimierung im Sinne des Multi-Taskings und der sich ausbreitenden Mikroarbeit im Internet (Taylor) gekennzeichnet ist, etabliert: «Nicht der Tüchtige überlebt, sondern der Bestinformierte!» [2, Seite 121]
[12]
Dadurch hat sich die Art, wie Gedanken in unserem Kopf entstehen, wofür wir Aufmerksamkeit entwickeln und nicht zuletzt wofür wir unser Gehirn täglich konditionieren, verändert.
[13]
Die täglich über uns hereinbrechende Informationsflut bindet unsere Aufmerksamkeit, es bleibt wenig Zeit für persönliche Angelegenheiten übrig. Die ständige Reaktionsbereitschaft, auf neue Informationen sofort zu reagieren, führt zu einem Dauer-Alarmzustand, also Stress. Dieser führt oft zu Schlaflosigkeit und Depression.
[14]
In Zeiten der zunehmenden Individualisierung und Sinnsuche kommt es zu einer Veränderung unserer Denk- und Verhaltensmuster, wofür wir unsere maximale Aufmerksamkeit benötigen. Unser Verstand wird zum Austragungsort eines Verdrängungswettbewerbs zwischen Informationen, Gedanken und Ideen. Die immer intensiver werdende Interaktion mit unserer Umwelt durch die Nutzung digitaler Medien, wie dem Internet, verstärkt diesen Vorgang. Vor allem im urbanen Lebensraum kommt es zu Auswirkungen im Sozialverhalten, wie Vereinsamung, Krankheit und Sucht.
[15]
Bei vielen Menschen führt die zunehmende Komplexität zu einem verstärkten Kontrollbedürfnis und mündet im Versuch, das Lebensumfeld in Metriken und Algorithmen, also Methoden zum schrittweisen Erreichen eines Zieles zu übersetzen. Dabei laufen wir Gefahr, unsere Fähigkeit, mit Unschärfen, Wichtigkeiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen, zu verlieren. Durch die Informationsüberflutung und die daraus resultierende zunehmende Unfähigkeit mit dieser umzugehen, verliert der Mensch seine Selbständigkeit in der Verarbeitung von Informationen. Die Priorisierung und Entscheidungsfindung wandert nach außen auf eine, mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Plattform – «Das Internet nimmt uns heute bereits das Denken ab, der Bildschirm ersetzt das reale Erleben. Wissen geht verloren.» [3, Seite 78f.]
[16]
Nicht nur die zur Verfügung stehenden Kommunikationsmittel, auch die Art und Weise unserer Kommunikation verändert sich nachhaltig in den verschiedenen Altersgruppen unserer Gesellschaft. Studien belegen, dass Jugendliche im Umgang mit digitalen Medien im Vergleich zu Erwachsenen mit erheblichen Schwächen konfrontiert sind – geringe Lesefähigkeit, ineffiziente Suchstrategien und deutlich geringere Geduldsspannen werden dabei genannt. Die amerikanische Publizistin Maggie Jackson schreibt: «Unsere Werkzeuge spiegeln die Werte unserer Zeit.» [2, Seite 85]
[17]
Die geistige Leistungsfähigkeit des Gehirns kann wie bei einem Muskel trainiert werden. Geistiges Training entspricht dem Lernen und vollzieht sich automatisch bei geistiger und körperlicher Anstrengung. Es wird Wissen gebildet, wodurch sich das Individuum von Zwängen befreit und sich kritisch mit sich selbst und seiner Umwelt auseinandersetzen kann. Bei der digitalen Abspeicherung von Informationen wird die Emotionslage zum Einprägen von neuen Sachverhalten verändert. Wissen und damit der Bildungsgrad ist nach übereinstimmender Meinung der Medizin der wichtigste Faktor für Gesundheit, sowohl für die geistige als auch für die körperliche.
[18]
Wissen ist abhängig vom Kontext, in dem man sich befindet und muss selbständig erarbeitet werden. Je intensiver man einen geistigen Sachverhalt geistig bearbeitet, desto besser wird dieser gelernt. Beim selbständigen Lesen und Schreiben wird ein Denken produziert, welches die Verflechtung von Informationen und Gedanken auflöst und Informationen verwertbar macht. Algorithmen sind demnach dafür geeignet, um Menschen das Denken und Kreativität zu ermöglichen, nicht um es ihnen von Computern abzunehmen. Das menschliche Gehirn ist mit einer Fehlertoleranz ausgestattet. Diese bildet zwar die Ursache für Unklarheiten, aber auch die Quelle von Fantasie. Trotz dieser Problematik existieren heute immer noch Daumenregeln, Intuition und Bauchgefühl um Wichtigkeiten zu bestimmen und zu entscheiden, welche Information gemerkt werden soll und welche nicht.
[19]
Was tut der Mensch, wenn er nicht selbst über sein Handeln nachdenkt und dieses reflektiert, wenn die Aufmerksamkeit zu gering ist, um Ideen zu entwickeln und man aus einer Routine heraus handelt?
[20]
Routine entsteht aus einem Verlust an Achtsamkeit (und Informationen) und führt zum Verlust von Empathie, der Fähigkeit Gefühle und Absichten anderer Personen wahrzunehmen. Ein, diesem Vorgang entgegenwirkender Perspektivwechsel ist meist nicht möglich – entscheidungsrelevante Informationen werden unter der Annahme ausgefiltert, dass diese bereits bekannt seien. Der naheliegende Versuch, den wahrgenommenen Mangel an Information zu vervollständigen ist nicht zielführend. Vielmehr braucht es ein Bewusstsein, dass jede Information unvollständig ist. Ein Perspektivwechsel kann deshalb für das Verständnis der Gesamtsituation wichtiger sein als jede weitere Information.
