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Der Zauber der Gleichheit

  • Author: Peter Warta
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Legal Theory
  • Citation: Peter Warta, Der Zauber der Gleichheit, in: Jusletter IT 11 September 2014
Die Judikatur des VfGH zum Gleichheitsgrundsatz ist gut gemeint, aber mit dem Wortlaut des Gleichheitsgrundsatzes nur schwer in Einklang zu bringen. Das Kriterium der Sachlichkeit, das diese Judikatur in der überwiegenden Zahl der Fälle leitet, erweitert den Anwendungsbereich des Gleichheitsgrundsatzes substanziell.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Liberté égalité fraternité!
  • 2. Die Schlüssige Begründung als Rechtsstaatliche Pflicht
  • 3. Der Begründungsstil des VFGH
  • 4. Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitsgrundsatz und seine Begründung
  • 5. Alte und neue Sachlichkeit
  • 6. Das emanziatorische Programm des Gleichheitsgrundsatzes
  • 7. Die Abkopplung der Sachlichkeit von Art. 7 B-VG
  • 8. Die Macht der Gewohnheit
  • 9. Die reine Sachlichkeitslehre
  • 10. Gerechtigskeit, Rechtsstaat, Verfassungsgericht

1.

Liberté égalité fraternité! ^

[1]
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren die Schlagworte, die Europa im 19. Jahrhundert beflügelten und dem Neoabsolutismus der alten Dynastien, die nach der Pervertierung der Französischen Revolution durch Robespierre und Napoleon eine Chance sahen, sukzessive das Licht ausblies. In Österreich war es allerdings nicht die Revolution von 1848, sondern erst die Niederlage des Kaisertums Österreich 1866 gegen Preußen in Königgrätz (tschechisch: Hradec Králové), nach der der geschwächte Kaiser Franz Joseph nolens volens in die Teilung des Reiches und die Staatsgrundgesetze von 1867 einwilligte: die Geburtsstunde des Gleichheitsgrundsatzes in Österreich. In seiner letzten Fassung lautet der für die folgenden Überlegungen maßgebliche Art. 7 Absatz 1 des B-VG:

    «Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.»

[2]
Die Problematik von «Gleichheit» als juristisch handhabbarem Begriff zeigt sich schon in diesem Artikel: für Behinderte werden als Ausgleich für die Nachteile, die ihre Behinderung mit sich bringt, besondere Maßnahmen geradezu gefordert: Ungleiche Behandlung als gerechter Ausgleich für die Nachteile einer Behinderung.
[3]
Würde sich der Verfassungsgerichtshof in seiner Judikatur auf den Katalog unerwünschter Vorrechte im zweiten Satz des Art. 7 beschränken, wäre die Sache klar. Diese Beschränkung hat er sich aber nicht auferlegt.
[4]
Zwei grundlegende Veränderungen stehen dabei im Vordergrund: die keineswegs selbstverständliche Ausdehnung der bindenden Wirkung des Gleichheitsgrundsatzes auf den Gesetzgeber und die Einführung des sogenannten Sachlichkeitsgebotes und seiner Derivate.
[5]
Aus rechtsstaatlicher Sicht muss eine solche Form der «Entwicklung» von Verfassungsrecht ohne Mitwirkung des hiezu berufenen qualifizierten Gesetzgebers zu denken geben, auch wenn man das, was inhaltlich dabei herausgekommen ist, rechtspolitisch gutheißen mag. Es ist zu fragen, ob sich das Sachlichkeitsgebot tatsächlich im Wege einer einigermaßen plausiblen Auslegung aus Art. 7 Abs. 1 ableiten lässt1. In den Erkenntnisbegründungen des VfGH sucht man eine solche schlüssige Ableitung vergebens. Die beiden Säulen der Rechtsprechung des VfGH zum Gleichheitsgrundsatz hat er nicht auf logischen Fundamenten errichtet; sie stehen einfach da.
[6]
Diese Säulen kritisch zu vermessen mag, nachdem sie mittlerweile eine jahrzehntelange Judikatur des Schutzes der Staatsbürger vor «unsachlichen» Gesetzen tragen, anachronistisch, ja lästig erscheinen. Auf die Rechtsprechung ist ein solches Unternehmen wahrscheinlich ohnehin ohne Einfluss. Und zwar Gott sei Dank. Denn wer von der Notwendigkeit eines Verfassungsgerichts überzeugt ist, darf an seiner Unbeeinflussbarkeit nicht rütteln.
[7]
Aber es wurden in dieser Judikatur Tendenzen erkennbar2, die es geboten erscheinen lassen, den apodiktischen Rechtssatz-Stil des VfGH und das Defizit an schlüssiger Dogmatik in seinen Entscheidungsgründen auf rechtsstaatliche Implikationen zu überprüfen.

2.

