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Die Vorratsdatenspeicherung als Herausforderung der EU-Grundrechtecharta

  • Authors: Walter Hötzendorfer / Christof Tschohl
  • Category: Articles
  • Region: Austria
  • Field of law: Data Protection
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Walter Hötzendorfer / Christof Tschohl, Die Vorratsdatenspeicherung als Herausforderung der EU-Grundrechtecharta, in: Jusletter IT 20 February 2014
Die Vereinbarkeit der Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung mit der europäischen Grundrechtsordnung wurde in der Zivilgesellschaft von Beginn an bezweifelt und beschäftigt nun den EuGH. Der Beitrag bietet einen Bericht und eine Bewertung zur Rs. C-594/12 (Seitlinger u.a.), zu der im Dezember 2013 die Schlussanträge des Generalanwalts veröffentlicht wurden, und geht auf die möglichen Konsequenzen dieser Entscheidung ein.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Einführung
  • 1.1. Die Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) im Überblick
  • 1.2. Die Umsetzung der VDS in Österreich im Überblick
  • 2. Die Anfechtung der Vorratsdatenspeicherung
  • 2.1. Nationale Ausgangsverfahren in Irland und Österreich
  • 2.2. Verbundene Rechtssache im Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH
  • 3. Die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH
  • 3.1. Zusammenfassung der Schlussanträge
  • 3.2. Bewertung der Schlussanträge
  • 4. Die Schlussanträge als hypothetische Entscheidung – Auswirkungen im nationalen Ausgangsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
  • 5. Schlussfolgerungen und Ausblick

1.

Einführung ^

1.1.

Die Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) im Überblick ^

[1]
Vor dem Hintergrund der 2004 in Madrid und 2005 in London verübten terroristischen Anschläge beschloss der Unionsgesetzgeber 2006 eine schon jahrelang vorbereitete Richtlinie, die zur Einführung von Maßnahmen zur verdachtsunabhängigen Speicherung von Kommunikationsdaten aller Menschen in der EU verpflichtet.1
[2]
Die EU-Mitgliedstaaten müssen gemäß der Richtlinie 2006/24/EG (VDS-RL) den in ihrem Hoheitsgebiet ansässigen Anbietern öffentlicher Kommunikationsdienste eine Datenspeicherung auf Vorrat für mindestens sechs Monate bis maximal zwei Jahre gesetzlich vorschreiben, damit die Daten zur Verfolgung schwerer Straftaten europaweit zur Verfügung stehen. Allerdings ist den Mitgliedstaaten implizit aber bewusst die Regelung überlassen, was unter «schweren Straftaten» zu verstehen ist bzw. ob die Daten auch für präventive Gefahrenabwehr, für Zwecke der Nachrichtendienste oder für völlig andere Interessen verfügbar sein sollen, etwa für die Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen. Der Speicherpflicht unterliegen nach Art. 5 VDS-RL sogenannte Verkehrsdaten «zur Rückverfolgung und Identifizierung der Quelle einer Nachricht»2 sowie «zur Identifizierung des Adressaten»3, «zur Bestimmung von Datum, Uhrzeit und Dauer einer Nachrichtenübermittlung»4, «zur Bestimmung der Art einer Nachrichtenübermittlung»5, zur Bestimmung der (vorgeblichen) Endeinrichtung6 und schließlich «zur Bestimmung des Standorts mobiler Geräte»7. Dagegen dürfen nach Art. 5 Abs. 2 VDS-RL keinerlei Daten auf Vorrat gespeichert werden, «die Aufschluss über den Inhalt einer Kommunikation geben». Hierzu ist anzumerken, dass eine vollständige Loslösung der Verkehrsdaten von den Inhalten u.U. nicht möglich ist, beispielsweise bei Nachrichten an eine Adresse wie info@anonyme-alkoholiker.at. Problematisch erscheint in dieser Hinsicht auch die Aufzeichnung von IP-Adressen zu bestimmten Anschlussinhabern – zugleich die wohl begehrtesten unter den Vorratsdaten –, weil in der Praxis den Ermittlern schon vorher der Inhalt einer Kommunikation bekannt ist, welcher mit Hilfe der IP-Adresse auf einen bestimmten Anschluss/Teilnehmer zurückgeführt werden soll.8

1.2.

Die Umsetzung der VDS in Österreich im Überblick ^

[3]
Nach langer Untätigkeit musste schließlich auch der österreichische Gesetzgeber die Richtlinie 2006/24/EG umsetzen. Dies erfolgte mittels Novellierungen des TKG9, des SPG und der StPO10, die am 1. April 2012 in Kraft traten.
[4]

Die verzögerte Umsetzung und die begleitende politische Kommunikation erweckte den Eindruck, Österreich hätte eine Minimalvariante der Umsetzung gewählt und nur umgesetzt, wozu man aufgrund der Richtlinie unbedingt verpflichtet gewesen sei. Dies ist objektiv nur im Hinblick auf die im TKG normierte Konkretisierung der Speicherpflichten in Bezug auf die konkreten Datenkategorien11 sowie die Speicherdauer von sechs Monaten12 gerechtfertigt. Jedoch gehen die Zugriffsberechtigungen zweifellos über die unionsrechtlichen Mindestanforderungen hinaus. So sind etwa Auskünfte über Name und Anschrift zu einer IP-Adresse nicht auf «schwere Straftaten» beschränkt, sondern dürfen zur Ermittlung, Feststellung und Verfolgung jeder gerichtlich strafbaren Handlung vom Anbieter mit Anordnung der Staatsanwaltschaft verlangt werden13, dies auch für die Gefahrenabwehr durch Anordnung der Polizei ohne gerichtliche oder sonstige Bewilligung und ohne Einschränkung auf den Schutz bestimmter höherwertiger Rechtsgüter.14 Für alle anderen Arten von Vorratsdaten ist gemäß § 135 Abs. 2a StPO eine Auskunft im Wesentlichen dann zulässig, wenn «dadurch die Aufklärung einer vorsätzlich begangenen Straftat, die mit Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht ist, gefördert werden kann und auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, dass dadurch Daten des Beschuldigten ermittelt werden können»15 oder auf Grund bestimmter Tatsachen zu erwarten ist, dass dadurch der Aufenthalt eines flüchtigen oder abwesenden Beschuldigten, der einer Straftat dringend verdächtig ist, ermittelt werden kann.16 Damit sind im Wesentlichen Vorratsdaten für all jene Fälle verfügbar, in denen schon bisher aus betrieblichen Gründen gespeicherte Verkehrsdaten ermittelt werden durften, wobei der Gesetzgeber bewusst vermieden hat, den Begriff «schwere Straftaten» zu verwenden.17

2.

