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Wie trägt das deutsche Gesetz zur Förderung des Elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten zur Transparenz in der Kommunikation mit der Justiz bei?

  • Authors: Michael Tonndorf / Jochen Stüber
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: E-Justice
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Michael Tonndorf / Jochen Stüber, Wie trägt das deutsche Gesetz zur Förderung des Elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten zur Transparenz in der Kommunikation mit der Justiz bei?, in: Jusletter IT 20 February 2014
Am 16. Oktober 2013 ist in Deutschland das «Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten», kurz auch ERV-Gesetz genannt, in Kraft getreten. Es revolutioniert schrittweise die Kommunikation in der Justiz durch eine Anwendungspflicht des ERV für Rechtsanwälte und weitere Maßnahmen, die hier zusammenfasst und bewertet werden. Anschließend wird das Gesetz bezüglich seiner Auswirkungen auf die Transparenz in der Kommunikation mit den Gerichten untersucht. Dabei werden die wichtigsten Maßnahmen herausgegriffen und ihre Wirkungsweise im Hinblick auf Verfahrens-, Register- und allgemeine Systeminformationen skizziert.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Das ERV-Gesetz
  • 1.1. Neuerungen
  • 1.2. Kritik
  • 1.3. Einordnung in den Kontext der Verwaltungsmodernisierung
  • 2. Konzept und Bedeutung von Transparenz
  • 2.1. Dimensionen des Transparenzkonzepts
  • 2.2. Begründung der Forderung nach Transparenz
  • 2.2.1. Transparenz und Demokratie
  • 2.2.2. Transparenz und Rechtsstaat
  • 3. Transparenz im ERV-Gesetz
  • 3.1. Verfahrensbezogene Informationen
  • 3.1.1. Inhaltliche Dimension
  • 3.1.2. Prozessuale Dimension
  • 3.2. Register- und Archivinformationen
  • 3.3. Allgemeine Justizinformationen
  • 3.4. Informationsübergreifend: Barrierefreiheit
  • 4. Fazit
  • 5. Weiterführende Literatur

1.

Das ERV-Gesetz ^

1.1.

Neuerungen ^

[1]

Mit der Zustimmung des deutschen Bundesrates am 5. Juli 2013 war der Weg frei für das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten, nachdem es am 13. Juni 2013 den Deutschen Bundestag passiert hatte. Am 16. Oktober 2013 ist es im Bundesgesetzblatt verkündet worden.1 Das Gesetz läutet die Ablösung der papiergebundenen Justizkommunikation durch den elektronischen Rechtsverkehr (ERV) ein, also dem sicheren, rechtlich wirksamen Austausch elektronischer Dokumente. Im Folgenden werden die wichtigsten Neuerungen kurz zusammengefasst.