Die Schlüssige Begründung als Rechtsstaatliche Pflicht ^

[8]
Der VfGH ist ein Höchstgericht. Seine Erkenntnisse und Beschlüsse sind rechtlich nicht anfechtbar. Deshalb ist er auch frei, die Verfassung, zu deren Wahrung er berufen ist, auszulegen und seine Auslegung zu begründen, wie er will3. Niemand kann ihn daran hindern, Lehrmeinungen – egal wie fundiert – vom Tisch zu fegen4. Das einzig wirksame normative Regulativ ist das Berufsethos seiner Mitglieder.
[9]
Es ist daher müßig zu prüfen, ob das rechtsstaatliche Prinzip, das ja so allgemein in der Verfassung nicht vorkommt und als Legalitätsgebot ausdrücklich nur für die Verwaltung formuliert ist (Art. 18 B-VG), auch gegenüber dem VfGH durchsetzbar sei5. Wenn hier also von rechtsstaatlicher Pflicht die Rede ist, so kann das nur als Forderung an das Berufsethos verstanden werden.
[10]
Das rechtsstaatliche Prinzip verlangt erstens (Legalitätsprinzip), dass alles Handeln staatlicher Vollziehungsorgane auf verfassungsgemäße Gesetze gegründet und durch diese Gesetze inhaltlich ausreichend determiniert ist; und, dass – zweitens – wirksame, mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete und allgemein zugängliche Rechtsschutzeinrichtungen bestehen, die diese Legalität sichern.
[11]
Bekenntnisse des VfGH zu seiner strengen und ausschließlichen Bindung an die positive Verfassung gibt es zur Genüge. Auch hat er immer wieder zu erkennen gegeben, dass sein Verfassungsbegriff ein formaler ist: Verfassung ist nur dann «Verfassung», wenn auch «Verfassung» draufsteht6. Denkt man an den Gleichheitsgrundsatz, so kann aber von inhaltlicher Determination der Rechtssprechung im Sinne des Legalitätsprinzips schon aufgrund der Unbestimmtheit des Gleichheitsbegriffes keine Rede sein. Noch dazu sind wirksame Rechtsschutzeinrichtungen gegen ein Höchstgericht ex definitione ausgeschlossen.
[12]
Es sieht so aus, als stünde der oberste Hüter der Rechtsstaatlichkeit selbst außerhalb derselben. Und doch kann der VfGH diesem Prinzip in seinen Erkenntnissen gut oder weniger gut entsprechen.
[13]
Denn das rechtsstaatliche Verantwortungsbewußtsein eines Höchstgerichtes manifestiert sich in der lückenlosen und schlüssigen Nachvollziehbarkeit der Rechtsanwendung in den Entscheidungsgründen. Gerade weil seine Entscheidungen im Spruch unanfechtbar sind, müssen sie auch in ihrer Begründung so unanfechtbar wie nur möglich sein; und dazu gehört, dass der Leser den Weg vom Spruch zurück zu den generellen Normen, die ihm zugrunde liegen, verfolgen kann, ohne an logische Brüche zu stoßen. Ein Höchstgericht, das dem nicht Rechnung trägt, verzichtet darauf, das Seine zur Rechtsstaatlichkeit seiner Entscheidungen beizutragen.
[14]
Das Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 erwähnt die Verpflichtung zur Begründung nur einmal, in § 26 Abs. 1: «Das Erkenntnis ist, wenn möglich, sogleich nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu fällen und mit den wesentlichen Entscheidungsgründen sofort mündlich zu verkünden.» Bei einer solchen Vorgangsweise ist es offenkundig unmöglich, einen Qualitätsstandard der Begründung zu erreichen, der den Erfordernissen einer lückenlosen, plausiblen Konkretisierung abstrakt gehaltener Grundrechte hin zum Spruch des Erkanntnisses gerecht wird. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, der VfGH sei zu einem solchen Begründungsniveau auch nicht verpflichtet. Tatsächlich scheint er gerade in fundamentalen Fragen des Gleichheitsgrundsatzes weniger auf eine durchgängige Schlüssigkeit seiner Begründungen und eher auf die unmittelbar einleuchtende Kraft seiner höchstrichterlichen Erwägungen zu setzen7

3.

Der Begründungsstil des VFGH ^

[15]
P. Pernthaler und P. Pallwein-Prettner haben die Entscheidungsbegründungen des VfGH und ihr Zustandekommen eingehend untersucht8: prägend für das Verfahren ist die dominierende Stellung des Referenten, dem die Causa übertragen ist. Für alle Beschlüsse des VfGH ist andererseits unbedingte Stimmenmehrheit erforderlich. Über die Entscheidungsgründe wird gesondert abgestimmt. Der Referent muss also den Konsens mit Mitgliedern des VfGH suchen, die sich mit der Sache möglicherweise nur kurz und oberflächlich auseinandergesetzt haben. Das erklärt die besondere Begründungstechnik des VfGH mit ihrer Tendenz zu traditionsfähigen Formeln und bewährten Mustern.
[16]
Kritisiert wird am Begründungsstil des VfGH: die Wissenschaftsferne und Weigerung, auf dogmatische Argumente in den Anträgen der Parteien einzugehen; die mangelnde Deklaration seiner Denkmodelle; die Inkonsequenz in der Wahl der Interpretationsmethoden; der Mangel an offener Reflexion seiner Wertungs- und Entscheidungskriterien; und damit das Fehlen jenes Maßes an Voraussehbarkeit seiner Entscheidungen, das den nötigen Grad an Rechtssicherheit gewährleisten würde. Dem wird fairerweise die relativ kurze Verfahrensdauer als bemerkenswerte Leistung des österreichischen VfGH entgegengehalten.

4.

Die Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitsgrundsatz und seine Begründung9 ^

[17]
Als das Prinzip der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz mit Art. 2 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder Eingang in die Verfassung fand, war die Frage, ob es auch für den Gesetzgeber bindend sei, nur von theoretischer Bedeutung. Denn dem für die Judikatur dieses Grundrechtes zuständigen Reichsgericht war es nicht erlaubt, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
[18]
Aber selbst in den ersten Jahren der Republik war, obwohl Art. 140 B-VG dem neuen Verfassungsgerichtshof jetzt auch die Gesetzesprüfungskompetenz übertrug, die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes umstritten. Schließlich heißt es ja ausdrücklich Gleichheit «vor dem Gesetz», was jeder unbefangene Leser als Auftrag, Gesetze auf alle Staatsbürger gleich anzuwenden, versteht.
[19]
Andererseits gab es prominente Stimmen, die darauf hinwiesen, dass eine verfassungsmäßige Gleichheitsgarantie nur der Gesetzesanwendung trivial wäre.10
[20]
Der VfGH hat dazu zunächst eine ambivalente Haltung eingenommen11, ab Beginn der 30-er Jahre aber die Bindung des Gesetzgebers an das Gleichheitsgebot nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen. Der von der Fachwelt als entscheidender Durchbruch gefeierte Satz lautet: «Wenn der Beschwerdeführer behauptet, dass der Gleichheitsgrundsatz nicht nur für die Vollziehung, sondern auch für die Gesetzgebung Geltung hat, so ist ihm ... zuzustimmen.»12 Warum? Steht nicht da. Auch die Gründe, die der Beschwerdeführer für seine Behauptung (vielleicht) ins Treffen geführt hat, werden nicht offengelegt.
[21]
Es sieht so aus, als wäre der Meinungsbildungsprozess des VfGH nicht das Ergebnis begründbarer Einsicht, sondern eher das eines intuitiven Einstellungswandels. Daher wird dieser Prozess von der Lehre auch zu recht nicht als logische, sondern als historische Entwicklung beschrieben. Und niemand findet etwas dabei. Hauptsache, das Gleichheitspflänzchen wächst, gedeiht und entfaltet sich.
[22]
Dabei stellt der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 B-VG gute Gründe dafür zur Verfügung, dass er den Gesetzgeber und gerade ihn verpflichtet, auch wenn der erste Satz das zunächst nicht zum Ausdruck zu bringen scheint13. Denn der Ausschluss von Vorrechten der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses ist nichts anderes als das Verbot genereller Normen, die bestimmte, nach allgemeinen Merkmalen definierte Personenkreise mit Vorrechten ausstatten oder die Gewährung solcher Vorrechte ermöglichen. Der Adressat eines Verbotes solcher genereller Normen aber ist der Gesetzgeber.
[23]
Ähnlich lässt sich auch hinsichtlich des 1. Satzes des Art. 7 Abs. 1 B-VG argumentieren. Denn ein gesetzmäßiger Akt individueller Normsetzung kann, sofern das Legalitätsprinzip gewahrt ist, nur dann gleichheitswidrig sein, wenn auch das ihm zugrunde liegende Gesetz gleichheitswidrig ist oder gleichheitswidrig ausgelegt wurde. Sofern man also die verfassungsgerichtliche Durchsetzung des Gleichheitsgrundsatzes nicht auf den Fall der gleichheitswidrigen Auslegung eines Gesetzes14 beschränken will (das ist der schwache, weil rechtspolitische Punkt dieser Argumentation), macht der verfassungsrechtliche Schutz der Gleichheit nur Sinn, wenn er auch den Gesetzgeber bindet.
[24]
Der Durchbruch zur Geltung des Gleichheitsgebotes für die Gesetzgebung in der Judikatur des VfGH hat also historisches Format auch auf der Kehrseite der Medaille. Mit ihm verfestigt sich eine Tradition der Verweigerung schlüssiger Begründungen für substanzielle Formeln, die der VfGH im Laufe der Zeit in sein Repertoire für Erkenntnisse zum Gleichheitsgrundsatz aufgenommen hat. Eine Verweigerung, deren demonstrativer, ja provokanter Charakter oft nicht zu übersehen ist.
[25]
Die für Grundrechte allgemein und den Gleichheitsgrundsatz im besonderen wohl bedeutendste Formel des VfGH ist die der sachlichen Rechtfertigung.