Die Anfechtung der Vorratsdatenspeicherung ^

2.1.

Nationale Ausgangsverfahren in Irland und Österreich ^

[5]

In Österreich wurden insgesamt drei «Verfassungsbeschwerden»18 gegen die nationale Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung eingebracht, und zwar vom Land Kärnten, von Michael Seitlinger, einem Mitarbeiter des österreichischen Mobilfunkproviders A1 Telekom Austria, und vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung Österreich (AKVorrat). Dabei erreichte der AKVorrat in einer beispiellosen zivilgesellschaftlichen Kampagne19, dass sich der Verfassungsbeschwerde neben Erstbeschwerdeführer Christof Tschohl, exakt 11.12920 weitere Antragstellerinnen und Antragsteller anschlossen, darunter zahlreiche bekannte Persönlichkeiten, beispielsweise auch hochrangige RepräsentantInnen aus der Richtervereinigung, der Rechtsanwaltskammer oder der Ärztekammer.

[6]

Gegenstand der Anfechtung sind einerseits die Normen des TKG21 zur Vorratsspeicherpflicht der Anbieter sowie jene Bestimmungen, die in groben Zügen die rechtlich zulässige Verwendung dieser Daten regeln und für die Details auf die korrespondierenden Bestimmungen in StPO und SPG verweisen.22 Der Individualantrag des AKVorrat (IA-AKV) beantragt die Aufhebung der relevanten Normen wegen Verletzung des Rechts auf Privatleben und Familienleben, Schutz der Korrespondenz gemäß Art. 8 EMRK/Art. 7 GRC, des Rechts auf Datenschutz gemäß § 1 DSG 2000/Art. 8 GRC, des Rechts auf Meinungs- und Informationsfreiheit gemäß Art. 10 EMRK/Art. 11 GRC, des Rechts auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK/Art. 12 GRC, des Rechts auf Schutz des Fernmeldegeheimnisses gemäß Art. 10a StGG sowie des Rechts auf die Unschuldsvermutung im Strafverfahren gemäß Art. 6 EMRK/Art. 48 GRC.23

[7]

In einem zweiten Kapitel wird beantragt, der VfGH möge eine Vorabentscheidung gemäß Artikel 267 AEUV beim Gerichtshof der Europäischen Union zur Frage einholen, ob die VDS-RL selbst mit den genannten Grundrechten der EU-Grundrechtecharta (GRC) vereinbar ist und ob dabei der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV von nationalen Gerichten fordert, die Vereinbarkeit der nationalen Umsetzungen der Richtlinie 2006/24/EG mit dem von der Grundrechtecharta gewährleisteten Schutz zu prüfen.24 Verfassungsdogmatisch gesehen eröffnete der VfGH selbst wenige Monate vor Antragseinbringung (Juni 2012) mit einer neuen Judikaturlinie25 den Weg für Vorabentscheidungsverfahren in Bezug auf die Grundrechtecharta. Nach diesem neuen Ansatz können die von der GRC garantierten Rechte vor dem Verfassungsgerichtshof als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art. 144 bzw. Art. 144a B-VG geltend gemacht werden und bilden im Anwendungsbereich der GRC einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach Art. 139 und Art. 140 B-VG. Damit ist der Weg geebnet, dass der Verfassungsgerichtshof im eigenen Kompetenzbereich eine unionsrechtlich verbindliche Auslegung einholt, die in der Folge zum innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Maßstab transformiert wird – und soweit auch einen klaren Mehrwert gegenüber einem reinen Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber innerstaatlichem Verfassungsrecht aufweist.

[8]

Ein halbes Jahr nach der Einbringung, im Dezember 2012, erzielten die Anträge einen ersten Erfolg; wie schon einige Monate zuvor der irische High Court hatte auch der österreichische VfGH Zweifel, ob die EU-Richtlinie 2006/24/EG so schwerwiegende Grundrechtseingriffe rechtfertigt. Beide Höchstgerichte wandten sich zur Klärung dieser europarechtlichen Frage an den EuGH.26 In einer begleitenden Presseaussendung des VfGH formuliert Präsident Gerhart Holzinger prägnant die Bedenken, weshalb die EU‐Richtlinie über die sogenannte Vorratsdatenspeicherung der EU‐Grundrechtecharta widersprechen könnte: «Die Vorratsdatenspeicherung betrifft fast ausschließlich Personen, die keinen Anlass für die Datenspeicherung gegeben haben. Die Behörden ermitteln ihre Daten und sind über das private Verhalten solcher Personen informiert. Dazu kommt das erhöhte Risiko des Missbrauchs.» Und weiter: «Der Verfassungsgerichtshof ist verpflichtet, den EuGH einzuschalten, wenn er Zweifel an der Gültigkeit bzw. Auslegung von Unionsrecht hat. Wir haben Zweifel daran, dass die EU‐Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit den Rechten, die durch die EU‐Grundrechtecharta garantiert werden, wirklich vereinbar ist.»27 Die Vorlagefragen des VfGH an den EuGH beziehen sich, insoweit den Anträgen entsprechend, in einem ersten Block auf die Kernfrage zur Vereinbarkeit der anlasslosen VDS an sich mit Art. 7, 8 und 11 GRC. Nicht einbezogen sind hingegen die Fragen im Hinblick auf die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Art. 12 GRC sowie die Unschuldsvermutung im Schutzbereich des Art. 48 GRC.

