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Kollektivvertrags-Information in den Zeiten von Google und EU-Binnenmarkt

  • Authors: Christian Wachter / Iris Kraßnitzer
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Rechtsinformation & Juristische Suchtechnologien
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Christian Wachter / Iris Kraßnitzer, Kollektivvertrags-Information in den Zeiten von Google und EU-Binnenmarkt, in: Jusletter IT 20 February 2014
Kollektivverträge nehmen eine bedeutende Stellung im österreichischen Arbeitsrecht ein, indem sie vielfältige Rechte und Pflichten der Vertragspartner bestimmen. Daher haben die Rechtsunterworfenen ein großes Interesse am Zugang zu diesen Dokumenten. Der Beitrag zeichnet nach, wie politische, ökonomische und technische Entwicklungen eine Öffnung des Informationszugangs zu Kollektivverträgen bewirkten.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einleitung
  • 2. Zur Geschichte und Bedeutung von Kollektivverträgen
  • 3. KV-Informationen in einer sozialpartnerschaftlichen, geschlossenen Volk
  • 4. Neue Herausforderungen für die Gewerkschaften
  • 5. Informationsoffensive der Gewerkschaften
  • 6. Zusammenfassung
  • 7. Literatur

1.

Einleitung ^

[1]
Kollektivverträge (kurz: KV) waren in Österreich zwar nie geheim, aber für die Rechtsunterworfenen war der Informationszugang lange Zeit mit großen Hürden verbunden. Insbesondere für ArbeitnehmerInnen war es schwierig, «ihren» Kollektivvertrag zu bekommen oder gar im Zuge der Arbeitsplatzsuche die kollektivvertraglichen Ansprüche in verschiedenen Branchen zu vergleichen. Obwohl aufgrund der Außenseiterwirkung fast alle ArbeitnehmerInnen KVs unterliegen, behielten die Kollektivvertragsparteien (in erster Linie Fachverbände und Gewerkschaften) diese Informationen ihren Funktionärinnen bzw. Funktionären oder ihren Mitgliedern vor.
[2]
Ab den 70er Jahren setzten EU-Binnenmarktintegration und die Krise des Fordismus die Gewerkschaften zunehmend unter Druck. Dazu kamen seit den 90er Jahren neue Möglichkeiten der Mediennutzung aufgrund der Entwicklung des Internets. Diese Veränderungen spiegeln sich auch in der Entwicklung der gewerkschaftlichen Informationspolitik zu Kollektivverträgen sowie in den Informationssystemen wider.
[3]
Am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stehen ein Lohn- und Sozialdumpingbekämpfungs-Gesetz sowie ein öffentlich zugängliches, gewerkschaftliches Informationsangebot zu kollektivvertraglichen Ansprüchen. Dieser Beitrag versucht, die Logik hinter dieser Entwicklung etwas freizulegen und Zusammenhänge aufzuzeigen.
[4]
Der Artikel skizziert zunächst die Geschichte und rechtliche Bedeutung des österreichischen Systems der Kollektivverträge und dessen Funktionsweise im Rahmen einer geschlossenen Volkswirtschaft, wie sie in Österreich bis in die 80er Jahre hinein vorherrschte. Der nächste Abschnitt geht auf die Einflüsse im Zuge der europäischen Binnenmarktintegration ein. Ergänzend wird jeweils das Informationsangebot zu kollektivvertraglichen Ansprüchen erläutert.

2.