5.

Alte und neue Sachlichkeit ^

[26]
Mit den Schwierigkeiten, den Gleichheitsgrundsatz im verfassungsgerichtlichen Prüfungsverfahren auf Gesetze anzuwenden, hat sich die Literatur ausführlich beschäftigt. Sie liegen im Wesentlichen darin, dass die generelle und radikale Gleichbehandlung aller Staatsbürger durch das Gesetz unsinnig wäre und von der Verfassung nicht gemeint sein kann. Es muss daher zwischen von der Verfassung tolerierten und nicht tolerierten Ungleichheiten unterschieden werden. Über generelle Kriterien dieser Unterscheidung gibt der Verfassungstext aber keine Auskunft.
[27]
Die Lehre hat sich naturgemäß intensiv mit der Frage befasst, wie und aus welchen Quellen solche Kriterien zu gewinnen wären. Bei den vorgeschlagenen Lösungen lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden. Die eine, die aus der Unbestimmtheit des gesetzlichen Gleichheitsbegriffes den Auftrag ableitet, ihn mittels präpositiver Werte inhaltlich greifbar zu machen15. Und jene, die das Einbringen außerpositiver Gerechtigkeitsvorstellungen für untunlich und mit der Verfassung nicht vereinbar hält und darauf verweist, dass für die Auslegung des Gleichheitsgebotes nur jene Grundsätze maßgebend sein können, die sich aus der Verfassung und der Gesamtheit der positiven österreichischen Rechtsordnung erschließen lassen16.
[28]
Hat die österreichische Bundeserfassung, die ja streng formal definiert zu sein vorgibt und (im Gegensatz etwa zum österreichischen Privatrecht17 oder zum Grundgesetz der BRD) offizielle Gateways zu nicht positiven Rechtsbereichen nicht kennt, im Satz von der Gleichheit vor dem Gesetz und dessen weitgehender inhaltlicher Unbestimmtheit nun doch eine undichte Stelle nach außen (oder gar oben) oder nicht? Für das rechtsstaatliche Prinzip ein Frage von nicht geringer Bedeutung.
[29]
Den VfGH mögen andere Probleme plagen, dieses nicht. Denn er hat einen Joker im Blatt, der alles sticht: die Sachlichkeit. Kommt er zum Ergebnis, dass etwas sachlich gerechtfertigt ist, so hält es. Wenn nicht, so fällt es.
[30]
Das soll um Himmels Willen nicht heißen, dass es sich der VfGH leicht macht, wenn er Gesetzesbestimmungen darauf prüft, ob sie sachlich gerechtfertigt sind. Vielmehr sind im Wege solcher Prüfungen in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle Erkenntnisse ergangen, deren Weisheit, Nützlichkeit und argumentative Eleganz auch der Verfasser dieser Arbeit zu würdigen weiß.
[31]
Im Moment steht aber nicht diese Würdigung im Vordergrund, sondern die Neugier, wie die Wunderwaffe der Sachlichkeit ins Arsenal der verfassungsgerichtlichen Erkenntnisbegründung kam und welche Wunder sie dort zu wirken vermag. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dem Sachlichkeitsgebot auf die Spur zu kommen.
[32]
Dabei wird nicht nur zu untersuchen sein, wann und unter welchen Begleitumständen das Wort «sachlich» und seine Derivate in den Begründungen des VfGH auftauchen und in welcher argumentativen Funktion sie im Laufe der Zeit verwendet wurden. Es wird nicht ohne einen Abstecher in die Semantik abgehen. Denn wenn statt «vernünftig» oder «gerecht» ausgerechnet «sachlich» zum Schlüsselwort verfassungsgerichtlicher Argumentation geworden ist, so hat das sicher nicht nur sachliche Gründe.
[33]
Schon im ersten Erkenntnis des neuen Verfassungsgerichtshofes der Republik Deutschösterreich, das sich mit dem Gleichheitsgrundsatz beschäftigt18, ist von «sachlich» die Rede. «Eine Verletzung dieses Rechtssatzes [der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz] würde nur vorliegen,» führt der VfGH aus, «wenn ein Staatsbürger wegen irgendwelcher persönlicher Eigenschaften, die nach dem Gesetze von maßgebender Bedeutung nicht sein dürfen, zum Beispiel wegen seiner Zugehörigkeit zu einem Religionsbekenntnisse ... von ... Rechten, die jedem Staatsbürger zukommen dürfen, ausgeschlossen wird. Im vorliegenden Falle ist aber die Abweisung [des Antrags auf Erteilung einer Konzession] auf rein sachliche, aus der Anschauung über die Bedürfnisse der Bevölkerung geholte Gründe gestützt.»
[34]
In dieser ersten Phase des Sachlichkeitsarguments verwendet der VfGH «sachlich» (noch) als begrifflichen Gegensatz zu «persönlich». Analog dazu gebraucht er das Gegensatzpaar «subjektiv/objektiv»:

    «Es muss sich also immer um Unterschiede handeln, die in der Person von Bundesbürgern gelegen sind. Solche subjektiven Momente und Gesichtspunkte sollen in der Gesetzgebung nicht berücksichtigt werden. Dagegen bezieht sich das Verbot der ungleichmäßigen Behandlung der Staatsbürger durch die Gesetzgebung nicht auf jene objektiven Momente, die in einer für alle Staatsbürger ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Standesverhältnisse gleichmäßig wirkenden Weise als Maß für eine Differenzierung genommen werden.»19

[35]
Als «persönlich» oder «subjektiv» und daher gleichheitswidrig gelten nach diesen Erkenntnissen Differenzierungen, die an Merkmale anknüpfen, wie etwa Behinderungen (Art.7 Abs.1, 2.Satz B-VG). Andere (auch persönliche) Differenzierungskriterien, wie etwa die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit20, werden als «sachlich» oder «objektiv» und damit vom Standpunkt des Art. 7 B-VG zulässig qualifiziert.
[36]
Persönlich/sachlich und subjektiv/objektiv sind beliebte Begriffspaare, wenn es um die Stützung eigener und die Entkräftung gegnerischer Standpunkte geht. Denn wer wollte daran zweifeln, dass das sachliche dem persönlichen, das objektive dem subjektiven Argument überlegen sei? Was diese Worte im konkreten Zusammenhang bedeuten und nicht bedeuten, wird unter dem Eindruck oberflächlicher Plausibilität nicht mehr hinterfragt.
[37]
So auch hier: warum die Zugehörigkeit eines Staatsbürgers zu einer Religionsgemeinschaft persönlicher sein soll als es die Bedürfnisse der Bevölkerung (oder deren Anschauung durch den VfGH) sind, leuchtet nicht ein. Gemeint ist natürlich, dass diese Bedürfnisse berücksichtigungswürdiger sind. Aber das klänge vielleicht zu sehr nach relativierbarer «Gerechtigkeit», während für höchstgerichtlichen Entscheidungen ja absolute Richtigkeit in Anspruch genommen wird, die keine Diskussion mehr zulässt21.
[38]
Noch deutlicher wird die Fragwürdigkeit solcher Zuordnungen, wenn Geburt, Geschlecht etc. als subjektive Momente einer Person von deren wirtschaftlicher Stärke oder Schwäche als objektivem Moment unterschieden werden.22 Nach welchen dieser Kriterien eine rechtliche Differenzierung zulässig ist, kann nur durch ein Werturteil, nicht durch die Klassifikation in «subjektiv» und «objektiv» geklärt werden. Nur: ein Gericht, das sich auf ein Werturteil einlässt, müsste, will es die Legalität nicht verlassen, auch dartun, durch welche verfassungsmäßig zustande gekommene generelle Norm dieses Werturteil gedeckt ist. Hier wäre das ohne weiteres möglich gewesen: auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit trifft keines der im Art. 7 Abs. 1 B-VG angeführten Merkmale zu, nach denen zu differenzieren verboten ist. Es fällt auf, dass der VfGH dennoch auf «subjektiv/objektiv» zurückgreift, um seine Entscheidung plausibel zu machen. So, als ob er einen Begründungsstil, der sich allein auf den Text des Art. 7 Abs. 1 B-VG stützt, gar nicht erst einreißen lassen wollte.
[39]
Schon in dieser ersten Phase, in der sich die Judikatur des VfGH noch relativ eng an den Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 B-VG und das dort normierte Privilegienverbot hält, wird also die Funktion des Sachlichkeitsarguments sichtbar: Werturteile sollen nicht als wertend erkennbar sein, sondern eben objektiv und sachlich erscheinen.
[40]
Spätestens mit der Erkenntnis vom 14. März 1956 VfSlg 2956/1956 beginnt aber eine neue Phase der Argumentation mit der Sachlichkeit.
[41]
Der Gleichheitsgrundsatz wird nicht mehr als Privilegienverbot verstanden. Vielmehr kann seine Verletzung ganz allgemein «darin gelegen sein, dass der Gesetzgeber sachlich nicht zu rechtfertigende Unterscheidungen trifft oder mit anderen Worten Gleiches ungleich behandelt.»23 Oder weiter unten: «Eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes durch den Gesetzgeber kann daher nur dann angenommen werden, wenn die Erwägung aller Umstände ergibt, dass die Regelung sachlich nicht zu rechtfertigen ist oder unsachlichen Motiven entspringt.»
[42]
Die triviale Formel: der Gleichheitsgrundsatz gebiete, Gleiches gleich zu behandeln (und – in logischer Konsequenz – Ungleiches ungleich), wird ab nun immer wieder in den Entscheidungsgründen auftauchen und hat ihren Weg auch in die Lehrbücher und viele einschlägige Publikationen gefunden. Sie beruht auf einem Missverständnis.

6.