[9]

Der Verfassungsgerichtshof stellt darüber hinaus grundsätzliche Fragen zur Auslegung des Grundrechts auf Datenschutz nach Art. 8 GRC, die «das Verhältnis des Grundrechts zum Unionsrecht einschließlich des Sekundärrechts, zur EMRK und zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten» betreffen.28 Sinngemäß geht es darum, welcher Beurteilungsmaßstab an eine EU-Richtlinie anzulegen ist, falls das innerstaatliche Verfassungsrecht bzw. die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – die in Österreich im Verfassungsrang steht – ein höheres Schutzniveau gewährleistet als der unmittelbare Rechtsbestand der EU. Dabei formuliert der VfGH die These, dass «ein höheres Schutzniveau als jenes nach der Grundrechte-Charta, das sich aus einem wertenden Rechtsvergleich der Verfassungen der Mitgliedstaaten ergibt, maßgeblich sein und dazu zwingen [kann], die einschlägige Garantie der Grundrechte-Charta so auszulegen, dass der Grundrechtsstandard der mitgliedstaatlichen Verfassungen nicht unterschritten wird.»29

2.2.

Verbundene Rechtssache im Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH ^

[10]

Infolge der genannten Vorlagefragen aus Österreich und Irland wurden beide Verfahren zu einer gemeinsamen öffentlichen und mündlichen Verhandlung am 9. Juli 2013 beim EuGH in Luxemburg verbunden, bei welcher die Parteien zur Frage gehört wurden, ob die Vorratsdatenspeicherung mit der Europäischen Grundrechtecharta vereinbar ist.30 Den Gegnern der Vorratsdatenspeicherung standen aufseiten der Befürworter Vertreter der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments sowie einiger Mitgliedstaaten, darunter Österreich, gegenüber. Bemerkenswert an dieser Verhandlung war, dass die Rechtfertigungslast klar aufseiten der Befürworter der Vorratsdatenspeicherung lag – wie es der grundrechtlichen Dogmatik entspricht –, sodass diese in eine defensive Rolle gerieten.31 Sowohl die EU-Institutionen als auch die Mitgliedstaaten konnten nach wie vor keine überzeugenden Argumente darlegen, warum der massive Eingriff in die Bürgerrechte infolge der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verhältnismäßig sein soll. Dies zeigte sich nicht zuletzt durch die zahlreichen kritischen (Nach-)Fragen des sehr gut vorbereiteten Berichterstatters innerhalb des 15-köpfigen Richtergremiums, Thomas von Danwitz. Dieser sagte nach der ersten Anhörungsrunde am Nachmittag wörtlich: «Man nimmt nicht einen Presslufthammer, um eine Nuss zu knacken, wenn ein Nussknacker reicht. Man schießt nicht mit Kanonen auf Spatzen. Es geht darum, Kollateralschäden zu vermeiden.»32

3.

Die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH ^

3.1.

Zusammenfassung der Schlussanträge ^

[11]

Ziemlich genau fünf Monate nach der mündlichen Verhandlung wurden am 12. Dezember 2013 die Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón veröffentlicht.33 Gemessen an den Erwartungen, die durch den beschriebenen Verlauf der mündlichen Verhandlung geweckt wurden, wird darin überraschend deutlich für eine grundsätzliche Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung plädiert, wobei der Generalanwalt (GA) – wie im Folgenden näher ausgeführt wird – Begründungen und Argumente zum Teil schuldig bleibt.

[12]
Dennoch waren die ersten Reaktionen vieler Medien auf die Schlussanträge optimistischer als deren Inhalt tatsächlich rechtfertigt, und schrieben bereits vom bevorstehenden Ende der Vorratsdatenspeicherung in der EU. Das liegt wohl daran, dass der GA empfiehlt, die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung aufzuheben und die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten (Rz. 159):
  1. Richtlinie 2006/24/EC ist zur Gänze unvereinbar mit Art. 52 Abs. 1 GRC, weil die in der Richtlinie enthaltenen Einschränkungen der Ausübung von Grundrechten nicht mit unabdingbaren Grundsätzen einhergehen, die für die zur Beschränkung des Zugangs zu den Daten und ihrer Auswertung notwendigen Garantien gelten müssen
  2. Art. 6 der Richtlinie 2006/24/EC ist mit Art. 7 und Art. 52 Abs. 1 GRC insofern unvereinbar, als er für die Speicherdauer eine Höchstgrenze von zwei Jahren vorschreibt.
[13]
Die grundrechtliche Unzulässigkeit der Richtlinie ergibt sich für den GA somit daraus, dass sie einen Grundrechtseingriff darstellt, es aber den Mitgliedstaaten überlässt, die Achtung der Grundrechte tatsächlich zu gewährleisten (Rz. 101). Sofern jedoch die «notwendigen Garantien» in der Richtlinie geregelt werden und die Höchstgrenze der Speicherdauer herabgesetzt wird, hält der GA die Richtlinie somit für grundrechtskonform. Er schlägt vor, dass die Richtlinie bis zu ihrer «Reparatur» durch den Unionsgesetzgeber vorläufig anwendbar bleiben solle, wobei diese «innerhalb einer angemessenen Frist» zu erfolgen habe.
[14]
Der Generalanwalt beginnt seine grundrechtlichen Ausführungen mit der klaren Feststellung, dass die Richtlinie einen Grundrechtseingriff darstellt (Rz. 48). Zur Frage, in welche Grundrechte sie eingreift, erläutert er, dass sich die gegenständlichen Daten primär auf das Privatleben bezögen und daher hauptsächlich der Gesichtspunkt des Eingriffs in das Recht auf Achtung des Privatlebens im Vordergrund stünde. In der Folge geht er fast ausschließlich auf den Eingriff in Art. 7 GRC ein.
[15]
Der GA erachtet den Grundrechtseingriff eindeutig für unverhältnismäßig gegenüber dem Ziel, das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen (Rz. 102). Er argumentiert jedoch, auch wenn dieses Ziel jenes sei, das die rechtliche Grundlage der Richtlinie rechtfertige, sei es nicht deren einziges Ziel. Er kommt somit zur Kernfrage, «ob die Probleme mit der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, die ein Unionsrechtsakt in Anbetracht des mit ihm verfolgten überwiegenden Ziels aufwirft, durch die Berücksichtigung eines im ‹Hintergrund› stehenden Ziels behoben werden können. Die Entscheidung darüber fällt umso schwerer, als sich die Frage in einem Kontext stellt, in dem die Rechtsgrundlage für den betreffenden Rechtsakt gerade in Anbetracht seines überwiegenden Ziels für gültig erklärt worden ist.» (Rz. 104)
[16]
Er lässt diese Frage offen mit dem Hinweis, dass die Richtlinie noch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 52 Abs. 1 zu unterziehen sei, und setzt mit ebendieser Verhältnismäßigkeitsprüfung fort. Mit Hinweis auf den nicht bloß rein formellen Charakter des Gesetzesvorbehalts in Art. 52 Abs. 1 erläutert der GA, dass es auch auf die Qualität des Gesetzes ankomme (Rz. 109). Er kommt zu dem Schluss, wenn sich die Einschränkung der Grundrechte – wie im Fall der Richtlinie 2006/24/EC – direkt aus den Rechtsvorschriften der Union ergibt, komme dem Unionsgesetzgeber auch die Verantwortung zu, zumindest Grundsätze für Schutzmaßnahmen festzulegen, in deren Rahmen sich die Grundrechtseinschränkung zu bewegen hat (Rz. 117 ff.). Dies bedeutet im Einzelnen die Festlegung der den Zugriff auf die gespeicherten Daten rechtfertigenden Straftatbestände (Rz. 126), Vorgaben hinsichtlich der Regelung der Zugangsberechtigung zu den Daten (Rz. 127), die Möglichkeit, Ausnahmen vom Zugang zu den Daten oder in bestimmten Fällen verschärfte Zugangsbedingungen vorzusehen (Rz. 128) und die Verankerung des Grundsatzes, dass die zugreifenden Behörden die Daten zu löschen haben, wenn diese nicht mehr benötigt werden, und die Betroffenen – zumindest nachträglich – über den Zugriff zu informieren haben.
[17]