Zur Geschichte und Bedeutung von Kollektivverträgen ^

[5]
Die Buchdrucker waren 1896 die ersten, denen es auf dem Gebiet der Habsburger Monarchie gelang, einen Kollektivvertrag abzuschließen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren dann 500 Kollektivverträge für fast 11.000 Betriebe mit 143.000 ArbeitnehmerInnen in Geltung, das waren laut arbeitsstatistischem Amt 17 Prozent der außerhalb der Landwirtschaft tätigen ArbeitnehmerInnen.1 Die KV standen jedoch weitgehend im rechtsfreien Raum, denn das ABGB von 1811 regelt im 26. Hauptstück nur Einzelverträge. Erst infolge der Revolution von 1918 wurde im folgenden Jahr das «Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverhältnisse» verabschiedet. Durch das «Gesetz zur Ordnung nationaler Arbeit» von 1939 wurden die KV dann durch eine staatliche Tarifordnung abgelöst. 1947 erfolgte eine neuerliche Wende durch das Kollektivvertragsgesetz und 1974 die heute noch weitgehend gültige Regelung durch das Arbeitsverfassungsgesetz.2 Derzeit stehen in Österreich – je nach Zählweise – ca. 750 Kollektivverträge in Kraft und es gibt jährlich etwa 450 Abschlüsse.
[6]
Diese Vielzahl spiegelt die wichtige Stellung der KV im österreichischen Arbeitsrecht wider, die sie sowohl in inhaltlicher wie in rechtssystematischer Hinsicht haben. Neben den ursprünglich zentralen Fragen des Entgelts und der Arbeitszeit treffen KV Aussagen zu fast allen arbeitsrechtlichen Themen. Viele kollektivvertragliche Errungenschaften wurden später gesetzlich normiert. Im Stufenbau der Rechtsordnung stehen sie zwischen Gesetzen einerseits und Betriebsvereinbarungen und Einzelverträgen andererseits, aber aufgrund ihrer unmittelbaren Normwirkung, der Unabdingbarkeit ihrer Bestimmungen und des Günstigkeitsprinzips sind sie in den meisten Fragen mit zu beachten.
[7]
Was das System der österreichischen KV z.B. vom angloamerikanischen System der Closed Shops unterscheidet, ist ihre flächendeckende Gültigkeit aufgrund der in § 12 ArbVG festgelegten Außenseiterwirkung: «Die Rechtswirkungen des Kollektivvertrages treten auch für Arbeitnehmer eines kollektivvertragsangehörigen Arbeitgebers ein, die nicht kollektivvertragsangehörig sind (Außenseiter).» Das heißt es kommt nicht darauf an, ob ein/e Beschäftigte/r einer Gewerkschaft angehört, sondern ob der Arbeitgeber kollektivvertragsangehörig ist. Und das ist fast immer der Fall, da Unternehmen aufgrund der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft den Kammern angehören, die (bzw. deren Fachverbände) auf Arbeitgeberseite die KVs abschließen. Im Gegensatz dazu gelten in einem Closed Shop System die kollektivvertraglichen Vereinbarungen nur für Gewerkschaftsmitglieder und die Organisation wird alles daransetzen, dass alle Beschäftigten eines gewerkschaftsdominierten Unternehmens auch dem Club beitreten. Daneben sind allerdings auch «gewerkschaftsfreie» Betriebe möglich, die an keinen KV gebunden sind. Das kann je nach Land und Branche zu sehr unterschiedlichen gewerkschaftlichen Organisationsgraden führen.
[8]
In Österreich unterliegen aufgrund der Außenseiterwirkung über 98 Prozent der regulär unselbstständig Beschäftigten kollektiven Regelungen gegenüber 62 Prozent im OECD-Durchschnitt, obwohl der gewerkschaftliche Organisationsgrad nur bei ca. 28 Prozent liegt (OECD ca. 28,5 Prozent).3

3.