Das emanziatorische Programm des Gleichheitsgrundsatzes24 ^

[43]
Ginge es nur darum, Gleiches gleich zu behandeln und Ungleiches ungleich, es bedürfte eines verfassungsgesetzlich gewährten Gleichheitsrechtes nicht: was als gleich galt, unterlag immer auch den gleichen Rechtsvorschriften: gleiche Bauern waren gleich rechtlos, gleiche Feudalherren gleich privilegiert.
[44]
Programm des Rechts auf Gleichheit vor dem Gesetz kann es auch nicht sein, die faktische Verschiedenheit der Menschen zu beseitigen: selbstverständlich gibt es immer Unterschiede der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses, und natürlich noch viele andere mehr.
[45]
Programm und normativer Gehalt des Gleichheitsgrundsatzes war vielmehr zur Zeit seiner Entstehung und ist es, wie sich aus dem Text des Art. 7 Abs. 1 B-VG und da insbesondere des 2. Satzes mit seinem Verbot der Vorrechte für bestimmte Personengruppen ergibt, auch noch heute, auf bestimmte Unterschiede zwischen Menschen (nämlich auf solche der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses, aber nicht nur auf diese25) rechtlich keine Rücksicht mehr zu nehmen, oder, um es auf die entsprechend triviale Formel zu bringen: ab nun Ungleiches gleich zu behandeln.
[46]
Auch diese Formel gibt natürlich keine Antwort auf die Frage, welche faktischen Unterschiede im Einzelnen nun doch eine rechtliche Differenzierung nach sich ziehen sollen und welche nicht. Aber sie lässt den Gleichheitsgrundsatz in einem anderen Licht erscheinen als jenem, in welchem er vom VfGH gesehen wird. Ein im dargelegten Sinne verstandener Gleichheitsgrundsatz kann nicht so leicht eine Grundlage dafür abgeben, emanzipatorische oder auf die Abschaffung von Privilegien gerichtete Reformen des Gesetzgebers als «gleichheitswidrig» zunichte zu machen.

7.

Die Abkopplung der Sachlichkeit von Art. 7 B-VG ^

[47]
Der neue Gebrauch von «sachlich gerechtfertigt» dient also nicht mehr als eine Art Plausibilitätskraft-Verstärker für Erkenntnisse, die sich inhaltlich durchaus noch an Art. 7 Abs. 1 B-VG und die deskriptive Konkretisierung des Gleichheitsgebots im 2. Satz anlehnen. Die Formel wird zu einer selbständigen Kategorie für die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit.
[48]
Sachlich gerechtfertigt ist jetzt, wie gesagt, eine gesetzliche Bestimmung dann, wenn sie Gleiches gleich behandelt: Das klingt wie der Stein der Weisen zur Lösung des Problems, den Gleichheitsgrundsatz inhaltlich greifbar zu machen. Es sollte aber ein Stein des Anstoßes sein.
[49]
Denn mit dieser Formel wird ein logischer Konnex zwischen Gleichheitsgebot und Sachlichkeit vorgetäuscht, der nicht besteht. Es mag eine Selbsttäuschung sein, gefördert durch die Verlockung, mit der Sachlichkeitsformel ein Instrument an der Hand zu haben, mit dem Gleichheitsfragen entschieden werden können, ohne dass der Eindruck rechtspolitischer Wertung entsteht.
[50]
Denn es bedarf zwar eines Maßes, um nach dem Gleichheitsgrundsatz unzulässige Differenzierungen von zulässigen zu unterscheiden. Aber daraus, dass es eines Maßes bedarf, lässt sich – leider – schlüssig nicht folgern, welches Maß das sein soll. Der VfGH hat, dessen eingedenk oder nicht, nie auch nur annähernd den Versuch unternommen, das Sachlichkeitsgebot vermittels logischer Gedankengänge aus dem Text der Bundesverfassung nach sonst von ihm sehr wohl beobachteten Auslegungsregeln abzuleiten.

8.

Die Macht der Gewohnheit ^

[51]
In der Judikatur des VfGH ist ab 1956 die Sachlichkeit als zentraler Prüfungsmaßstab für die Gleichheitswidrigkeit von Gesetzen jedenfalls so selbstverständlich, als ob sie ausdrücklich in der Verfassung festgeschrieben wäre. «Der Gleichheitssatz verbietet – das ist ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs – dem Gesetzgeber, Differenzierungen zu schaffen, die sachlich nicht begründbar sind.»26
[52]
An die Stelle nachvollziehbarer Auslegung des Textes der Bundesverfassung tritt also die sukzessive Gewöhnung an die Sachlichkeitsformel und ihre Verselbständigung in der ständigen, immer wieder sich selbst zitierenden Rechtsprechung (nach der das Sachlichkeitsgebot aus dem Gleichheitssatz «erfließe») – tritt vom VfGH erzeugtes Gewohnheitsverfassungsrecht.
[53]
Diese Form der Erzeugung von Verfassungsrecht ist in Art. 44 B-VG nicht vorgesehen27 und widerspricht natürlich auch dem Selbstbild des VfGH. Erwin Melichar, damals dessen Präsident, hielt 1980 beim Salzburger Symposion anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der österreichischen Bundesverfassung einen Vortrag «Zum Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber»28. Melichar referierte damals über die quasi-legislative Funktion des VfGH, die sich aus verschiedenen Aspekten seiner Gesetzesprüfungskompetenz ergibt (z.B. seiner Befugnis nach Art. 140 Abs. 6 B-VG, anlässlich der Aufhebung einer generellen Norm zu entscheiden, ob er das automatische neuerliche Inkrafttreten älterer Rechtsvorschriften zulässt oder nicht), und sah sich dann in diesem Zusammenhang besonders veranlasst, auf das aus der Judikatur bekannte Selbstbild des VfGH zu sprechen zu kommen: «Die Prüfung der Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hat der VfGH ausschließlich am Maßstab der Bestimmungen der Bundesverfassung29 vorzunehmen. Die Blickrichtung des VfGH ist also rein juristischer Art. Denn er ist nur der Hüter der Verfassung, aber kein rechtspolitisches Entscheidungsorgan.»
[54]
Vierundzwanzig Jahre früher, im November 1956, also zu Beginn der Ära des sich verselbständigenden Sachlichkeitsgebotes, hatte Walter Antoniolli vor der Wiener Juristischen Gesellschaft einen später vielzitierten Vortrag über «Die Gleichheit vor dem Gesetz»30gehalten.
[55]
Antoniolli stellt die kritische Frage nach dem Maßstab für die Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Differenzierungen. Er geht dabei ohne nähere Prüfung davon aus, dass aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 B-VG eine Antwort nicht zu gewinnen sei und dass die Wertungen, nach denen eine solche Unterscheidung getroffen werden kann, deshalb von anderswo bezogen werden müssten. Das Naturrecht kommt für ihn dafür nicht in Frage. Aber: wir «müssen uns dem primitiven Positivismus des nackten Wortes entreißen. Wir müssen in bestimmten Rechtssätzen jene Ordnung ausdrücken, die ihre Wurzel in unserer Kultur, Geschichte und den Bedingungen unseres sozialen Lebens hat und aus jeder einzelnen Bestimmung der österr. Rechtsordnung hervorleuchtet.» Kulturrecht statt Naturrecht?
[56]
Wie auch immer, Antoniolli will den VfGH nicht aus der Bindung an das positive österreichische Recht entlassen. Er vertraut auf die großen Möglichkeiten der verfassungsrechtlichen Grundordnung, die bei der Gleichheitsprüfung heranzuziehen wäre. Er weiß um die Relativität von Begriffen wie «sachlich» oder «willkürlich» und ortet deren Ursprung auch nicht in der Verfassung, sondern bei «einigen, die sagen...»31.
[57]
Doch er sieht nicht, dass der Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 B-VG durchaus auch eine Richtung weist. Und hält demgemäß nichts davon, an ihn anzuknüpfen.
[58]
Was der VfGH im Laufe der Zeit für sachlich begründbar gehalten hat oder nicht und warum, und wie er bei der Gesetzesprüfung verfährt, ist in einschlägigen Arbeiten nachzulesen32. Über die Möglichkeiten, mit Sachlichkeit als Prüfungskriterium präzise umzugehen, haben Neisser/Schantl/Welan in ihren Betrachtungen zur Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (Slg.1967)33 einen unübertroffenen Beitrag geleistet.