[21]
Ärzte und Wissenschaftler raten in Situationen geistiger Überforderung, die Kommunikationswerkzeuge auszuschalten, eine Pause einzulegen und nicht nach weiteren Informationen bzw. weiteren Informationsträgern zu suchen. Die Energiebilanz aus dem Nutzen durch neue Informationen und den zugehörigen Findungsaufwand fällt negativ aus – der Preis für die dafür erforderliche Aufmerksamkeit wird nur indirekt wahrgenommen und deshalb unterschätzt.
[22]
Der allgemein zunehmende Zeitdruck führt dazu, dass man beginnt, mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen. Man wird ständig von einer unerledigten Aufgabe durch eine neue Aufgabe abgelenkt und versucht diese Ablenkung wieder unter Kontrolle zu bringen. Eine weitere Ursache für dieses Verhalten ist das ununterbrochene Eintreffen von neuen Informationen und Nachrichten. Wir werden fortlaufend an der Erledigung begonnener Tätigkeiten gehindert, was zu Chaos in unserem Kurzzeitgedächtnis führt. Dadurch verliert man die geistige Kontrolle zum bearbeiteten Gegenstand, da im Gehirn die Aufmerksamkeits- und Gedächtnisregionen betroffen sind. Das Lernen ist aus dieser Tätigkeit heraus beeinträchtigt und darüber hinaus wird man anfällig für fremde Beeinflussung und Manipulation. Diese Anfälligkeit fördert wiederum die Unfähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden und stellt ein grosses Gefährdungspotenzial vor allem für Kinder und Jugendliche in deren unvollständiger Persönlichkeitsentwicklung dar.
[23]
Computerprogramme bieten dafür Hilfestellungen an, was zum Ergebnis führt, dass man Aufgaben in der vom Computerprogramm vorgeschlagenen Reihenfolge zu erledigen beginnt – man «lässt denken» und verändert dadurch seine bisherigen Gewohnheiten. Der individuelle, aufgrund der Erfahrungen ausgebildete, kognitive Stil wird verändert - Kreativität, Flexibilität und Spontaneität gehen verloren. Studien belegen, dass beim Multi-Tasking durch die Zulassung von Ablenkung eine Oberflächlichkeit und Ineffektivität beim Lösen von Aufgaben antrainiert wird, [3].
[24]
Zitat von Wolfgang Prinz [2: Seite 154]: «Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.»
[25]
Eine mögliche Gegenmassnahme dazu bietet die aktive Selbstkontrolle. Darunter versteht man, sich Ziele bewusst zu machen, auf nicht zielführende Aktivitäten zu verzichten und die zur Zielerreichung verfügbaren Methoden selbst zu bestimmen. Es geht also um die Vermeidung von reflexartigem Verhalten. Stress resultiert aus mangelnder Selbstkontrolle und hängt davon ab, wie man das Ausmaß der eigenen Kontrolle über die jeweilige Situation wahrnimmt. Stress führt zur Zerstörung von Nervenzellen und damit zu Demenz.
[26]
Selbstkontrolle kann nur durch selbständiges Nach-Denken und einem bewusst vorgenommenen Perspektivwechsel gefördert werden. Dies setzt die Erkenntnis voraus, dass weitere Informationen nicht die Unschärfe einer Situation reduzieren, sondern dass Unsicherheit die Voraussetzung für innere Freiheit ist. Die richtigen Fragen sind in diesem Zusammenhang wichtiger als die richtigen Antworten, auch wenn diese von anderen Personen beantwortet werden. Aufmerksamkeitsreduktion, wie beim Multi-Tasking der Fall, ist damit das Gegenteil von Selbstkontrolle, man liefert sich fremdbestimmten Vorgängen und deren Wirkungen aus. Dieser Effekt wird durch die Nutzung digitaler Medien verstärkt [3].
[27]
Menschen sind Gemeinschaftswesen und suchen deshalb Kontakt und Austausch mit anderen Menschen. Im Internet will man nicht nur schnell finden, sondern man will auch wahrgenommen und gefunden werden – als Benutzer- und Personenprofil. Soziale Netzwerke geben vor, zur Stärkung sozialer Beziehungen beizutragen oder diese erst zu ermöglichen. Informationen werden für uns interessant, wenn diese für andere Nutzerprofile interessant sind – es kommt zur fremdinitiierten Interessensbildung. Trends und Hypes entstehen auf Basis von «Informations-Kaskaden» – man schließt sich einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung an, obwohl man persönlich anderer Meinung ist. Dabei kommt es zu einer Reduktion der geistigen Leistungsbereitschaft. Im Gegensatz zum virtuellen Kontakt führt der persönliche Kontakt mit Informationsträgern zu deutlich mehr Informationen und zu einer emotionaleren und tieferen Verarbeitung der ausgetauschten Information. Zudem weist die direkte Interaktion aufgrund der vielschichtem Kommunikationskanäle eine höhere Qualität auf. Die persönliche Merkfähigkeit und die soziale Kompetenz nehmen mit der Gruppengrösse der gepflegten Kontakte zu.
[28]
Auf digitalen Plattformen werden aufgrund fehlender Kontrollmechanismen soziale Verhaltensweisen ermöglicht, welche in der realen Welt nicht oder nur erschwert möglich sind. Dadurch und zufolge der angebotenen User-Anonymität kommt es zu einer nicht kontrollierbaren Kommunikationskultur mit Ausprägungen wie «cyber mobbing» etc.