KV-Informationen in einer sozialpartnerschaftlichen, geschlossenen Volk ^

[9]
Wie der Informationszugang zu KVs gestaltet wird, hängt von den Interessen der Beteiligten unter den spezifischen Rahmenbedingungen ab. Das wichtigste individuelle Motiv für den Gewerkschaftsbeitritt – die Verbesserung der eigenen Lohn und Arbeitsbedingungen – ging in Österreich durch die Außenseiterwirkung verloren – im Gegensatz zum Closed Shop System. Was jedoch blieb, war das Informationsprivileg. Mit dem nicht ganz von der Hand zu weisenden Argument, dass KV eine Errungenschaft der Gewerkschaften seien, behielten diese Organisationen detaillierte Informationen zu KVs lange Zeit ihren Mitgliedern vor. Dabei ging und geht es nicht nur um den Inhalt des KV, sondern erst einmal um die Frage, welcher von den vielen Hundert KVs denn für einen Betrieb bzw. dessen Beschäftigte der zutreffende ist. Rechte und Ansprüche, über die man nichts Genaues weiß, haben für die Rechtsunterworfenen aber wenig Wert.
[10]
Etwas anders stellt sich die Situation auf Seiten der Arbeitgeber dar. KV werden dort grob gesagt auf Ebene der Fachverbände der Wirtschaftskammer (sowie von den Kammern der Selbstständigen) abgeschlossen. Für einen Arbeitgeber sind also vor allem die KVs jener Fachverbände relevant, denen das Unternehmen angehört. Dem entspricht auch das kollektivvertragliche Informationssystem der Wirtschaftskammer. Die Geschäftsführungen der Unternehmen können über den geschlossenen Mitgliederbereich des WKO-Portals auf die KV ihres Fachverbandes zugreifen. Ein Zugriff auf die KVs anderer Fachverbände ist zwar grundsätzlich möglich, aber es handelt sich beim Informationssystem der WKO nicht um eine Datenbank, sondern um eine heterogene Sammlung hunderter Dokumente unterschiedlichster technischer Formate und inhaltlicher Strukturierung. Diese Vielfalt der Daten sowie eine eher restriktive Suchmaske ermöglichen keine breite Recherche nach KV-Inhalten. Der Fokus liegt hier auf der Bereitstellung von KVs für Mitglieder der Wirtschaftskammer.
[11]
Differenzierter stellt sich das kollektivvertragliche Informationssystem auf Arbeitnehmerseite dar. Laut § 15 ArbVG hat «jeder kollektivvertragsangehörige Arbeitgeber [...] den Kollektivvertrag binnen drei Tagen nach dem Tage der Kundmachung [...] im Betrieb in einem für alle Arbeitnehmer zugänglichen Raume aufzulegen und darauf in einer Betriebskundmachung hinzuweisen.» Die praktische Bedeutung dieser Vorschrift hält sich allerdings in Grenzen.
[12]
Da der Abschluss und die nachfolgende Umsetzung von KVs das Kerngeschäft der Gewerkschaften sind, bemühten sich diese schon immer, die Betriebsrätinnen und Betriebsräte sowie Mitglieder mit «ihren» gedruckten KVs zu versorgen bzw. wird in jüngerer Zeit das Druckwerk vermehrt durch die digitale Bereitstellung in Form von PDF-Downloads ersetzt. Die Informationskultur gegenüber den Mitgliedern trug jedoch häufig paternalistische Züge und eine Information zu geltenden Ansprüchen wurde nur bei direktem Kontakt mit einem Betriebsrat oder dem/der zuständigen GewerkschaftssekretärIn erteilt. Die Begründung für diese Informationszurückhaltung war, dass ein Laie aus der Lektüre eines Kollektivvertrages falsche Schlüsse ziehen könne – was angesichts der wachsenden Komplexität des Arbeitsrechts ja durchaus argumentierbar ist. Man kann aber auch vermuten, dass vor allem drei Faktoren eine Rolle spielten: Zum einen war die Exklusivität von KV-Inhalten für Mitglieder ein bedeutendes Argument der Mitgliederwerbung, zum anderen bildete es – wie jede Informationshoheit – natürlich auch eine wichtige Machtressource. Drittens erreichten die Gewerkschaften ihre Hochblüte im hierarchisch-tayloristischen Fabriksystem, was auch ihre eigene (Informations-)Kultur prägte.
[13]
Bei den RechtsberaterInnen in den Gewerkschaften und vor allem in den Arbeiterkammern und den Arbeits- und Sozialgerichten entwickelte sich dagegen der Bedarf nach Recherchemöglichkeiten in vielen, teils hunderten KVs. Deshalb beauftragten die Gewerkschaften in den 80er Jahren den ÖGB-Verlag bzw. dessen damalige IT-Tochter, ein geschlossenes Expertensystem in Form einer klassischen Hostlösung aufzubauen, deren erste Version 1988 bereitgestellt wurde. Daraus ging die Webapplikation des heutigen «KVSystems» hervor, die neben ÖGB und AK auch von Ministerien, Universitäten, der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse sowie von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten genutzt wird.

4.

