1.
Einführung: Das ganz normale Scheitern von interdisziplinären Projekten ^
1.1.
Ein drastisches Exempel: EU IKT Forschung und Entwicklung ^
1.2.
Die Ursache des Scheiterns liegt in den Kompromissen auf der Problemebene ^
1.3.
Erfolg hat einen hohen Preis: die inhaltliche Transformation ^
1.4.
Der Freiheit der Interdisziplinarität wird selten genutzt, weil die Methode fehlt ^
2.
Rechtliches Requirements Engineering ^
2.1.
Es fehlen die Instrumente für die Integration von Rechtsfragen ins Engineering ^
Eine besondere Herausforderung beim Umgang mit rechtlichen Anforderungsbeschreibungen stellt die kreative Freiheit bei der Umsetzung von Gesetzen durch die Verwaltung dar, die z.B. den Einsatz von Prüflisten für Anforderungsbeschreibung zweifelhaft macht, weil die Gestaltung dieser Prüflisten zu einer willkürliche Auswirkung auf die Organisationsformen hätte.10 Dazu kommt die Vielfalt der Möglichkeiten der technischen Unterstützung der organisatorischen Implementierung von Gesetzen. Es gibt also sehr unterschiedliche korrekte technische Lösungen. Aber auch die Anforderungsbeschreibung steht in keiner eins-zu-eins Beziehung zu den technischen Umsetzungen, sondern lassen vielfältige technische Umsetzungsvarianten zu. Rein theoretisch sollte eine rechtliche Anforderungsbeschreibung alle in Bezug auf die gesetzliche Ausgangslage zulässigen technischen Implementierung zulassen, nicht mehr und nicht weniger, nur dann ist sie optimal. Aber selbst wenn dies gelingt, gibt es noch das grosse Problem der Verständlichkeit. Neben korrekten, aber unverständlichen rechtlichen Anforderungsbeschreibungen gibt es auch solche, die korrekt, aber aufgrund der Formulierung präjudizierend sind, oftmals abhängig von der Engineering-Kultur der Verantwortlichen für die technische Umsetzung. Instrumente für rechtliches Requirements Engineering zu bauen ist also eine grosse Herausforderung.
2.2.
Der Designprozess stellt häufig Rechtsänderungen zur Diskussion ^
2.3.
Der Lead durch die Informatik führt zu suboptimalen Lösungen ^
Auch ein iteriertes Vorgehen im Engineering mit mehrmaliger Überarbeitung der Anforderungsbeschreibungen hat einen grundsätzlicher Nachteil: Es gibt eine stark dominierende Lead-Disziplin, die Informatik. Das Design entsteht aus der Brille der Informatik und das ist suboptimal, wie andere hierarchische Vorgehen auch. Weder die Ableitungslogik «Recht → Organisation → Technik» noch ihre Umkehrung liefern optimale Lösungen, weil die Dominanz einer Perspektive es wahrscheinlich macht, dass die anderen Fachdisziplinen unter ihrem Wert geschlagen und unzureichend berücksichtigt werden. Die empirische Erfahrung zeigt, dass organisationsgetriebene Projekte ebenso scheitern wie technikgetriebene Projekte. Rechtsgetriebene Projekte im eigentlichen Sinn gibt es kaum, aber viele gesetzliche Verordnungen die organisatorisch oder/und technisch ins Leere laufen. Der Grund ist immer der gleiche: Das Wissen der anderen Disziplinen wird entweder gar nicht berücksichtigt oder mindestens zu wenig verstanden. Zwischen Lead- und Follower-Disziplinen entsteht kein echtes Zusammenspiel – mit vielfältig unerfreulichen Folgen. Nicht nur, dass wichtige Einschränkungen des Lösungsraums übersehen werden, was zur Folge hat, dass untaugliche Lösungen entwickelt werden. Sondern auch der effektive berücksichtigte Lösungsraum enthält meist viel weniger Optionen als es gibt.
2.4.
Wünschbare Instrumente für rechtliches Requirements Engineering ^
3.
Vielversprechende Lösungsansätze, die in der Praxis scheitern ^
- Eine klare lineare Hierarchie der Disziplinen
- Das Definieren von Schnittstellen
- Das Erfinden einer gemeinsamen Sprache
3.1.