9.

Die reine Sachlichkeitslehre ^

[59]
Nach Jahrzehnten der Gewöhnung ist die Rechtsfigur der Sachlichkeit jedenfalls fest etabliert. Der nächste Schritt kann gewagt werden. R. Novak schildert ihn in seiner Besprechung der VfGH -Judikatur des Jahres 198634:

    «...sticht Slg.10.949 besonders hervor. Aufgehoben wurde eine Vorschrift der StVO, die die Verfügung von Verkehrsbeschränkungen zwecks Durchführung von Straßenerhaltungsarbeiten ermöglichte, oder ermöglichen sollte. Der VfGH gelangte, in Kürze zusammengefaßt, zum Ergebnis, daß die geprüfte Ermächtigung ‹völlig unzureichend ist, um einerseits den sachlichen Erfordernissen zu entsprechen und andererseits nicht in Widerspruch mit anderen Bestimmungen der StVO zu kommen›. Darauf folgt, bei unbefangener Lektüre einigermaßen überraschend, die Aussage, dass die Regelung ‹daher als dem Gleichheitsgrundsatz der Verfassung widersprechend aufzuheben› war.

    ...es wird nicht auf allfällig unsachliche Differenzierungen hin verglichen. Das Postulat gewinnt eine zusätzliche Dimension. Zur Debatte steht eine vergleichsunabhängige, wenn man will ‹reine› Sachlichkeit oder Sachangemessenheit.

    ...Keineswegs soll hier gesetzgeberischem Fehlverhalten das Wort geredet werden. Aber daß Unvernunft auch schon Verfassungswidrigkeit bedeutet – daran wird man sich erst gewöhnen müssen; von ungeahnten Weiterungen zu schweigen.»

[60]
Soweit Novak. Sein Kommentar ist bezeichnend in zweierlei Hinsicht: erstens bezeichnet er die endgültige Verabschiedung der Judikatur vom Gleichheitsgrundsatz als einem Grundrecht, dessen Thema die rechtliche Differenzierung von Staatsbürgern ist (oder jedenfalls war), hin zur Prüfung jedweden Gesetzesinhalts darauf, ob er dem VfGH sachlich angemessen erscheint. Der Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz versucht bestenfalls noch den Schein zu wahren.
[61]
Zweitens aber ist er bezeichnend auch dafür, dass die Erzeugung von Gewohnheitsverfassungsrecht durch den VfGH, wenn auch mit hochgezogenen Augenbrauen, akzeptiert wird. Wie auch immer der VfGH erkennt: man wird sich daran gewöhnen müssen.
[62]
Die «ungeahnten Weiterungen» lassen nicht lange auf sich warten. Ein Jahr später kommt es zu den berühmt-berüchtigten «Politikerpensions»-Erkenntnissen VfSlg 11.308, 11.309 und 11.310. Mit VfSlg 11.309 etwa wird eine Novelle zum Statut der Landeshauptstadt Graz, mit der der gleichzeitige ungeschmälerte Bezug mehrerer Pensionen durch Mitglieder des Stadtsenats i.R. abgeschafft worden war, aufgehoben. Es ist die Geburtsstunde des vom VfGH gewährten Vertrauensschutzes in wohlerworbene Rechte gegen gesetzliche Beeinträchtigung. Nach VfSlg 11.309 entscheidend dafür, dass der VfGH eine gesetzliche Regelung aufhebt, ist die Langjährigkeit des Vertrauens des in seinen wohlerworbenen Rechten Beeinträchtigten und die Plötzlichkeit und das rigorose Ausmaß der Beeinträchtigung. Ob es sich bei den wohlerworbenen Rechten um Privilegien im Sinne des Art. 7 Abs. 1 2.Satz B-VG handelt, stand für den VfGH nicht zur Debatte.
[63]
In der Öffentlichkeit natürlich schon. Der Protest in den Medien war lautstark, juristisch natürlich nicht qualifiziert und daher auch leicht als simple Polemik abzutun. Dem Druck des Pöbels mag die Politik nachgeben35, die Jurisprudenz kann das nicht beeindrucken.
[64]
Jetzt, wo man sich längst an den Vertrauensgrundsatz (je nach Interessenslage nolens oder volens) gewöhnt hat36, ist vielleicht der Zeitpunkt gekommen, die Politikerpensions-Erkenntnisse sine ira et studio an jenem Gleichheitsgrundsatz zu messen, auf den sie sich berufen.
[65]
Bei den Politikerpensionen von 1987 handelte es sich um ein Recht auf mehrfachen Pensionsbezug, wie es keineswegs allen Staatsbürgern, sondern nur einer begrenzten Gruppe von Personen zustand, für die der Ausdruck «Klasse» damals wie heute in der wissenschaftlichen Literatur durchaus gebräuchlich ist. Ein Vorrecht einer Klasse also. Damit ist die Frage, ob dieses Vorrecht auch verfassungswidrig im Sinne des Art. 7 Abs. 1 B-VG ist, noch nicht beantwortet, denn es gibt ganz offenkundig Vorrechte dieser Klasse, an denen niemand etwas auszusetzen hat. Aber es wäre jedenfalls Pflicht des VfGH gewesen, sich dieser Frage zu stellen, und sei es auch anhand seiner Sachlichkeitsformel. Indem er dies nicht getan hat, hat er zu erkennen gegeben, dass der Gleichheitsgrundsatz, so wie er im B-VG steht, für ihn kein Kalkül mehr darstellt.
[66]
Das ist aber nicht alles. Als der Gleichheitsgrundsatz Eingang in die Verfassung fand, beseitigte er wohlerworbene Vorrechte, die Jahrhunderte bestanden hatten. Man kann auch davon ausgehen, dass die Inhaber der kassierten Privilegien ihr Leben im Vertrauen auf deren Bestand eingerichtet hatten und dass sie der Verlust plötzlich und in rigorosem Ausmaß traf. Wenn das aber der normative Gehalt des Art. 7 Abs. 1 B-VG ist, so muss man geradezu froh sein, dass er wenigstens formal Verfassungsrang hat. Er liefe sonst Gefahr, vom VfGH wegen Verletzung des Vertrauensgrundsatzes und somit, wie der VfGH in solchen Fällen festzustellen pflegt, als gleichheitswidrig aufgehoben zu werden.
[67]
«Vertrauensgrundsatz» klingt zwar gut. In Art. 7 Abs. 1 B-VG aber ist er nicht nur nicht enthalten; er widerspricht ihm sogar. Auch der Vertrauensgrundsatz ist vom VfGH erzeugtes Gewohnheitsverfassungsrecht.