  • Bis 1. Januar 2016 wird ein Anwaltspostfachverzeichnis für alle deutschen Rechtsanwälte durch die Bundesrechtsanwaltskammer errichtet. Die in dieses oder von diesem Postfach versandte Post wird auch ohne qualifizierte elektronische Signatur als rechtsgültig anerkannt und erhält damit Vertrauensschutz im Sinne der Fiktion der Schriftformwahrung. Zugleich wird auch die rechtssichere Kommunikation zwischen Anwälten und anderen am Rechtsleben Beteiligten ermöglicht, die ebenfalls über ein elektronisches Postfach verfügen.
  • Nach neuer Rechtslage können identische Postfachdomänen nämlich auch für andere professionelle Rechtsvertreter geschaffen werden. Dies betrifft Steuerberater, Rechtssekretäre der Gewerkschaften, Sozialverbände, Inkassounternehmen und vor allem die Rechtsvertreter der Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts.
  • Ab spätestens 1. Januar 2022 wird der elektronische Rechtsverkehr alleiniger und rechtsverbindlicher Kommunikationsweg der Mitglieder der privilegierten Postfachdomänen in dem Sinne, dass ab dann die konventionelle Briefpost die prozessualen Schriftformerfordernisse nicht mehr wahrt. Dies ist gleichzusetzen mit einer Digitalisierung des Nachtbriefkastens der Justiz.
  • Ab diesem Zeitpunkt wird zudem die De-Mail in der Variante der absenderbestätigten De-Mail zu einem gesetzlich zugelassenen zusätzlichen Kommunikationsweg.
  • Im Sinne der Zukunfts- und Technikoffenheit können weitere bundeseinheitliche sichere Übermittlungswege durch Rechtsverordnung des Bundes mit Zustimmung des Bundesrates zugelassen werden.
  • Die elektronische Zustellung an sogenannte professionelle Einreicher ist durch ein elektronisches Empfangsbekenntnis abzusichern, das willentlich zurückzusenden ist. Es wird also keine Zustellfiktion erzeugt.
  • Gescanntes Papier ist sechs Monate nach Eingang zu vernichten, was den Transfer von Papierdokumenten in die elektronische Form vereinfacht. Damit entfällt die Verpflichtung zur dauerhaften Führung einer hybriden Papierakte.
  • In Zukunft kann Akteneinsicht umfassend und rechtsverbindlich auch elektronisch gewährt werden.
  • Für gescannte Dokumente und De-Mail-Posteingänge werden Beweisregeln eingeführt.
  • Es wird ein länderübergreifendes elektronisches Schutzschriftenregister im Internet geschaffen, dessen Nutzung für Anwälte und Gerichte verpflichtend ist. Damit entfällt die Notwendigkeit, Schutzschriften an allen denkbaren Gerichtsständen einzureichen.
[2]
Das Gesetz sieht ein Übergangsszenario vor, sowie eine Zeitschiene der schrittweisen Umsetzung:
  • Bis zum 1. Januar 2016 ist die Postfachdomäne der Anwaltschaft einzurichten.
  • Zum 1. Januar 2018 ist die Empfangsbereitschaft aller Gerichte herzustellen. Im Rahmen einer kollektiven «Opt-Out-Klausel» kann diese Verpflichtung noch um zwei Jahre hinausgeschoben werden.
  • Am 1. Januar 2022 ist der Schlusstermin der Übergangsphase erreicht: Der elektronische Rechtsverkehr ist von diesem Tag an verpflichtender und einziger Kommunikationsweg zwischen Anwaltschaft und deutscher Justiz, unter Umständen auch im Verhältnis zu weiteren noch zu schaffenden Postfachdomänen.
  • Die Landesjustizverwaltungen erhalten hierbei die Möglichkeit, das Inkrafttreten auf den 1. Januar 2020 oder auf den 1. Januar 2021 für jedes Land und jede Gerichtsbarkeit separat vorzuverlegen (sog. «Opt-In»).

1.2.

Kritik ^

[3]
Von verschiedenen Seiten ist die Tatsache kritisiert worden, dass sich aus dem Gesetz keine Auswirkungen auf die Verfahrensvorschriften der Strafgerichtsbarkeit ergeben. Ein Grund für dieses Ausklammern ist nicht ersichtlich. Es sollte daher zeitnah ein zusätzliches Gesetz für diesen Bereich folgen. Eine entsprechende Initiative des Bundesministeriums der Justiz ist allerdings bereits auf dem Weg.
[4]
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Fehlen einer expliziten Verpflichtung zur elektronischen Aktenführung. Die Regelungen im ERV-Gesetz binden primär justizexterne Akteure in Hinblick auf die Übermittlung von Schriftsätzen und sonstigen Informationen an die Gerichte. Es ist zwar eine logische Konsequenz, dass elektronische Eingänge bei den Gerichten innerhalb der Gerichte auch in elektronischer Form weiterbearbeitet werden sollten. Hierzu macht das ERV-Gesetz jedoch keine Aussagen, da die weitere Bearbeitung der Akte in elektronischer Form durch die Gerichte nicht verbindlich geregelt ist. Für Berlit «sprechen die besseren Gründe dafür, dass eine als führend vorgesehene elektronische Akte auch ohne ausdrückliche Anordnung durch die in der Justiz Tätigen zu benutzen ist»2 Demnach bestände dann kein grundsätzlicher Anspruch auf einen Medientransfer in die Papierform. Schließlich sind Bekanntmachungen und Veröffentlichungen im Internet nicht durch das ERV-Gesetz vorgesehen. Die Gerichtstafel wird es also zunächst trotz mangelnder Zeitmäßigkeit weiterhin geben.