Im Zuge der Prüfung der Verhältnismäßigkeit bezeichnet er das von der Richtlinie verfolgte Ziel der Bereitstellung von Daten zum Zweck der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten als «vollkommen legitim» und die Richtlinie als zur Erreichung dieses Ziel als geeignet und erforderlich (Rz. 136). Ohne nähere Ausführungen wird lediglich versucht, dies mit einem Verweis auf Erwägungsgrund 9 der Richtlinie 2006/24/EC und den Bewertungsbericht der Kommission zur Richtlinie 2006/24/EC34 zu belegen, sowie im Allgemeinen mit einem Verweis auf die Pflicht des Art. 14 der Richtlinie zur Erstellung dieses Berichts.

[18]
Zur Begründung der Unverhältnismäßigkeit einer Speicherdauer von bis zu zwei Jahren (d.h. mehr als einem Jahr, Rz. 148 f.) führt der GA eine Differenzierung zwischen der – in Monaten bemessenen – als «gegenwärtig» wahrgenommenen Zeit und der weiter zurückliegenden als «Erinnerung» wahrgenommen Zeit ein (Rz. 146 f.). Da er keine Rechtfertigung für eine Speicherdauer von einem Jahr oder mehr gefunden habe, erscheint ihm nur ein Eingriff «in der Dimension der gegenwärtigen Zeit» als hinreichend gerechtfertigt (Rz. 149).

3.2.

Bewertung der Schlussanträge ^

[19]
Eine grundrechtliche Beurteilung der VDS-RL ist untrennbar mit der Frage verbunden, welche konkreten Ziele die Maßnahme verfolgt. Steht man auf dem Standpunkt, dass die Verhältnismäßigkeit nur anhand jenes Ziels einer Maßnahme zu prüfen ist, das die Rechtsgrundlage der Maßnahme rechtfertigt (hier: das Funktionieren des Binnenmarktes sicherzustellen), dann ist – wie sich bereits aus den Ausführungen des GA (Rz. 102) ergibt – die Maßnahme der Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich unverhältnismäßig. Eine entscheidende Vorfrage ist daher, ob die nur implizit mit der Richtlinie verfolgten Ziele der Rechtsdurchsetzung ebenso in die Erwägungen der Verhältnismäßigkeit einbezogen werden dürfen. Hinsichtlich der Schlussanträge des GA bedeutet dies, ob die darin getroffene Unterscheidung zwischen «Hauptziel» (Funktionieren des Binnenmarktes) und «Nebenziel» (Rechtsdurchsetzung) und die erfolgte Abwägung der Verhältnismäßigkeit mit dem «Nebenziel» zulässig ist.
[20]

Zu erwähnen ist, dass der EuGH bereits entschieden hat, dass die Richtlinie auf der korrekten Rechtsgrundlage basiert, denn sie «harmonisiert weder die Frage des Zugangs zu den Daten durch die zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden noch die Frage der Verwendung und des Austauschs dieser Daten zwischen diesen Behörden. Diese Fragen, die grundsätzlich in den von Titel VI des EU-Vertrags erfassten Bereich fallen, werden von den Bestimmungen dieser Richtlinie nicht erfasst, wie insbesondere in ihrem 25. Erwägungsgrund und in ihrem Art. 4 ausgeführt wird.»35

[21]
Aus dieser Feststellung ergibt sich noch ein weiteres Problem der Schlussanträge, denn wie oben ausgeführt, fordert der GA nun genau das: Regelungen betreffend den Zugang und den Umgang der Strafverfolgungsbehörden mit den Daten (Rz. 125–129). Damit stellt sich aber die Frage, ob eine Reparatur der Richtlinie im Sinne der Schlussanträge überhaupt noch auf die bestehende Rechtsgrundlage der ehemaligen ersten Säule gestützt werden könnte, weil die Regelung des Zugangs zu den auf Vorrat gespeicherten Daten zum Bereich der früheren «dritten Säule» gehören und daher eine andere Kompetenzgrundlage der Union in Anspruch genommen werden müsste.36
[22]

Nach Ansicht des GA erfordert die GRC, auch die «Nebenziele» zumindest in Grundzügen schon auf unionsrechtlicher Ebene zu regeln. «Es besteht nämlich ein enger Zusammenhang zwischen der konkreten Ausgestaltung der Verpflichtung zur Erhebung und Vorratsspeicherung der Daten und den Bedingungen, unter denen die Daten den zuständigen nationalen Behörden gegebenenfalls zur Verfügung gestellt und von diesen ausgewertet werden können. Es ist sogar davon auszugehen, dass ohne Kenntnis davon, wie dieser Zugang und diese Auswertung erfolgen können, kein wirklich fundiertes Urteil über den Eingriff gefällt werden kann, den die betreffende Erhebung und Vorratsspeicherung nach sich ziehen.» (Rz. 122) Die Abwägung mit diesen Zielen ist daher nicht nur zulässig, sondern geboten. Darin zeigt sich aber das Dilemma nach der Kompetenzentscheidung des EuGH37 zur VDS, die nur darauf abstellt, was die Richtlinie in ihrer aktuellen Fassung regelt, und nicht darauf eingeht, was diese aus grundrechtlichen Erwägungen noch regeln sollte. Die vom GA im Konjunktiv formulierte (z.B. Rz. 136) Annahme, dass die «Nebenziele» der Strafverfolgung den Eingriff rechtfertigen können, ist daher ohne Konkretisierung durch den Unionsgesetzgeber nicht mehr als eine Arbeitshypothese, deren Bestätigung einer allfälligen Reparatur der VDS-RL voranzugehen hätte.