Neue Herausforderungen für die Gewerkschaften ^

[14]
In den letzten 30 Jahren begegnen den Gewerkschaften neue Herausforderungen technischer, politischer und gesellschaftlicher Art, die sich mit teils jahrzehntelanger Verzögerung in ihrer Informationspolitik zu KVs niederschlugen. So wurde das Internet zur Jahrtausendwende langsam massentauglich und es tauchten immer mehr Linksammlungen von KVs auf, deren HerausgeberInnen mit den KV-Parteien nicht oder nur indirekt in Verbindung standen wie LohnverrechnerInnen, Leiharbeitsfirmen oder Rechtsanwältinnen bzw. Rechtsanwälte. Zehn Jahre später entsteht durch das Phänomen Google ein komplett neuer Zugang zu Inhalten im Internet. Die meisten KV sind seitdem im Netz zu finden – aber oftmals fehlerhaft oder veraltet. Manchmal werden irrtümlicherweise sogar deutsche Tarifverträge mit gleichlautendem Titel aus dem Web herangezogen.
[15]
Auf politischer Ebene erodierte der Handlungsspielraum der Gewerkschaften seit den 80ern zusehends. Dies lässt sich in allen Bereichen verfolgen:4
  • Die Produktionsmacht, das ist die Macht, mit einigen wenigen ArbeiterInnen, die in strategisch wichtigen Positionen streiken, ganze Industriezweige lahmzulegen, geriet aufgrund der Globalisierung immer mehr unter Druck. Mittelfristig können viele Produktionen in andere Länder verlegt werden, wo nicht nur niedrigere Steuern und geringere Umweltauflagen auf die Unternehmen warten, sondern auch billigere und schlechter organisierte ArbeiterInnen.
  • Die Marktmacht der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt entwickelte sich umgekehrt proportional zum Anstieg der Arbeitslosenzahlen.
  • Die Organisationsmacht der Gewerkschaften sank nicht nur aufgrund schwindender Mitgliederzahlen, sondern auch weil es immer mehr Betriebe ohne Betriebsräte gibt.

Tab. 1: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad und kollektivvertragliche Deckungsrate5, 6

[16]
Allerdings: Trotz eines Rückganges des Organisationsgrades in Österreich um 19 Prozent in den letzten 20 Jahren konnte die kollektivvertragliche Deckungsrate noch einmal geringfügig gesteigert werden. Das ist wohl mit der Entwicklung der vierten gewerkschaftlichen Machtressource – der institutionellen Macht – zu erklären. Die sozialpartnerschaftliche Strategie des «Klassenkampfes am Verhandlungstisch» war lange Zeit sehr erfolgreich. Die Sozialpartner vereinbarten nicht nur KVs, sondern häufig auch Gesetze, die dann vom Parlament weitgehend abgesegnet wurden. Darüber wurde jedoch die Entwicklung der Organisations- und der Produktionsmacht vernachlässigt. Mit der schwarz-blauen Koalition und ihrem «Speed kills» kam auch die institutionelle Macht der Gewerkschaften unter Druck. Unter der großen Koalition erfolgte jedoch eine Renaissance der Sozialpartner, und das System der KV konnte weitgehend stabil gehalten werden.
[17]
Schließlich weiteten die Arbeiterkammern in den letzten Jahren ihre Service-Offensive immer weiter aus. Wichtigster Bestandteil davon ist die Beratung in arbeitsrechtlichen Fragen, was meist auch die Konsultation eines KV mit einschließt. Dabei sind die Arbeiterkammern nicht nur finanzkräftiger als die Gewerkschaften, sondern sie haben von Gesetz wegen die Pflicht, auch Nicht-Mitglieder zu beraten.
[18]
Dadurch kamen die Gewerkschaften stark unter Druck. Der Deal «Information gegen Mitgliedschaft» funktionierte nicht mehr, da es diese Informationen zunehmend auch im Internet und bei den Arbeiterkammern gab. Das neue Credo lautet «Information wirbt für Mitgliedschaft». Die Gewerkschaften informieren dabei nicht nur aktiv über kollektivvertragliche Rechte, sondern sie weisen zugleich darauf hin, dass viele Ansprüche nur in KVs verbürgt sind, dass diese eine Errungenschaft starker Gewerkschaften sind, und dass sich deshalb eine Mitgliedschaft auszahlt.
[19]
Auch die Öffnung der Arbeitsmärkte im Zuge der EU-Binnenmarktintegration forderte die Gewerkschaften heraus. Es tauchten sozusagen «neue Außenseiter» auf, die sich häufig nicht an kollektivvertragliche Abmachungen hielten, und zwar sowohl auf Arbeitnehmer- wie auf Arbeitgeberseite. Die Gewerkschaften nahmen zunächst eine abwehrende Haltung ein und forderten, die neuen Konkurrenten so lange wie möglich vom österreichischen Arbeitsmarkt fernzuhalten – was allerdings den Prinzipien des europäischen Binnenmarktes widerspricht und nur für eine Übergangsperiode haltbar war. Die alternative Strategie war, die neuen Arbeitsplatz- und Auftrags-Konkurrenten den gleichen Wettbewerbsbedingungen zu unterwerfen, wie ÖsterreicherInnen, indem die Außenseiterwirkung auf ausländische ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen ausgedehnt wurde. Das im Zuge der EU-Integration erlassene Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) normiert in § 7 ff., dass ausländische Beschäftiger in Österreich das kollektivvertragliche Mindestentgelt zahlen müssen und dass nach Österreich entsandte Arbeitskräfte Anspruch auf dieses Entgelt haben.7 Damit einher geht die explizite gesetzliche Anforderung an die Sozialpartner, den neuen Außenseitern den Informationszugang zu diesen Regeln zu eröffnen.
[20]
Weitere gesellschaftliche Entwicklungen sind die Diskussion über Open Government sowie die Gleichbehandlungsdiskussion, die dazu führte, dass bei Stellenausschreibungen das kollektivvertragliche Mindestentgelt anzugeben ist.8

