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No Taxation Without Logical Representation: Regelbruch und Regelablösung am Beispiel der US-Unabhängigkeitserklärung

  • Authors: Samuel Pędziwiatr / Rainhard Z. Bengez
  • Category: Articles
  • Region: Germany
  • Field of law: Legal Theory
  • Collection: Tagungsband IRIS 2014
  • Citation: Samuel Pędziwiatr / Rainhard Z. Bengez, No Taxation Without Logical Representation: Regelbruch und Regelablösung am Beispiel der US-Unabhängigkeitserklärung, in: Jusletter IT 20 February 2014
Als die Vereinigten Staaten von Amerika 1776 formal rechtliche Unabhängigkeit vom Britischen Imperium erklärten, begründeten die US-Gründerväter ihren Akt damit, dass sie die Grundrechte der Kolonisten vor Übergriffen der Regierung des Monarchen George III. schützen wollten. Diese Arbeit untersucht die (modal-) logische Struktur der rechtlichen Argumente für Unabhängigkeit, die US- Gründerfiguren zum Thema Steuererhebung geäußert haben. Durch die Erörterung im historischen Kontext möchte dieser Essay einen Beitrag zu heutigen philosophischen Gerechtigkeitsdebatten leisten.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Prolog
  • 1.1. Steuern und Steuerrecht in der Anfangszeit der amerikanischen Kolonien
  • 1.2. Steuern und die Revolution
  • 1.2.1. Zur Philosophie der Gerechtigkeit
  • 1.3. Eine Modallogik zur Untersuchung des Steuerrechts
  • 1.4. Eine modallogische Sicht auf die Parliamentary Taxation
  • 1.5. Regelablösung und die Computable Legal Theory

1.

Prolog ^

[1]

Mit ihren in den Vereinigten Staaten von Amerika kanonisch gewordenen Einleitungssätzen gilt die Unabhängigkeitserklärung der USA für viele als symbolische Manifestation der Menschenrechte und der Selbstbestimmung1:

    «We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

    That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People [...], it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security.»2

[2]
Dieser Passus postuliert nicht nur ein für alle Menschen universell gültiges Naturrecht, er bringt auch das philosophische Problem zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit auf, zu entscheiden, wann es legitim und wann es sogar nötig ist, mit bestehenden Gesetzen oder Rechtssystemen zu brechen.
[3]
Die vorliegende Arbeit untersucht diese philosophische Frage im historischen Kontext der Kontroverse um das Steuerrecht in den britischen Kolonien, welche den Ausbruch und Verlauf des US-Unabhängigkeitskrieges (1775–1783) unmittelbar begleitete. Am Beginn dieses Papers steht eine kurze Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ausgangslage in den amerikanischen Kolonien vor circa 1760. Es schließt eine episodische Untersuchung des Disputs über die Besteuerung amerikanischer Siedler um 1760–1775 an, aus der Impetus für eine darauf folgende rechtsphilosophische Reflexion über das Wesen der Gerechtigkeit gewonnen werden soll.
[4]
Der Fokus wendet sich dann der Rechtslogik zu. Es wird eine Modallogik besprochen, mit deren Hilfe sich die eingangs betrachteten Steuergesetze und Steuergrundsätze im Zentrum der Streitereien ab 1760 formal erfassen lassen. Die modallogische Untersuchung der Argumentationsstrukturen der rivalisierenden Hauptpositionen im Streit um die «parliamentary taxation» soll auf gegenwärtige philosophische Probleme der Berechenbarkeit im Steuerrecht Perspektiven eröffnen. Im Lichte dieser wird die Arbeit zum Abschluss einen Ausblick auf mögliche Anwendungsbereiche der rechtstheoretischen Resultate im Rahmen der modernen Rechtsinformatik geben.

1.1.