[23]

Nur skizzenhaft und teilweise widersprüchlich bleibt die Auseinandersetzung des GA mit der Frage der Verhältnismäßigkeit i.e.S. Willkürlich erscheint zunächst, dass nach Ansicht des GA die Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung im Hinblick auf das «Endziel» (Strafverfolgung) ohne weiteres gerechtfertigt werden könne, obwohl er selbst eingesteht, dass die Maßnahme im Hinblick auf das die Kompetenzgrundlage der EU vermittelnde «Primärziel» (Binnenmarktharmonisierung) als gescheitert zu sehen ist.38 Der GA postuliert die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung und stützt sich dabei ohne nähere Auseinandersetzung primär auf den Evaluierungsbericht der Kommission aus dem Jahr 201139. Außerdem geht der GA beinahe ausschließlich auf Art. 7 GRC ein und lässt die anderen materiellen Rechte, auf die sich die Fragestellung und die Bedenken des VfGH beziehen (Art 8 und 11 GRC) außer Acht, obwohl er selbst eingangs feststellt, dass ein Eingriff in Art. 8 GRC vorliegt (Rz 58) und durch das «diffuse Gefühl des Überwachtwerdens» auch ein Eingriff in die Meinungs(äußerungs)freiheit anzunehmen ist (Rz. 52). Die Reduktion der Grundrechtsprüfung auf den Kernbereich des Art. 7 GRC ist nicht nachvollziehbar40 und problematisch. Neben der individualen Ebene des Privatlebens liegt die Begründung für den Eingriff in die Meinungsfreiheit nämlich gerade auf einer kollektiven Ebene. Die einzigartige Streubreite des Grundrechtseingriffs führt zu einem «Chilling-Effekt»41 gerade bei der Ausübung von politischen Partizipationsgrundrechten, der ein schwerwiegendes Risiko für eine demokratische Gesellschaft bedeutet, das in die jede Verhältnismäßigkeitsprüfung unbedingt einzubeziehen ist.

[24]

Beachtenswert ist auch die Begründung seines Vorschlags, die Wirkungen der Feststellung der Ungültigkeit der Richtlinie bis zur «Reparatur» auszusetzen. Die «Relevanz und sogar die Dringlichkeit der Endziele der betreffenden Grundrechtseinschränkung stünden außer Frage» und die Gründe für die Feststellung der Ungültigkeit seien «von besonderer» Art, denn einerseits könnten die fehlenden Garantien bereits im Rahmen der nationalen Umsetzungen durch die Mitgliedstaaten korrigiert worden sein, und andererseits hätten die Mitgliedstaaten «ihre Befugnisse hinsichtlich der Höchstdauer der Vorratsdatenspeicherung im Allgemeinen maßvoll ausgeübt» (Rz. 157). Eine Orientierung hierzu bietet auch das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts42, mit dem die nationale Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung aufgehoben wurde, ohne eine Frist für eine (grundsätzlich als möglich skizzierte) Reparatur zu geben, wobei dort sogar die Löschung aller bisher gespeicherten Daten angeordnet wird.

4.

Die Schlussanträge als hypothetische Entscheidung – Auswirkungen im nationalen Ausgangsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof ^

[25]
Bei einer Aufhebung der Richtlinie durch den Gerichtshof hängt es stark von der Begründung dieser Aufhebung ab, ob die österreichische Umsetzung jenen Kriterien entspricht, die der Gerichtshof – falls er insofern dem GA folgt – für eine grundrechtskonforme Gestaltung einer allenfalls neuen Richtlinie aufstellen würde. Daraus könnte sich ergeben, dass der VfGH für die innerstaatliche Entscheidung einen Spielraum erhält, die VDS in Österreich aufrechtzuerhalten und beispielsweise nur bezüglich der Zweckbindung den Anträgen zu folgen.
[26]

Angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung im Juli 2013 in Luxemburg besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass der EuGH weiter geht als die Schlussanträge des GA und die VDS schon dem Grunde nach mit der Grundrechtecharta für unvereinbar hält. In der Folge wäre auch der VfGH an diese Rechtsansicht gebunden und hätte sodann den Anträgen auf Aufhebung der österreichischen Umsetzung stattzugeben. Allerdings ist die verfassungs- und europarechtliche Begründung hierfür weder trivial noch unumstritten. Zunächst einmal würde durch eine Aufhebung der Richtlinie 2006/24/EG auch die mit dieser RL bewirkte Änderung der «Datenschutz-Richtlinie für elektronische Kommunikationsdienste» 2002/58/EG wegfallen.43 Das würde bedeuten, dass auch das Gebot gemäß Art. 6 Abs. 1 RL 2002/58/EG wieder gilt, wonach Verkehrsdaten «zu löschen oder zu anonymisieren [sind], sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden». Allerdings normiert Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG ausdrücklich den Spielraum der Mitgliedstaaten, von dieser Löschungsverpflichtung u.a. für Zwecke der nationalen Sicherheit sowie der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten gesetzliche Ausnahmen vorzusehen und eine Speicherung von Verkehrsdaten für die genannten Zwecke für eine begrenzte Zeit vorzuschreiben. Auch eine solche nationale Vorratsdatenspeicherung muss den «in Artikel 6 Absätze 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsätzen» entsprechen. Zu diesen Grundsätzen zählen seit dem Vertrag von Lissabon insbesondere die EU GRC und deren Auslegung durch den EuGH. Wenn also der EuGH die RL 2006/24/EG deshalb für nichtig erklärt, weil er die Idee einer verdachtsunabhängigen Vorratsdatenspeicherung für grundsätzlich unvereinbar mit der GRC hält, dann wirkt dies auch auf eine nationale VDS gestützt auf die Ausnahme des Art. 15 Abs. 1 RL 2002/58/EG zurück. Die Regelung des Art. 15 Abs. 1 2002/58/EG zeigt außerdem44 eindeutig, dass eine rein nationale VDS im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt45 und daher die im Primärrecht verankerte GRC und ihre Interpretation durch den EuGH zu beachten ist.