1.3.

Einordnung in den Kontext der Verwaltungsmodernisierung ^

[5]
Im allgemeinen Bereich der Verwaltungsmodernisierung, der alle Organisationen und Prozesse im öffentlichen Sektor umfasst, kann das ERV-Gesetz dem Teilbereich E-Justice zugeordnet werden. Unter diesem Begriff wird der IT-Einsatz in justiziellen Verfahren und in der Außenkommunikation von Justizverfahren zusammengefasst.
[6]

Modernisierungsmaßnahmen mit Außenwirkung können weiterhin nach ihrem zugrundeliegenden Interaktionsparadigma klassifiziert werden. Dabei kommen gewöhnlich die Stufen Information, Kommunikation, Transaktion und Integration zur Anwendung.3 Das ERV-Gesetz bewegt sich primär auf der Ebene der Kommunikation.

[7]

Dabei kann weiter unterschieden werden, welche Akteure interagieren. Im Fall des ERV-Gesetzes sind zunächst alle der drei Ebenen Bund, Länder und Kommunen betroffen, sowie jede der Kommunikationsbeziehungen G2G (Government4 to Government), G2B (Government to Business) und G2C (Government to Citizen). Die Kategorien sind hier im bidirektionalen Sinne zu verstehen. Die Kategorie der Kommunikation nicht-staatlicher Teilnehmer am Rechtsverkehr untereinander ist zwar ebenfalls von großer Relevanz, aber nicht direkt Teil der Verwaltungsmodernisierung.

[8]
Im Hinblick auf (Geschäfts-) Prozesse sind neben der rechtswirksamen Kommunikation auch die Aktenführung und die hoheitliche Aufgabe der Registerführung zu nennen.
[9]
Bezüglich der tangierten Daten sind alle Dokumente betroffen, die aktuell Gegenstand der Justizkommunikation und der Aktenführung sind, also vor Allem vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen, schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Parteien und schriftlich einzureichende Auskünfte, Aussagen, Gutachten, Übersetzungen und Erklärungen Dritter. Dazu kommen die Metainformationen über den Verfahrensstand.

2.

Konzept und Bedeutung von Transparenz ^

2.1.

Dimensionen des Transparenzkonzepts ^

[10]
In Anlehnung an die von der Konferenzleitung gewählte Definition wird hier von Transparenz gesprochen, wenn Informationen verfügbar, sichtbar und nachvollziehbar sind. Dabei sind allerdings weitere Aspekte von Bedeutung.
[11]
Zum einen sind Subjekt und Objekt der Transparenz zu klären. Informationen über was sollen für wen verfügbar, sichtbar und nachvollziehbar sein? Bezogen auf das Objekt der Transparenz kann eine Menge an Informationen definiert werden, bei deren Offenlegung vollständige Transparenz gewährleistet wäre. Im Hinblick auf das Subjekt kann ein Personenkreis identifiziert werden, der als Zielgruppe der Transparenz angesehen wird. Abhängig vom Anteil der Informationsmenge und dem Anteil der Zielgruppe, für die Transparenz gilt, kann von quantitativer Transparenz gesprochen werden. Zudem liegen in der Regel keine binären Ausprägungen der drei Transparenzdimensionen (Verfügbarkeit, Sichtbarkeit, Nachvollziehbarkeit) vor. Hier sind die Aspekte von Kosten und Zeit von Interesse. Zeit spielt eine große Rolle im Hinblick auf die Zeitspanne, die vergeht, bis eine Information transparent wird, sowie im Sinne der zeitlichen Aufwendung, die notwendig ist, um sich Zugang zu Informationen zu verschaffen. In Anlehnung an einen geläufigen Ausspruch gilt auch hier: transparency delayed is transparency denied. Eng verbunden mit dem zeitlichen Aspekt ist auch die Frage nach den Kosten der Informationsbeschaffung, wobei hier eine breite Auslegung des Kostenbegriffs verwendet wird. Abhängig von den Zeit- und Kostenaspekten kann auch von qualitativer Transparenz gesprochen werden.