Die logischen Defizite jeder Disziplinen-Hierarchie ^
Wenn eine lineare Hierarchie aufgesetzt wird, in der jeweils eine Disziplin für die nachfolgende Aufträge formuliert, wird dies im besten Fall den effektiv betrachteten Raum der Lösungsoptionen verkleinern, vermutlich aber auch notwendige Anforderungen verschwinden lassen. Weil etwas, das für die übernächste Disziplin relevant ist, für die Zwischendisziplin sehr wohl irrelevant sein kann. Notwendig ist also in jedem Fall, dass eine Disziplin die Vorgaben aller Vorgängerdisziplinen mit berücksichtigt. Betrachten wir dazu die beliebte «theoretische» E-Government-Ableitungskette
<< Politischer Wille → Gesetze und
Verordnungen → Verwaltungsaufgaben →Aufbauorganisation → Prozesse → Technische Lösungen → Einsatzkonzepte >>
die in der Praxis meist die verkürzte Form
<< Gesetze → Prozesse → Software >>
annimmt (u.a. weil Software häufig als Lösung angesehen wird). Im Fall einer Ableitung, die nur die mit Pfeilen hier bezeichneten Ableitungen berücksichtigt, kennt das Design der Einsatzkonzepte nur die technische Lösung (und weiss nicht, warum die so ist, wie sie ist), während es im Fall, dass die transitive Hülle der kausalen Ableitungen gebildet wird (sprich alle logischen Vorgänger mit berücksichtigt werden), es die meisten Vorgaben von allen Designschritten hat, aber seinerseits von allen anderen Entwicklungsschritten ignoriert wird. Klar ist, dass das zweite Vorgehen korrektere Lösungen liefert, als das erste. Aber es ist auch einsichtig, dass der effektive Lösungsraum extrem verkleinert wird, durch die Kaskade an Designentscheiden, die die Perspektiven der nachfolgenden Designentscheidungen ignorieren. Wenn in einem Schritt zufällig eine Variante unter mehreren gleichwertig scheinenden ausgewählt wird, kann dies aus der Perspektive eines späteren Schritts die schlechtestmögliche sein. Man kauft sich in diesem Fall grosse Nachteile für null Vorteil ein. Aber auch ein kleiner Vorteil bei der Designentscheidung in einem früheren Schritt kann von einem daraus folgenden grossen Nachteil für die Perspektive eines späteren Schritts negativ überkompensiert werden. So kann z.B. ein schöneres Organigramm zum Millionenloch werden. Das hierarchische Konzept erweist sich so als Geldverbrennungsmaschine, deren einziger Mehrwert darin besteht, dass das Ego der für vorne (bzw. oben) liegende Design zuständigen Entscheidungsträger gestärkt wird.
3.2.
Die psychologischen Defizite der Disziplinen-Hierarchie ^
3.3.
Die Probleme der interdisziplinären Schnittstellen ^
3.4.
Die Möglichkeit zum «Management» von Kollaborationszonen ^
3.5.
Die Untauglichkeit einer ex ante Definition einer gemeinsamen Sprache ^
3.6.
Die Möglichkeit, langfristig eine Rechtsinformatiksprache zu entwickeln ^
4.
Das Potential der Abstraktion ^
Reinhard Riedl, Leiter E-Government Institut (EGI), Berner Fachhochschule, Bern CH.
- 1 Zur Begriffsdefinition siehe Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, edition unseld 2010, S. 11 ff.
- 2 Forschungs- und Entwicklungsprojekt zu Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere solche, die im EU-Rahmenprogramm und im CIP PSP finanziert werden (resp. in Zukunft im Horizon 2020 Programm).
- 3 POA = Process Oriented Architecture, d.h. eine SOA (Service Oriented Architecture), deren Dienste grössere Teilprozesse sind.
- 4 Das Projekt fand trotzdem keine Fortsetzung. Die Folgeanträge des Konsortiums warfen die entwickelten Kernideen über Bord und scheiterten in der Projektselektion der EU-Kommission.
- 5 Reinhard Riedl/Nico Maibaum, FASME – From Smartcards to Holistic IT-Architectures for Interstate e-Government. Proceedings EGOV 2002: 173–178.
- 6 Vergleiche z.B. Anne-Marie Oostveen, Context Matters, PhD Thesis, Amsterdam 2007.
- 7 Die Überprüfungen solchen Verstehens in Übungen zu universitären Vorlesungen zeigen meist recht erschütternd, wie illusionär das Verstehen von nicht-methodengestützten Inhalten ist.
- 8 Einen Überblick über die Compliance-Thematik in Kontext von Unternehmensarchitekturen findet man in Vytaustas Cyras/Reinhard Riedl: Formulating the Enterprise Compliance Problem, in Proceedings 10th Int. Baltic Conference on Databases and Information Systems, Vilnius 2012. Dieser Beitrag wie auch verwandte Forschungsarbeit der beiden Autoren wurde von Prof. Dr. em. Friedrich Lachmayer angeregt.
- 9 Unter anderem UML, aber auch viele andere etablierte Architekturmodellierungen.
- 10 Ein Argument, dass insbesondere auch gegen das Ziel spricht, Gesetze von Computern in Geschäftsprozesse übersetzen zu lassen.
- 11 Beispielsweise im Kontext der Überarbeitung von Bankensoftware in den 90’er Jahren, um die Software Euro- und Jahr-2000-fähig zu machen.
- 12 Unter anderem würden sie einen gemeinsam beherrschten Formalismus zur Wissensbeschreibung voraussetzen.
- 13 Vgl. z.B. das COG-Projekt: http://www.ai.mit.edu/projects/humanoid-robotics-group/cog/.
- 14 Unsere praktische Erfahrung hat gezeigt, dass selbst Schnittstellen zwischen Informatikern und Forschern mit Doppelausbildung in Recht und Informatik nicht funktionieren.
- 15 Vgl.Susan Leigh Star/James R. Griesemer, Institutional Ecology, Translations and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertrebrate Zoology, in Social Studies of Science 4/19, 1989.
- 16 ImFASME-Projekt wurden Boundary Objects eingesetzt, vgl. Reinhard Riedl, Interdisciplinary Engineering of Interstate E-Government Solutions, in M. Beynon, C-L- Nehaniv, K-Dautenhahn (Hrsg.) Cognitive Technology, Springer Lecture Notes 2117, Springer 2001.
- 17 In der Perfumentwicklung werden beispielsweise verdichtete Moodboards zur Kommunikation zwischen Marktverantwortlichen und Perfumdesignern verwendet, vgl. Nada Endrissat/Claus Noppeney/Robert Lizicar, Consistent, Authentic, and Emotional: Design-Based Innovation in Artistic Perfumery.
- 18 Vgl. z.B. Martin Glinz: Why decomposition and abstraction matters in requirements engineering, Vortrag am Int. Workshop on Requirements Engineering, Imperial College London, 2001.