Steuern und Steuerrecht in der Anfangszeit der amerikanischen Kolonien ^

[5]

In der frühen Kolonisationszeit war die Besteuerung der britischen Untertanen in Amerika gering. Erst mit der Thronbesteigung Charles' II. im Jahre 1660 wurde die Besteuerung der Kolonien ein politisches Thema. Im Wettstreit mit den Niederlanden um die Vormacht im Welthandel wurden Zölle eingeführt und der direkte Handel der Kolonien mit fremden europäischen Mächten verboten. Dies führte einerseits zu erhöhten Einnahmen der Krone aus den Kolonien, andererseits wurden viele Steuergesetze weitläufig von Kolonisten ignoriert und blieben ohne Effekt – Schwarzhandel mit Ländern wie den Niederlanden, Frankreich oder Spanien florierte.

[6]

Eine Zäsur stellt die Amtszeit des katholischen Königs James' II. ab dem Jahr 1685 dar. James war Duke von York gewesen, und hatte zuvor über zwei Jahrzehnte die Macht über die Eigentumskolonie New York inne gehalten. Sein Regierungsstil war hier gekennzeichnet durch eigenmächtige Steuererlässe und die Zerschlagung der mittlerweile traditionell stattfindenden kontinentalen parlamentarischen Versammlungen. Als James in England König wurde, wandte er eine ähnlich autokratische Politik auf das Mutterland an und überging dabei weitgehend die Proteste des Parlaments. Dies wurde James 1688 politisch zum Verhängnis, als das Parlament ihn ins Exil verbannte. Man berief das Königspaar William und Mary von Oranien, und begrenzte die Befugnisse der Monarchie durch ein konstitutionelles Dokument, die Bill of Rights von 1689. In diesem Dekret findet sich, was später formales Vorbild für die US Declaration of Independence werden sollte: eine Auflistung von Verstößen James' II. gegen die «englischen Grundrechte», sowie eine erweiterte Auflistung fundamentaler Bürgerrechte. Für das Steuerrecht wurde festgesetzt:

    a) «That levying money for or to the use of the Crown by pretence of prerogative, without grant of Parliament, for longer time, or in other manner than the same is or shall be granted, is illegal;»3

[7]
Diese Formulierung ist eine abgewandelte Version von einem der ältesten steuerrechtlichen Grundsätze im britischen Recht. Erstmals geäußert worden ist dieses Grundrecht in der Regierungszeit König Edwards III. (1327–1377), und es ist schriftlich fixiert in der Petition of Right, welche 1628 dem König Charles I. vom Parlament vorgelegt wurde:

    b) «[...] your subjects have inherited this freedom, that they should not be compelled to contribute to any tax, tallage aid, or other like charge not set by common consent, in parliament.»4

1.2.

Steuern und die Revolution ^

[8]
Mit dem Frieden von Utrecht 1713 und der damit in Europa einsetzenden Friedensperiode begann der wirtschaftliche Aufstieg der britischen Kolonien in Amerika. Der neue Reichtum, der sich auf dem transatlantische Dreieckshandel mit Baumwolle, Gewebe und Sklaven gründete, sollte dazu führen, dass die Kolonisten immer stärker in Kontakt mit Kultur und Handelsgütern des englischen Mutterlands traten.
[9]

Das koloniale Selbstverständnis wandelte sich, man sah sich in steigendem Maße als britische Untertanen im Ausland, und fühlte sich mit allen Bürgerrechten ausgestattet. Die Regierung in London betrieb vergleichsweise geringe imperiale Politik, was den aufkeimenden Patriotismus in den Kolonien weiter förderte.5 Die Loyalität zu England sollte mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika 1763 kulminieren.6 Kolonisten hatten zusammen mit englischen Truppen auf heimischem Boden die französische Armee und die ihr verbündeten nordamerikanischen Indianerstämme geschlagen7.