2.2.

Begründung der Forderung nach Transparenz ^

2.2.1.

Transparenz und Demokratie ^

[12]
In demokratischen Systemen wird der Transparenz eine Vielzahl positiver Funktionen zugesprochen. Eine verbreitete Auflistung ihrer Kernfunktionen definiert diese als:
  • Ermöglichung von freier Willensbildung und Partizipation,
  • Anreiz zur Loyalität und Bürgernähe (Disziplinierungseffekt),
  • Ermöglichung von konstruktiver Kritik (Feedback-Funktion),
  • Verhinderung von Machtmissbrauch,
  • Stärkung des Vertrauens.
[13]
Essenziell geht es dabei in weiten Teilen um eine Befähigungsfunktion zum Verständnis von und zur Interaktion mit Systemen und um eine Kontroll- und Korrekturfunktion bezüglich des Handelns systeminterner Akteure. Die Forderung nach diesen beiden Funktionen leitet sich direkt aus den zwei Kernprinzipien des modernen Demokratiekonzeptes ab: der Volkssouveränität und der Rechtsstaatlichkeit. Vor dem Hintergrund der adressierten Fragestellung soll hier im Detail nur auf letztgenannten eingegangen werden.

2.2.2.

Transparenz und Rechtsstaat ^

[14]
Eine verbreitete Definition des Rechtsstaatsprinzips weist diesem folgende Bestandteile zu:
[15]
«Das Rechtsstaatsprinzip fordert von modernen Demokratien im Allgemeinen eine geschriebene Verfassung, in der die Staatsgewalten an das Recht gebunden sind, wie es vom Volk (Volkssouveränität) bzw. dessen Vertretern gesetzt wurde. Für das Rechtsstaatsprinzip sind damit die Gewaltenteilung und die Vorrangstellung der Verfassung sowie eine kontrollierende, unabhängige (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit charakteristisch, ferner der Vorrang von Recht und Gesetz, die garantierte Rechtssicherheit (insbesondere der Grundsatz, dass Recht nicht rückwirkend gelten darf) und der Rechtsschutz und die Garantie rechtliches Gehör vor unabhängigen Richtern zu bekommen.»5
[16]
Aus dieser Definition wird die Rolle der Rechtsprechung sowie eines allgemeinen Offenstehens des Rechtsweges als Gravitationszentren des Rechtsstaats ersichtlich. Durch sie werden die formalen Dimensionen des Rechtsstaats mit Realität und Leben gefüllt. Das Gerichtsverfahren und die dabei notwendige Kommunikation mit den Gerichten sind demnach von essenzieller Bedeutung für Gerechtigkeit und Demokratie. Der korrekte Ablauf des Verfahrens ist folglich absolut sicherzustellen, weshalb Transparenz im Sinne einer Kontroll- und Korrekturfunktion hier mit Nachdruck zu fordern ist. Allerdings helfen korrekte Abläufe nichts, wenn eine informierte Teilnahme am Gerichtsverfahren nicht allen Beteiligten möglich ist. Hierzu zählen sowohl allgemeine Informationen über Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten etc., als auch der Zugang zu verfahrensrelevanten Dokumenten, gebündelt in der Gerichtsakte. Generell ist im Sinne einer Befähigungsfunktion also der Transparenz dieser Informationen hohe Bedeutung beizumessen. Zuletzt kann der Transparenz abseits von diesen kritischen Funktionen auch eine schlichte Einsparung von Zeit und Kosten zugesprochen werden im Sinne einer Serviceleistung durch Informationsbereitstellung.
[17]