[27]

Rechtsdogmatisch bestehen auf innerstaatlicher Ebene verschiedene Varianten, das Problem verfassungsrechtlich zu begreifen. Eine Variante hat der VfGH gezeigt,46 indem er die von der GRC garantierten Rechte als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte i.S.d. Art. 144 bzw. Art. 144a B-VG sieht, die im Anwendungsbereich des Unionsrechts einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle nach Art. 139 und Art. 140 B-VG darstellen.

[28]

Jedoch ist die Konstruktion, die GRC kurzerhand zum innerstaatlichen Verfassungsrecht zu befördern, weder dogmatisch unumstritten47 noch auf andere Mitgliedstaaten einfach übertragbar. Ein anderer Lösungsansatz wäre daher, die Frage schlicht über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu lösen. Das heißt, dass eine allenfalls (noch) bestehende nationale VDS möglicherweise zwar nicht dem nationalen Grundrechtsmaßstab widerspricht, jedoch als unionsrechtswidrige Vorschrift – siehe die Begründung über Artikel 15 RL 2002/58/EG – unangewendet bleiben muss.48 In dieser Variante bleibt die Rechtsunsicherheit für Anbieter bestehen, ob sie nun speichern müssen oder dies gar nicht dürfen, solange kein nationales (Höchst-)Gericht diesen Anwendungsvorrang ausdrücklich judiziert.

[29]
Ein dritter Ansatz könnte sein, den Konflikt über die Günstigkeitsklauseln in den verschiedenen Grundrechtsgarantien aufzulösen. Art. 51 Abs. 1 GRC lässt sich dazu zunächst für die nationale Ebene nicht fruchtbar machen, weil hier nur die «andere Richtung» geregelt ist, also dass günstigere nationale Grundrechtsgarantien den allenfalls weniger günstigen Unionsgrundrechten vorgehen. Fraglich ist, welche Rückwirkung auf die nationale Ebene hierbei das Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK hat. Klar ist damit jedenfalls, dass der EGMR, falls auch dieses Gericht über die VDS zu befinden hätte, keine ungünstigere Rechtsansicht judizieren dürfte. Daher erscheint die Rechtsansicht vertretbar, dass die Mitgliedstaaten der EMRK dies zu antizipieren haben, selbst wenn der EGMR noch kein konkretes Urteil dazu gefällt hat. Folglich müssten die Staaten, so sie die EMRK nicht wie Österreich im Verfassungsrang verankert haben, im Wege der völkerrechtskonformen Interpretation der nationalen Grundrechte auf Basis der EMRK ebenfalls die VDS als grundrechtswidrig qualifizieren.

5.

Schlussfolgerungen und Ausblick ^

[30]
Die Kernaussagen aus dem Gutachten des Generalanwalts sind im Wesentlichen, dass die VDS schon auf europäischer Ebene detaillierter zu regeln wäre und die maximale Speicherdauer auf weniger als ein Jahr verkürzt werden sollte. Eine grundsätzliche Unvereinbarkeit des Konzepts der Vorratsdatenspeicherung mit den Garantien der EU Grundrechtecharta ortet der GA aber nicht, die Kritik richtet sich vielmehr auf die Art der Gestaltung durch den Unionsgesetzgeber. Dabei solle bis zu einer entsprechenden Reparatur die Richtlinie in Kraft bleiben. Die Behandlung der heiklen Fragen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wird im Gutachten aber weitgehend ausgespart.
[31]
Der Verlauf der mündlichen Verhandlung lässt aber durchaus erwarten, dass die endgültige Entscheidung des EuGH über die Anträge des GA hinausgehen wird. Ob eine Aufhebung der Richtlinie auch zwingend bedeutet, dass die in Umsetzung der VDS-RL bereits erlassenen innerstaatlichen Normen aufzuheben sind, hängt wesentlich davon ab, wie der Gerichtshof eine allfällige Aufhebung begründen wird. Sollte trotz Aufhebung der Richtlinie durch den EuGH die nationale Vorratsdatenspeicherung nach der endgültigen Entscheidung des VfGH im innerstaatlichen Verfahren dennoch Bestand haben, stünde den AntragstellerInnen des Ausgangsverfahrens der Beschwerdeweg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als letzte rechtliche Etappe offen.
[32]
Darüber hinaus ist das Problem der Vorratsdatenspeicherung nicht allein ein rechtliches sondern ein gesellschaftspolitisches. Daher besteht die Hoffnung, dass im Falle einer Aufhebung der Richtlinie, selbst wenn die Entscheidung eine Reparatur zuließe, eine breite und transparente rechtspolitische Debatte einen neuen Weg für die notwendige Balance zwischen Sicherheit und Freiheit beschreiten würde.

 

Walter Hötzendorfer

Projektassistent, Arbeitsgruppe Rechtsinformatik (DEICL/AVR), Universität Wien

Schottenbastei 10-16/2/5, 1010 Wien, AT

walter.hoetzendorfer@univie.ac.at; http://rechtsinformatik.univie.ac.at
 

Christof Tschohl

Wissenschaftlicher Leiter, Research Institute AG & Co KG – Zentrum für digitale Menschenrechte

Amundsenstraße 9, 1170 Wien, AT

christof.tschohl@researchinstitute.at; http://researchinstitute.at
 

Christof Tschohl war sowohl an einer möglichst grundrechtsschonenden Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung (als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte [BIM] im Auftrag des BMVIT) als auch an der Ausarbeitung der Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung in Österreich (als Gründungs- und Vorstandsmitglied des AKVorrat Österreich) maßgeblich beteiligt. Die Prämisse war dabei stets, dass die Verletzung von Grundrechten durch die verdachtsunabhängige vorrätige Speicherung des Kommunikationsverhaltens der gesamten Bevölkerung selbst durch die vorsichtigste Umsetzung irreversibel ist. Zum Entwurf des BIM siehe Otto/Seitlinger, Zur Umsetzung der Data Retention-Richtlinie. Der Begutachtungsentwurf des Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010, Medien und Recht 2/10, 59.