5.

Informationsoffensive der Gewerkschaften ^

[21]
Die Summe dieser Faktoren führte dazu, dass die Gewerkschaften ihre Informationsaktivitäten zu KVs über die Jahre hinweg immer weiter steigerten. Inzwischen hat sich in den meisten Gewerkschaften durchgesetzt, dass jedes Mitglied einmal im Jahr eine gedruckte Fassung seines KV zugesandt erhält bzw. werden parallel dazu im geschlossenen Mitgliederbereich der Webportale die KVs zum Download angeboten. Dieses Informationsangebot wurde in den vergangenen Jahren stetig weiterentwickelt, insbesondere auch im Hinblick auf eine differenzierte Aufbereitung nach Zielgruppen: Für einen juristischen Laien sind Hilfestellungen und vereinfachende Darstellungen wichtiger als beispielsweise für eine/n RechtsberaterIn, der/die alle Inhalte und komplexe Recherchemöglichkeiten benötigt.
[22]
Vorläufiger Höhepunkt dieser Service-Offensive ist die Plattform «kollektivvertrag.at». Die Gewerkschaften haben sich entschlossen, alle KV für Mitglieder und die breite Öffentlichkeit frei und einfach zugänglich zu machen. Die Plattform enthält alle aktuell gültigen KVs, Kurzübersichten zu ausgewählten wichtigen KVs, News zu aktuellen KV-Abschlüssen und -Verhandlungen sowie Basiswissen zum Thema. Für Gewerkschaftsmitglieder stehen nach einem Login noch weitere Funktionen zur Verfügung, jedoch keine weiteren Inhalte.
[23]
Parallel wird das Expertensystem zu einer «Lösungswelt Kollektivverträge» weiter ausgebaut: Neben der umfassendsten Kollektivvertrags-Datenbank Österreichs, dem KVSystem, sind auch kommentierte KVs in Buchform, Newsletter- und Twitter-Services und eine Website mit Hintergrundinformationen Teil dieser Lösungswelt, die alle für Expertinnen und Experten notwendigen Informationen bündelt. Damit werden auch neue NutzerInnengruppen wie PersonalbereitstellerInnen und -vermittlerInnen angesprochen, die u.a. in Stelleninseraten jetzt das kollektivvertragliche Mindestentgelt angeben müssen. In Zukunft sollen auch fremdsprachige Fassungen der Kurzübersichten bereitgestellt werden, damit ausländische Entsendebetriebe wissen, welche kollektivvertraglichen Mindestentgelte sie leisten müssen. Hinter der Online-Datenbank stehen XML-Daten, auf deren Basis KVs auch per automatisierten Satz aufbereitet werden. Derzeit wird in einem Open Linked Data Projekt die Bereitstellung von KV-Inhalten für andere Lizenznehmer vorbereitet.

6.