10.

Gerechtigskeit, Rechtsstaat, Verfassungsgericht ^

[68]
«So eine Ungerechtigkeit! Und das soll ein Rechtsstaat sein?» Solche Beschwerden erboster Rechtsuchender sind oft zu hören. Ihnen liegt die Vorstellung zugrunde, dass Rechtsstaat auch gerechter Staat bedeutet. Doch das ist nicht der Fall.
[69]
Es sind einerseits Rechtsordnungen denkbar, in denen etwa ein Weisenrat nach seinem Gutdünken Recht spricht, ohne dass er sich dabei an generelle Normen hält oder seine Entscheidungen mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Stimmt das Gutdünken der Weisen mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der Untertanen überein, so wird ein solcher Staat als gerecht erlebt werden, ohne dass er mit einem Rechtsstaat auch nur das Geringste gemein hat.
[70]
Andererseits kommt es (z.B. im Bereich der Fremdenpolizei) oft genug vor, dass ein Verwaltungsorgan aufgrund von Gesetzen und Verordnungen, an die es gebunden ist, einen Bescheid erlassen muss obwohl nicht nur der Adressat des Bescheides, sondern auch das Organ selbst von dessen Ungerechtigkeit überzeugt ist. Würde das Organ einen «gerechten», aber gesetzwidrigen Bescheid erlassen, so würde es dem rechtsstaatlichen Prinzip zuwiderhandeln.
[71]
Das rechtsstaatliche Prinzip garantiert an sich noch nicht Gerechtigkeit. Es gewährleistet aber in Rechtssystemen, in denen Rechtserzeugung, Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung nicht in einer Hand vereinigt sind, also bei sogenannter Gewaltentrennung, durch eine wirksame, allgemein zugängliche und unabhängige Kontrolle, dass das positive Recht auf der jeweils nächst niederen Stufe auch tatsächlich verwirklicht wird. Dass dieses positive Recht auch gerecht sei, ist, jedenfalls im Prinzip, die politische Aufgabe der im Rahmen der Gewaltentrennung zur Rechtserzeugung berufenen Institutionen und nicht Sache der Vollziehung. Darüber hinaus bietet das Gebot der Rechtsstaatlichkeit eine gewisse Sicherheit und Vorhersehbarkeit staatlichen Rechtsvollzugs, indem dieser durch generelle Normen der Legislative inhaltlich determiniert und staatliches Handeln praeter legem ausgeschlossen ist (Legalitätsprinzip).
[72]
Vollendet ist das rechtsstaatliche Prinzip dann, wenn jede Form der Rechtsanwendung, also auch die Anwendung der Verfassung bei der Erzeugung genereller Normen durch den Gesetzgeber, einer rechtswirksamen Kontrolle unterworfen werden kann.
[73]
Dass die österreichische Bundesverfassung schon 1920 eine solche Kontrolle des Gesetzgebers einführte und dem mit richterlicher Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit ausgestatteten VfGH die entsprechenden Kompetenzen übertrug, haben Kelsen/Froehlich/Merkl in ihrem Kommentar zum B-VG 1920 als in der modernen Verfassungsgeschichte einzig dastehenden Fortschritt von rechtspolitisch überragender Bedeutung gewürdigt37.
[74]
Der VfGH ist also zum höchsten Garanten des rechtsstaatlichen Prinzips in Österreich berufen. Auf ihn selbst allerdings ist dieses Prinzip, wie oben (S. 2f) darzulegen versucht wurde, nicht rechtlich, sondern nur als ethisches Postulat anwendbar. Es verdiente, in der gesetzesprüfenden Judikatur des VfGH zum Gleichheitsgrundsatz genauer beachtet zu werden.

 

Peter Warta, Pensionist, Wien, Österreich.