 


 

  1. 1 Zu den Details der Entstehungsgeschichte der Richtlinie siehe den Entwurf des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte für eine TKG-Novelle 2010, 1 ff., online unter http://bim.lbg.ac.at/files/sites/bim/BIM-Entwurf%20TKG-Novelle%202010.pdf (20. Januar 2014).
  2. 2 Art. 5 Abs. 1 lit. a VDS-RL, konkret die Rufnummern oder die Benutzerkennung, zum Internet-Zugang die Internetprotokoll-Adresse (IP-Adresse), jeweils zum Zeitpunkt der Nachricht mit Name und Anschrift des Teilnehmers.
  3. 3 Art. 5 Abs. 1 lit. b VDS-RL, konkret wie Fn. 3.
  4. 4 Art. 5 Abs. 1 lit. c VDS-RL, konkret Datum und Uhrzeit des Beginns und Endes eines Kommunikationsvorgangs sowie Datum und Uhrzeit der An- und Abmeldung bei Internetzugangsdiensten, Internet-Telefonie-Diensten und Internet-E-Mail-Diensten.
  5. 5 Art. 5 Abs. 1 lit. d VDS-RL, konkret die Art des in Anspruch genommenen Kommunikationsdienstes.
  6. 6 Art. 5 Abs. 1 lit. e VDS-RL, konkret die Rufnummer bei Festnetz-Telefonie, die IMSI und die IMEI bei Mobilfunk sowie bei Internet-Diensten die digitale Teilnehmerkennung (DSL).
  7. 7 Art. 5 Abs. 1 lit. f VDS-RL, konkret die «Cell-ID» bei Mobilfunk sowie entsprechende Aufzeichnungen, um die so identifizierte Funkzelle auf bestimmte Geokoordinaten zurückzuführen.
  8. 8 Vgl. dazu ausführlich Tschohl, Die Anonymität im Internet – Umsetzung der Vorratsdatenspeicher-RL im österreichischen Telekom-, Strafprozess- und Sicherheitspolizeirecht, in: Jaksch-Ratajczak/Stadler (Hg.), Aktuelle Rechtsfragen der Internetnutzung, Band 2, Wien (2011), 350 ff.
  9. 9 Kundgemacht am 18. Mai 2011 durch BGBl. I Nr. 27/2011.
  10. 10 StPO-und SPG-Novellen wurden gemeinsam beschlossen und am 20. Mai 2011 kundgemacht, BGBl. I Nr. 33/2011.
  11. 11 Z.B. verlangt die österreichische Umsetzung keine Speicherung von Ports (bei NAT) oder E-Mail-Alias-Adressen.
  12. 12 Art. 6 VDS-RL gibt den Mitgliedstaaten einen Spielraum von mindestens sechs Monaten und höchstens zwei Jahren.
  13. 13 Siehe dazu § 76a Abs. 2 StPO.
  14. 14 Gemäß § 53 Abs. 3a SPG insb. zur Abwehr gefährlicher Angriffe (§ 16 SPG), das heißt in Bezug auf alle gerichtlich strafbaren Handlungen außer geringfügigen Suchtmittelvergehen zum Eigenbedarf sowie reine Privatanklagedelikte; dies gilt auch für Telefon-Verbindungsdaten, wenn der angerufene Teilnehmer und der Zeitpunkt der Kommunikation bekannt sind.
  15. 15 Betrifft den in der Praxis wichtigsten Fall des § 135 Abs. 2 Z 3 StPO.
  16. 16 Betrifft den ebenfalls praktisch relevanten, wenngleich weniger häufigen Fall des § 135 Abs. 2 Z 4 StPO; daneben besteht noch der Fall des § 135 Abs. 2 Z 2 StPO, der schon bei einer Strafdrohung von mehr als sechs Monaten anwendbar ist, sofern einer der Kommunikationsteilnehmer ausdrücklich zustimmte (typisch bei «Stalking» i.S.d. § 107a StGB).
  17. 17 Einen «Etikettenschwindel» birgt insofern § 102b TKG, der eine Ermittlung von Vorratsdaten zur «Aufklärung und Verfolgung von Straftaten, deren Schwere eine Anordnung nach § 135 Abs. 2a StPO rechtfertigt», zulässt – hier kommen die Worte «Schwere» und «Straftaten» vor, ohne dadurch den Begriff «schwere Straftaten» einzuführen.
  18. 18 Präzise handelt es sich um Anträge gemäß Art. 140 B-VG, auf deren Grundlage der Verfassungsgerichtshof eine abstrakte Normenkontrolle durchführen kann/muss. Während eine Landesregierung tatsächlich abstrakt antragsbefugt ist, müssen Individuen nachweisen, dass sie durch die angefochtenen Normen unmittelbar und aktuell in ihren Rechten verletzt, also nicht nur wirtschaftlich nachteilig betroffen sind (sog. Individualanträge).
  19. 19 Diese wurde praktisch mit einem Budget von wenigen 100 Euro und viel ehrenamtlicher Arbeit geführt.
  20. 20 Zahl aus veröffentlichten Verfahrensdokumenten von Verfassungsklage.at: 11.130, darunter Walter Hötzendorfer, der auch in die Ausarbeitung der Anträge involviert war, minus genanntem Erst-Bf.
  21. 21 Insbesondere §§ 102a, 102b und 102c TKG sowie die Ausnahmebestimmungen des § 99 Abs. 5 TKG zur Verwendung von Vorratsdaten auch für den Bereich der Gefahrenabwehr nach dem SPG.
  22. 22 Im Detail sind die Anfechtungsgegenstände nachzulesen im Schriftsatz zum Individualantrag des AKVorrat, online unter http://www.verfassungsklage.at/ (21. Januar 2014).