Unter den genannten Gesichtspunkten liegt die Versuchung nahe, einen generellen Transparenzimperativ zu postulieren, in dem Sinne, dass alle Justizdaten radikal offenzulegen sind. Derartige Ansätze werden im allgemeinen Regierungs- und Verwaltungskontext weitgehend unter den Begriffen Open Government und Open Data diskutiert. Generell wird hierbei allerdings auch anerkannt, dass besonders schutzbedürftige Daten (z.B. sicherheitskritische Daten, die Privatsphäre betreffende Daten) vom Transparenzgebot nicht tangiert werden sollten. Wendet man diese Güterabwägung auf die Justiz an, so wird deutlich, warum Open Justice auf Grundlage eines Öffentlichkeitsprinzips keine Lösung sein kann. Das Gros der Daten, die in der Justiz anfallen, ist höchst sensibel und personenbezogen und daher absolut zu schützen, auch und besonders im Kontext der elektronischen Informationsverarbeitung.
Typen von Informationen Zielgruppe
Verfahrensbezogene Informationen– Inhaltliche Dimension– Prozessuale Dimension Verfahrensbeteiligte
Register- und Archivinformationen Ein interessierter Teilbereich der Öffentlichkeit
Allgemeine Justizinformationen Die breite Öffentlichkeit
Tabelle 1: Informationsbereiche und Zielgruppen bei der Kommunikation mit den Gerichten
[18]
Vor diesem Hintergrund sind für die Kommunikation mit den Gerichten die Fragen nach Informationsbereich und der Zielgruppe in Hinblick auf Transparenz zu stellen. Tabelle 1 bietet einen Überblick der hier vorgenommenen Einteilung. Im nächsten Abschnitt werden die einzelnen Teilbereiche vor dem Hintergrund des ERV-Gesetzes genauer betrachtet.

3.

Transparenz im ERV-Gesetz ^

3.1.

Verfahrensbezogene Informationen ^

3.1.1.

Inhaltliche Dimension ^

Maßnahme im ERV-Gesetz: E-Akteneinsicht (bezieht auch prozessuale Dimension mit ein)

[19]
Das ERV-Gesetz ermöglicht die Führung einer elektronischen Akte und erhebt diese ab 2018 zudem zum Standard im Sinne einer Verpflichtung der Gerichte zur Empfangsbereitschaft, sowie einer (umstritten) daraus ableitbaren Nutzungsverpflichtung. Unabhängig von einer allumfassenden Nutzungsverpflichtung, wird eine Transparenzsteigerung durch die Einführung der elektronischen Akteneinsicht ermöglicht. Auch wenn gilt, dass der schriftliche Teil gerichtlicher Verfahren (für die Öffentlichkeit) strukturell intransparent ist, können Verfahrensbeteiligte dennoch über eine elektronische Akteneinsicht jederzeit den Bearbeitungsstand überprüfen. Demnach wird eine Kontrollfunktion gegenüber den Gerichten auch jenseits konkreter Sachstandsanfragen ermöglicht. Anwälte können Akten ohne längere Wartezeit einsehen und werden um die Mühe des rechtzeitigen Rückversands der Akten erleichtert. Gerichte gehen nicht mehr das Risiko ein, dass Originalakten unterwegs abhandenkommen und auch Bearbeitungspausen durch den Aktenversand erübrigen sich. Die Akten stehen durchgehend zur Bearbeitung zur Verfügung, wobei sich auch die Problematik der parallelen Einsicht in eine Akte durch mehrere Akteure erübrigt.
[20]
Im Bundesland Sachsen-Anhalt wurde die E-Akteneinsicht bereits realisiert. Ein qualifiziert signierter elektronischer Antrag muss dabei über das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) beim zuständigen Gericht eingereicht werden, das über denselben Übermittlungsweg dann dem Antragsteller ein Passwort bereitstellt, mit dem über ein Online-Portal Zugang zur E-Akte gewährt wird.