Zusammenfassung ^

[24]
Die Binnenmarktintegration Österreichs mit der Öffnung der Arbeitsmärkte hat die Sozialpartnerschaft und die gewerkschaftlichen Organisationen erschüttert. Dies mündete jedoch paradoxerweise in eine – zumindest vorübergehende – Wiederbelebung der Sozialpartnerschaft. Auf politischer Ebene gelang es, das Arbeitsrecht ein Stück weit an die neuen Anforderungen der Arbeitsmarktöffnung anzupassen. Verbunden damit ist auch ein expliziter Auftrag an die Sozialpartner, den neuen EU-Außenseitern Informationen über kollektivvertragliche Ansprüche zur Verfügung zu stellen. Diesen Ball hat der ÖGB aufgegriffen.
[25]
Parallel dazu erodierte das Informationsmonopol der Gewerkschaften durch das Aufkommen des Internets und insbesondere durch Suchmaschinen wie Google, sowie durch die Beratungsoffensive der Arbeiterkammern. Letztendlich erkannten die Gewerkschaften, dass sie ihre Informationspolitik zu KVs öffnen müssen. Jüngster Schritt in dieser Entwicklung ist die Informationsplattform kollektivvertrag.at mit
  • freiem Zugang zu KVs für Öffentlichkeit; Mehrwert für Mitglieder und Betriebsrätinnen/Betriebsräte
  • Aufbereitung von KV-Inhalten für Nicht-Fachleute
  • wichtigsten Informationen in KV-Kurzübersichten
  • Unterscheidung in Informationspakete für Öffentlichkeit, Mitglieder und für KV-ExpertInnen
[26]
Ziel von kollektivvertrag.at ist bürgernahe, frei zugängliche Rechtsinformationen, d.h. KV-Informationen allen zur Verfügung zu stellen und Hilfestellungen zum leichteren Verständnis für Nicht-Fachleute zu bieten. Durch den hohen Stellenwert von kollektivem Arbeitsrecht und dem ausgebauten Informationssystem nimmt Österreich im europäischen Vergleich eine bemerkenswerte Vorreiterrolle ein, die von manchen Nachbarn durchaus mit Neid betrachtet wird.
[27]
(Rechts-)Informationssysteme spiegeln nicht nur den Entwicklungsstand der Technik wider, sondern auch gesellschaftliche, ökonomische und politische Entwicklungen.

7.

Literatur ^

Becksteiner, Mario / Boos, Tobias / Pire. Ako, Doppelkrise der Gewerkschaft, Perspektiven Nr. 8 (2009), http://www.perspektiven-online.at/2009/06/13/doppelkrise-der-gewerkschaft/ aufgerufen 8. Januar 2014.

Klenner, Fritz / Pellar, Brigitte, Die österreichische Gewerkschaftsbewegung: Von den Anfängen bis 1999, ÖGB-Verlag, Wien, 2. Aufl. (1999).

Löschnigg, Günther, Datenermittlung im Arbeitsverhältniss, ÖGB-Verlag, Wien (2009).

Magerl, Eva Susanne, Struktur und Entwicklung des Kollektivvertragssystems in Österreich, Wien (2009), unveröffentlicht.

OECD (Hrsg.), OECD Employment Outlook 30, 2012. http://dx.doi.org/10.1787/empl_outlook-2012-en aufgerufen 8. Januar 2014.

Schwegel, Verena, Rechtsprobleme der Stellenausschreibung: Unter besonderer Berücksichtigung des Gebots der geschlechtsneutralen Stellenausschreibung gemäß § 9 GlBG, ÖGB-Verlag, Wien (2013).


 

Christian Wachter, Iris Kraßnitzer

Verlag des ÖGB GmbH
Johann-Böhm-Pl. 1, 1020 Wien, AT
office@oegbverlag.at; http://www.oegbverlag.at

 


  1. 1 Klenner / Pellar, Die österreichische Gewerkschaftsbewegung: Von den Anfängen bis 1999, ÖGB-Verlag, Wien, 2. Aufl. (1999), 158.
  2. 2 Magerl, Struktur und Entwicklung des Kollektivvertragssystems in Österreich, Wien (2009), unveröffentlicht.
  3. 3 OECD (Hrsg.), OECD Employment Outlook 30, 2012, 136.
  4. 4 Becksteiner / Boos / Pire, Doppelkrise der Gewerkschaft, Perspektiven Nr. 8 (2009).
  5. 5 OECD (Hrsg.), OECD Employment Outlook 30, 2012, 136.
  6. 6 Deutsche Werte nur für Westdeutschland.
  7. 7 Löschnigg, Datenermittlung im Arbeitsverhältniss, ÖGB-Verlag, Wien (2009), RZ 2/103.
  8. 8 Schwegel, Rechtsprobleme der Stellenausschreibung: Unter besonderer Berücksichtigung des Gebots der geschlechtsneutralen Stellenausschreibung gemäß § 9 GlBG, ÖGB-Verlag, Wien (2013), 59.