  1. 1 Was die Gleichbehandlungsverpflichtungen der Republik Österreich nach den Staatsverträgen von St. Germain 1919 und Wien 1955 sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention betrifft, so ist die Bindung des Gesetzgebers aus dem Text zweifelsfrei zu erkennen.
  2. 2 Beginnend mit VfSlg 10.949/1986 (vergleichsunabhängige Sachlichkeitsprüfung) und VfSlg 11.308/1987 (Schutz des Vertrauens in wohlerworbene Rechte).
  3. 3 Die nachfolgende «Korrektur» eines Erkenntnisses durch den Verfassungsgesetzgeber ist kein Rechtsmittel, sondern eine (bedenkliche) politische Aktion im formal zulässigen rechtlichen Gewand einer Verfassungsbestimmung.
  4. 4 Im Erkenntnis VfSlg 2455/1952 sah sich der VfGH zu der berühmt gewordenen «Feststellung veranlaßt, daß seine Erkenntnisse nicht der Ort sind, wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten zu erörtern, zu ihnen Stellung zunehmen und sie auszutragen».
  5. 5 Nach herrschender Lehre gilt es jedenfalls selbstverständlich auch für die Gerichtsbarkeit: Klecatsky/Morscher: B-VG7, S 47.
  6. 6 Professioneller ausgedrückt: wenn die Norm den Erfordernissen des Art. 44 B-VG entspricht.
  7. 7 Aus der Fülle der Beispiele sei als typisch VfSlg 10.949 (Fn. 7) und der Kommentar Novaks dazu (JBl S 624/1990) herausgegriffen.
  8. 8 Pernthaler/Pallwein-Prettner: Die Entscheidungsbegründung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (mit zahlreichen wichtigen Hinweisen), in Sprung, König (Hrsg.): Entscheidungsbegründung, 1974, S. 199.
  9. 9 Dazu ausführlich und m.w.H. KorinekGedanken zur Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitsgrundsatz nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs, in Melichar FS 1983, S. 39 ff.
  10. 10 So Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der [deutschen] Reichsverfassung, VVDStL 1927; Kelsen, Reine Rechtslehre2 1960, S. 146.
  11. 11 Einerseits spricht schon VfSlg 216/1923 von einer Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechts [auf Gleichheit], wenn ein Bundesgesetz, das eine an sich durch das Gemeinwohl gerechtfertigte Ungleichbehandlung vorsieht, die durch seinen Zweck gebotenen Grenzen nicht einhält; andererseits finden sich bis 1929 (VfSlg 1226/1929) Erkenntnisse, die eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes verneinen, wenn die Ungleichheit in der verbindlichen Form eines Gesetzes festgelegt ist.
  12. 12 VfSlg 1451/1932; dass diese Rechtsgeschichte machende Behauptung dem Beschwerdeführer trotz der Zustimmung des VfGH damals nichts nützte und seiner Beschwerde der Erfolg versagt blieb, ist Erfinderschicksal. Die üblichen drei Punkte in diesem viel benützten Zitat stehen für das (ohne Zusammenhang störende) Wörtchen «zwar»; das «aber» konnte also nicht ausbleiben.
  13. 13 Leibholz hat den originellen, aber doch nicht ganz überzeugenden Versuch unternommen, aus diesem ersten Satz (er stimmt mit dem Art. 109 RV wörtlich überein) die Bindung des Gesetzgebers abzuleiten, indem er das Wörtchen «vor» nicht als «angesichts», sondern als Ausdruck der Priorität des Gleichheitsgebotes gegenüber dem Gesetz deutet (Leibholz: Die Gleichheit vor dem Gesetz 1925, S. 35).
  14. 14 ..., eines unbestimmten Gesetzesbegriffes oder des Ermessensspielraumes...
  15. 15 So Ermacora: Handbuch der Grundfreiheiten und Menschenrechte, 1963 S. 70.
  16. 16 So Antoniolli Fn. 37.
  17. 17 Z.B. § 16 ABGB.
  18. 18 VfSlg 5/1919. Diese Erkenntnis erging noch vor dem Inkrafttreten des B-VG und stützte sich daher ausschließlich auf Art. 2 StGG 1867.
  19. 19 Z.B. VfSlg 1396/1931; beide Begriffspaare gleichzeitig: VfSlg 2537/1953.
  20. 20 VfSlg 2858/1955.
  21. 21 Vgl. Horak: Zur rechtstheoretischen Problematik der Begründung, in Sprung, König (Hrsg.): Entscheidungsbegründung 1974, S. 7.
  22. 22 VfSlg 2858/1955.
  23. 23 Es folgt der bemerkenswerte Satz: «Ein Fehler dieser Art haftet dem § 59 Abs. 3 Geh.-ÜG. nicht an, denn die Regel, die er gibt, gilt für alle in Betracht kommenden Fälle.» Eine generelle Norm, die nicht für alle in Betracht kommenden Fälle gilt, wird nicht leicht zu finden sein.
  24. 24 Zur gesellschaftlichen Funktion des Gleichheitsgrundsatzes s. Kneucker/Welan: Zur Entwicklung des Gleichheitsgrundsatzes in Österreich, ÖZP 1975 S. 5 ff.
  25. 25 Dass die Aufzählung im Art. 7 Abs. 1, 2. Satz B-VG nicht erschöpfend, sondern deskriptiv zu verstehen ist, legt die Formulierung dieses Abs. 1 nahe (wäre sie taxativ aufzufassen, so wäre der erste Satz dieses Absatzes überflüssig) und wird auch allgemein nicht bestritten.
  26. 26 VfSlg 4711/1964.
  27. 27 Dass sie trotzdem mit verfassungsgesetzlicher Effektivität stattfindet, könnte als («baugesetzwidrige», weil die Erzeugungsregeln für Bundesverfassungsrecht ändernde) Gesamtänderung im Sinne des Art. 44 Abs. 3 B-VG angesehen werden – eine pikante Spekulation mit interessanten verfassungsrechtlichen Folgeproblemen.
  28. 28 Melichar: Zum Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber, in: 60 Jahre Bundesverfassung, 1980 S. 94 ff.
  29. 29 Es kann ausgeschlossen werden, daß mit «Bundesverfassung» ein vom VfGH erzeugtes Gewohnheitsverfassungsrecht mitgemeint war.
  30. 30 Zitiert nach JBl 1956 S. 611 ff.
  31. 31 «Einige sagen, der Satz ‹Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich› bedeute das Verbot willkürlicher Differenzierungen. Andere sagen, daß unsachliche Differenzierungen verboten seien. Aber was heißt denn willkürlich, unsachlich? Diese Ausdrücke können nicht einmal als unbestimmte Gesetzesbegriffe angesehen werden, solange der Maßstab nicht genannt ist, an dem gemessen etwas willkürlich oder unsachlich ist.» Fn. 38.
  32. 32 Für die ältere Judikatur z.B. Kneucker/Welan Fn. 32; für die jüngere Holoubek: Die Sachlichkeitsprüfung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, ÖZW 1991 S. 72; zur Vorgangsweise des VfGH bei der Gesetzesprüfung Korinek Fn. 16.
  33. 33 ÖJZ 1969 S. 647 ff.
  34. 34 JBl 1990 S. 624.
  35. 35 ...und die Erkenntnisse mit einem Bundesverfassungsgesetz über die Begrenzung von Pensionen oberster Organe (BGBl 1987/281) gegenstandslos machen...
  36. 36 Auch wenn der Leidensdruck anlässlich von Fällen wie dem des ehemaligen Direktors der steirischen Arbeiterkammer und seiner allgemein als skandalös empfundenen ursprünglichen Pensionsregelung beträchtlich ist.
  37. 37 Kelsen/Froehlich/Merkl: Das B-VG vom 1.Oktober 1920, 1922, S. 253.