3.1.2.

Prozessuale Dimension ^

Maßnahme im ERV-Gesetz: Verfahrensstandabfrage

[21]
Durch die Digitalisierung von Kommunikation und Aktenführung sind auch Informationen über den Verfahrensstand implizit digital verfügbar und können automatisch zur Verfügung gestellt werden. Die Notwendigkeit einer gezielten Anfrage über andere Kanäle entfällt dadurch; die Anfrage wird so zeit- und ortsunabhängig.
[22]
Auch dieser Anwendungsfall ist in Sachsen-Anhalt bereits realisiert worden. Dort kann ein Account für die Verfahrensstandabfrage per Online-Formular beantragt werden. Nach dem Einloggen kann dann eine Übersicht über alle bei Gericht anhängigen Verfahren des Beteiligten eingesehen werden.

3.2.

Register- und Archivinformationen ^

[23]
Stellen Registerinformationen doch primär keine Kontroll- oder Befähigungsfunktion im bisher angesprochenen Sinne dar, so sind sie doch zu einem gewissen Grad als Serviceleistung für Interessierte zu sehen und erfüllen eine hoheitliche Aufgabe, die den Gerichten übertragen wurde. Konkret ist im ERV-Gesetz nur das Schutzschriftenregister relevant. Indem ERV und E-Akte allerdings eine zunehmende Digitalisierung von Informationen, Dokumenten und Prozessen katalysieren, wird im Sinne eines Ansteckungseffekts auch eine Ausweitung der Digitalisierung auf weitere Bereiche begünstigt.
[24]
In diesem Zusammenhang sind besonders die speziellen Registerportale zu nennen, die Informationen aus verschiedenen Registern im Interesse der Justizkunden zusammenführen. Durch die zusammenfassende Erschließung dezentral geführter Registerinformationen ermöglichen Registeranwendungen für die Nutzer einen qualitativen Informationsmehrwert. Diese Vorzüge einer hohen qualitativen Transparenz kommen allerdings nicht der allgemeinen Öffentlichkeit zu Gute, sondern einem kleineren Kreis von Interessierten, die monetäre und nicht monetäre Hemmnisse zu überwinden haben. Diese sind allerdings im Vergleich zur nicht elektronischen Auskunft signifikant gesunken.

Maßnahme im ERV-Gesetz: Das elektronische Schutzschriftenregister

[25]
Ein zentrales elektronisches Schutzschriftenregister für den Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes wird mit § 945a und b ZPO n. F. zum 1. Januar 2016 geschaffen. Damit wird eine Schutzschrifthinterlegung bei 116 Landgerichten mit einem Mausklick ermöglicht. Ab dem 1. Januar 2017 sind Anwälte verpflichtet, Schutzschriften nur noch über das elektronische Schutzschriftenregister einzureichen.

3.3.