  23. 23 Siehe im Detail den Schriftsatz zum Individualantrag des AKVorrat (IA-AKV), Kapitel VI (Anträge), 45 ff., online unter: http://www.verfassungsklage.at/files/120615_IA_VDS_Konsolidierte_Fassung.pdf. Im Einzelnen werden ein Hauptantrag und neun Eventualanträge gestellt. Diese Verschachtelung ist notwendig, weil nach Art. 140 B-VG präzise die jeweilige Wortfolge einer Norm zu bezeichnen ist, deren Aufhebung den verfassungswidrigen Zustand beendet. Es darf nicht zu viel und nicht zu wenig angefochten werden, die nach einer Aufhebung verbleibende «Rumpfnorm» muss außerdem weiterhin sinnvoll sein und den intendierten Zweck erfüllen. Daher ist die Anfechtung von korrespondierenden Normen mit wechselseitigen Verweisen in der Praxis eine rechtstechnisch spannende Herausforderung.
  24. 24 Schriftsatz zum IA-AKV, Kapitel VI.11, 51.
  25. 25 VfGH 14. März 2012, U 466/11 u.a. begründet die Gleichstellung der GRC im Stufenbau mit dem Äquivalenzprinzip.
  26. 26 Rechtssache C-293/12, Digital Rights Ireland Ltd. sowie Rechtssache C-594/12, Michael Seitlinger u.a.
  27. 27 VfGH-Presseinformation, 18. Dezember 2012 zu G 47/12 u.a., http://www.vfgh.at/cms/vfgh-site/attachments/4/0/5/CH0004/CMS1363699553901/vorratsdatenspeicherung_vorlagebeschluss_ presseinformation.pdf (22. Januar 2014).
  28. 28 Vorlagebeschluss des VfGH zu G 47/12 u.a., 27 f., http://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-site/attachments/5/9/4/CH0007/CMS1363700023224/vorratdatenspeicherung_vorlage_eugh_g47-12.pdf (22. Januar 2014).
  29. 29 Ibid.
  30. 30 Konkrete Fragen des EuGH und die Stellungnahme des AKVorrat sind online unter http://akvorrat.at/node/80 (22. Januar 2014).
  31. 31 Eine Zusammenfassung aus erster Hand bieten Lohninger/Tschohl, Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung: Europäischer Gerichtshof sucht rote Linie der Überwachung, Beitrag vom 16. Juli 2013 auf https://netzpolitik.org/2013/uberwachung-die-suche-nach-der-roten-linie/ (22. Januar 2014) mit Hinweis auf den von Thomas Lohninger für Netzpolitik.org geführten Live-Ticker zur Verhandlung unter https://netzpolitik.org/2013/live-ticker-vom-eugh-verfahren-gegen-die-vorratsdatenspeicherung/ (22. Januar 2014).
  32. 32 Zitiert nach Mayer, Vorratsdaten: EuGH lässt Zweifel an Richtlinie aufkommen, Beitrag vom 9. Juli 2013 auf http://derstandard.at/1371172127883/Vorratsdaten-EuGH-laesst-Zweifel-an-Richtlinie-aufkommen (20. Januar 2014).
  33. 33 Schlussanträge des Generalanwalts Pedro Cruz Villalón vom 12. Dezember 2013, Rechtssache C-293/12.
  34. 34 Bewertungsbericht der EU Kommission zur Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung (Richtlinie 2006/24/EG), KOM(2011) 225 endgültig, Brüssel, 18. April 2011; zur methodischen und inhaltlichen Kritik an diesem Bericht siehe den «Shadow evaluation report on the Data Retention Directive (2006/24/EC)» vom 17. April 2011 der European Digital Rights (EDRi) unter http://www.edri.org/files/shadow_drd_report_110417.pdf (22. Januar 2014).
  35. 35 EuGH, Rs. C-301/06, Rz. 83.
  36. 36 Kunnert, Das Ende der Vorratsdatenspeicherung?, DuD 2014 Heft 2, Abschn. 2.4.2.2 nach Fn. 39, zeigt die fehlende Plausibilität dieser Argumentation auf und kommt zum Ergebnis, dass «jede die Vorratsdatenspeicherung betreffende, ausschließlich auf die Binnenmarktkompetenz gestützte, Rechtsetzungsaktivität außer Betracht zu bleiben hätte» (Fn. 43).
  37. 37 EuGH 10. Februar 2009, Rs. C-301/06, Rz. 83.
  38. 38 Kunnert, (Fn. 36), spricht hier zu Recht von einem «Kunstgriff» (Abschn. 2.4.4) bzw. von «Willkür» (Abschn. 2.5.4).
  39. 39 KOM (2011) 225 endgültig vom 18. April 2011.
  40. 40 So bereits Kunnert (Fn. 36) Abschn. 2.2.2, der insbesondere daran erinnert, dass Art. 8 GRC auch einen Ermittlungsschutz gewährt und somit bereits im «Vorfeld» einer tatsächlichen Datenerhebung Wirkung entfaltet.
  41. 41 Diesbezüglich gab es auch konkrete Fragen aus der Richterbank, siehe den Live-Ticker zur Verhandlung, Fn. 34.
  42. 42 BVErfG Urteil vom 2. März 2010, 1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08.
  43. 43 Im Detail ist die Gestaltung äußerst kompliziert, weil durch RL 2006/24/EG ein Abs. 1a) in Art. 15 RL 2002/58/EG eingefügt wird, der wiederum die Ausnahmeregelung des Art. 15 Abs. 1 2002/58/EG in Bezug auf Daten, die der Vorratsdatenspeicherung nach der RL 2006/24/EG unterliegen, für unanwendbar erklärt.
  44. 44 Also auch ohne den Verweis des Art. 15 Abs. 1 auf Art. 6 EUV.
  45. 45 Vgl. EuGH 18. Juni 1991, Rs. C-260/89, ERT. Aus EuGH 26. Februar 2013, Rs. C-617/10, Fransson ergibt sich, dass die ERT-Judikatur auch für die Frage gilt, wann eine Grundrechtsbeschränkung in «Durchführung des Unionsrechts» stattfindet.
  46. 46 VfGH 14. März 2012, U 466/11 u.a.
  47. 47 So begrüßenswert dies im Ergebnis für den Grundrechtsschutz auch sein mag – es ist jedoch zu bedenken, dass es hier auch ganz real um das sensible Machtgefüge zwischen VfGH und OGH geht!
  48. 48 Siehe zum Anwendungsvorrang die Leitentscheidung EuGH 5. Februar 1963, Rs. C-301/06, Van Gend en Loos.