Allgemeine Justizinformationen ^

[26]
In diesem Teilbereich wirkt das ERV-Gesetz gänzlich ohne direkte Maßnahmen, sondern wiederum in Form einer generellen Begünstigung und Förderung von Digitalisierung. Internetauftritte der Ministerien, einzelner Gerichte oder der Justiz insgesamt vermitteln zahlreiche Informationen über Aufgaben, Tätigkeiten und Ergebnisse justizieller Aufgabenerfüllung. Sie ermöglichen einen kostenfreien, allgemeinen Zugang zu Rechtsinformationen, zu Gesetzen und Entscheidungen. Ihre Zusammenfassung in Justizportalen integriert Informationen und erleichtert so den Zugang. Dies gilt sowohl für den nationalen Bereich als auch für den inter- und supranationalen.
[27]
Derartige Informationsportale ermöglichen es zudem, genauer und besser über die konkreten Aktivitäten eines Gerichts zu informieren, bei öffentlichkeitswirksamen Verfahren die Berichterstattung durch die Presse zu komplementieren und durch die zeitnahe Veröffentlichung von Entscheidungen auch interessierten Laien deren Grundlage und Inhalt aufwandsarm zugänglich zu machen.
[28]
Die Bedeutung von Internetauftritten der Justiz, insbesondere Justiz-Portale, ist sowohl in der qualitativen als auch in der quantitativen Transparenzdimension als hoch einzustufen. Die von ihnen vermittelten allgemeinen Systeminformationen sind besonders im Sinne der zuvor thematisierten Befähigungsfunktion von Transparenz von Bedeutung.

3.4.

Informationsübergreifend: Barrierefreiheit ^

[29]
Die Digitalisierung der Justizkommunikation bietet herausragende Potenziale für die Barrierefreiheit. Bei einer konsequenten Gewährleistung eines barrierefreien Informationszugangs kann ein enormer Transparenzgewinn für Menschen mit Sinneseinschränkungen erzielt werden.
[30]
Im ERV-Gesetz wird die Barrierefreiheit zwar als Verfahrensprinzip eingeführt. Mit § 191a GVG wird zum 1. Juli 2014 gewährleistet, dass Schriftsätze barrierefrei auch für Blinde und Sehbehinderte lesbar eingereicht werden können. Es fehlt allerdings eine konsequente Bekennung zur Barrierefreiheit im Sinne eines tragenden Grundsatzes. Dies birgt die Gefahr, die Barrierefreiheit nur in explizit genannten Fällen als verpflichtend anzusehen. Ihre Verankerung im Gerichtsverfassungsgesetz könnte diesen Missstand beheben.

4.

Fazit ^

[31]
Das ERV-Gesetz stellt einen Durchbruch in der Digitalisierung der Justiz in Deutschland dar, indem es das altpreußische Prinzip «Unterschrift, Stempel, Siegel» in die digitale Welt überführt.
[32]
Dabei werden erstmals verpflichtende Regelungen getroffen, sowie ein konkreter Zeitrahmen für die Umsetzung festgelegt.
[33]
In Hinblick auf die Transparenz ergeben sich konkrete Verbesserungen in verschiedenen Teilbereichen. Diese resultieren dabei insbesondere aus den Möglichkeiten, die die elektronische Aktenführung eröffnet. Zudem werden durch eine allgemeine Digitalisierungstendenz auch die generellen systemischen Voraussetzungen für Transparenz durch das Gesetz signifikant verbessert. Darin liegt ein großes Potenzial für weitere zukünftige Entwicklungen. Ein mögliches Hemmnis in diesem Kontext ist die Unsicherheit bezüglich der obligatorischen Verwendung der E-Akte. Hier muss noch eine klare Lösung in Einklang mit der richterlichen Unabhängigkeit gefunden werden.
[34]
Was bleibt nun weiterhin zu tun? Zuerst einmal ist das Gesetz fristgemäß umzusetzen. Damit kommt eine erhebliche Herausforderung auf die deutsche Justiz zu. Es müssen die 1109 Gerichte aller Instanzen und Fachgerichtsbarkeiten auf den Einsatz des elektronischen Rechtsverkehrs vorbereitet werden. Dabei sollte der Wandel genutzt werden, um eine Optimierung der Geschäftsprozesse und eine weitere Erhöhung der Medienbruchfreiheit zu realisieren.
[35]

Große Potenziale eröffnen sich hier auch durch die Verschmelzung von E-Justice und E-Government. Um die volle Wirkung der Initiativen aus beiden Bereichen zu entfalten, ist eine Implementierung von digitalen Prozessketten über organisationale und sektorale Grenzen (Stichwort «Instanzenzug») hinweg notwendig. Das Pilotprojekt Prozessdatenbeschleuniger6 des Bundesinnenministeriums verfolgte gleichartige Ziele.

[36]
Generell ist über alle Teilbereiche hinweg das Ziel der Harmonisierung der Initiativen von Bund und Ländern anzustreben. Ein wirkungsvolles Koordinierungsinstrument sind Einer-für-Alle-Projekte, die insbesondere durch die Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz forciert werden könnten. Zusammenfassend wird die Justiz durch das ERV-Gesetz mit dem digitalen Rüstzeug ausgestattet, damit sie ihre Rolle als wesentlicher Stützpfeiler der rechtlichen und politischen Ordnung, auch im Hinblick auf Transparenz, noch effektiver und effizienter ausfüllen kann.

5.

Weiterführende Literatur ^

Berlit, Uwe, E-Justice – Chancen und Herausforderungen in der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. JurPC Web-Dok. 171/2007, Abs. 1–146. http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20130173 aufgerufen 10. Dezember 2013 (2013).

Berlit, Uwe, Elektronischer Rechtsverkehr – eine Herausforderung für die Justiz. JurPC Web-Dok. 173/2013, Abs. 1–50. http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20070171 aufgerufen 10. Dezember 2013 (2013).

Herberger, Maximilian, Zehn Anmerkungen zum «Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten». JurPC Web-Dok. 81/2013, Abs. 1–66. http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20130081 aufgerufen 10. Dezember 2013 (2013).

Köbler, Ralf, Der elektronische Rechtsverkehr kommt: Fahrplan bis 2022 steht. In: AnwBl, Heft 8, S. 589–592 (2013).

Köbler, Ralf, E-Justice in Deutschland – Ein kurzer Überblick. In: Hill, Hermann/Dieckmann, Jochen (Hrsg.), Moderne Justiz, Nomos, Baden-Baden, S. 75–83 (2013).

Volk, Ulrich, Der Abschied von den Absurditäten der Papierakte – ein Fallbeispiel. In: AnwBl, Heft 8, S. 593–596 (2013).

Weller, Matthias, Der elektronische Rechtsverkehr mit den Gerichten rückt näher. In: DRiZ, Heft 9, S. 290–295 (2013).


 

Michael Tonndorf

Diplom-Informatiker

CSC Deutschland Solutions GmbH

Barthstr. 4, 80339 München, DE

michael.tonndorf@csc.com; http://www.csc.com/de

 

Jochen Stüber

Bachelor of Arts (Politik- und Verwaltungswissenschaft)

CSC Deutschland Solutions GmbH Barthstr. 4, 80339 München, DE

jstueber@csc.com; http://www.csc.com/de

 


  1. 1 Bundesgesetzblatt Teil I 2013 Nr. 62 16. Oktober 2013 S. 3786.
  2. 2 Berlit, Uwe, Richterliche Unabhängigkeit und elektronische Akte. JurPC Web-Dok. 77/2012, Abs. 1–74. http://www.jurpc.de/jurpc/show?id=20120077 aufgerufen 10. Dezember 2013 (2012).
  3. 3 Scheer, August-Wilhelm/Kruppke, Helmut/Heib, Ralf, E-Government: Prozessoptimierung in der öffentlichen Verwaltung, Berlin, Springer (2003).
  4. 4 Der Begriff Government wird hier frei für alle Arten staatlicher Organisationen verwendet.
  5. 5 Schubert, Klaus/Klein, Martina, Das Politiklexikon, Dietz, Bonn, 5. Auflage (2011).
  6. 6 Siehe www.p23r.de, aufgerufen am 20. Januar 2014.