[10]
Das allgemeine Gefühl der Verbundenheit mit dem Mutterland löste sich in den Kolonien bald auf, als die ökonomische Notwendigkeit, die durch den Krieg mit Frankreich verursachten Staatsschulden zu tilgen, das House of Commons dazu bewegten, verstärkt finanzielle Belastungen auf die Kolonisten zu übertragen.
[11]

Mit dem Revenue (bzw. Sugar) Act von 1764 des englischen Premierministers George Grenville wurden Steuern auf wichtige Handelsgüter wie Zucker, Kaffee, Tee und Holz durch das Parlament in Westminster erstmals direkt auf die amerikanischen Siedler gelegt. 1765 folgte der Stamp Act, der alle offiziellen Dokumente, Zeitungsveröffentlichungen und Papiergüter mit einer Steuer belegte.8 Begleitet wurden die Regelungen vom Currency Act, der besagte, dass die steuerlichen Abgaben nur in specie, welche zur Zeit in den Kolonien knapp war, bezahlt werden durften.

[12]
Kolonialregierungen entsandten als Reaktion auf den Stamp Act Delegierte zum sogenannten Stempelsteuerkongress nach New York, um ein Besteuerungsrecht des Parlaments formal als verfassungswidrig abzulehnen. Man entwickelte die rechtliche Interpretation, dass das englische Parlament nicht die Kolonisten repräsentieren könne, sondern nur die kolonialen Versammlungen, die sich im Laufe der Zeit gebildet hatten:

    «[That] [I]t is inseparably essential to the freedom of a people, and the undoubted right of Englishmen, that no taxes be imposed on them, but with their own consent, given personally, or by their representatives. [That] [T]he people of these colonies are not, and from their local circumstances cannot be, represented in the House of Commons in Great-Britain. [That] [T]he only representatives of the people of these colonies, are persons chosen therein by themselves, and [that] no taxes ever have been, or can be constitutionally imposed on them, but by their respective legislatures.»9

[13]

Quer durch den Kontinent kam es zu weiteren Protest- und Boykottaktionen unter dem Slogan No Taxation Without Representation. Nur ein Parlament, welches die Freimänner der Kolonien direkt repräsentiere, könne eine Steuer von Kolonisten erheben. In letzter Instanz verursachten die Warenboykotte der Kolonisten einen erheblichen wirtschaftlichen Druck auf englische Unternehmer.10 Aus Angst vor Gewinneinbußen ersuchten diese im Parlament eine Aufhebung des Gesetzes. Zusammen mit den Petitionen der Kolonisten führte dies dazu, dass die Steuerbeschlüsse zunächst rückgängig gemacht wurden.

[14]
Das Parlament in England wiederum sah nach dem Widerstand der Kolonisten seine Hoheit der «Parliamentary Taxation» allgemein gefährdet. 1767 wurden mit dem Townshend Act von Neuem Regelungen eingeführt, in deren Rahmen unter anderem Schiffskapitäne verpflichtet wären, eine Steuer auf transportierte Güter beim Eintreffen in koloniale Häfen zu entrichten. Zur Kontrolle der Einhaltung sah das Gesetz die Erschaffung von Gerichtsinstitutionen vor, die Steuervergehen vor Ort ahnden sollten. Nachfolgend kam es zu Spannungen zwischen den Kolonien und dem englischen Mutterland, die mit der militärischen Intervention der britischen Regierung und dem «Boston Massacre» am 5. März 1770 eskalierten. Wieder wurden die Steuermaßnahmen von der englischen Regierung scheinbar zurückgezogen.
[15]
Um, nach diesem Misserfolg, einen Präzedenzfall zu schaffen, der eine Besteuerung der Kolonien durch das englische Parlament legal rechtfertigen würde, ließ die britische Regierung drei Jahre später mit der Unterstützung der East India Company vergleichsweise preisgünstigen, aber mit einem geringen Zoll belasteten Tee nach Amerika verkaufen. Wenn die Kolonisten den Tee annehmen würden, müssten sie den Townshend Act akzeptieren. Diese rechtliche List wurde jedoch durchschaut, und eine Gruppe von Kolonisten zerstörte 1773 die Teelieferungen im Hafen von Boston. Als offener Akt von Rebellion provozierte die «Boston Tea Party» von der englischen Regierung schwere repressive Maßnahmen gegen Massachusetts. George Washington fasste seine Gefühle zu diesen von den Kolonisten weithin als «Intolerable Acts» bezeichneten Straf-Gesetzen in einem Brief an Bryan Fairfax vom 4. Juli 1774 in Worte:

    «Does it not appear, as clear as the sun in its meridian brightness, that there is a regular, systematic plan formed to fix the right and practice of taxation upon us? Does not the uniform conduct of Parliament for some years past confirm this? Do not all the debates, especially those just brought to us, in the House of Commons on the side of government, expressly declare that America must be taxed in aid of the British funds, and that she has no longer resources within herself? Is there any thing to be expected from petitioning after this?»11

[16]
Auch in England selbst gab es Gegenstimmen zu einer direkten Besteuerung der Untertanen in den Kolonien. Edmund Burke etwa hielt am 19. April 1774 vor dem Parlament in London eine Rede mit dem Titel On American Taxes:

    «Sir, when I cannot obey all his laws, I will do the best I can. I will endeavor to obey such of them as have the sanction of his example, and to stick to that rule which, though not consistent with the other, is the most rational. […] Could anything be a subject of more just alarm to America than to see you go out of the plain highroad of finance, and give up your most certain revenues and your clearest interest, merely for the sake of insulting your colonies? No man ever doubted that the commodity of tea could bear an imposition of three-pence. [...] but the payment [...], on the principle it was demanded, would have made him a slave. It is the weight of that preamble, of which you are so fond, and not the weight of the duty, that the Americans are unable and unwilling to bear. It is, then, Sir, upon the principle of this measure, and nothing else, that we are at issue. It is a principle of political expediency.»12

[17]
Der Konflikt um die Fragen von Steuern und politischer Repräsentation findet seine Entsprechung in den unterschiedlichen Interpretationen des Rechtsgrundsatzes b). Die Formulierung in der Petition of Right hat zu einem Auslegungsstreit13 zwischen im Wesentlichen zwei Lagern geführt.
[18]
Die Anhänger der Virtual Representation vertraten die Position, die Kolonisten seien bereits virtuell im englischen Parlament vertreten durch das Engagement der Minister des House of Commons, die für das Wohl aller Freimänner im Reich einstehen sollten. Diese Auffassung wurde vor allem vom Premierminister George Grenville und der englischen Regierung getragen. Ihre Auslegung sah das «common consent» als parlamentarischen Beschluss im House of Commons bereits realisiert. Entscheidend wäre, gestützt durch den Wortlaut des Rechtsgrundsatzes a), lediglich die parlamentarische Genehmigung von Steuern, die der Krone zugute kämen.
[19]
Die meisten Kolonialvertreter lehnten eine solche Vorstellung ab, und verlangten die Anerkennung der eigenen kolonialen Parlamente durch die englische Regierung. Ihre Auslegung kann als Colonial Representation bezeichnet werden. Die Weigerung der Kolonisten, Steuern zu entrichten, ist eindeutig mit einem Bruch der zur Zeit geltenden Steuergesetze verbunden gewesen. Wie aber verhalten sich diese Gesetze, die aus der Auslegung der Virtual Representation entstanden sind, in Fragen der Gerechtigkeit und Kontinuität zu den «englischen Grundrechten» aus der Bill of Rights?

1.2.1.

Zur Philosophie der Gerechtigkeit ^

[20]
Will man den Unterschied zwischen «gerecht» und «ungerecht» argumentativ begründen, gilt es sich Theorien der Gerechtigkeit zuzuwenden. Welche Theorie der Gerechtigkeit aber soll man zu Rate ziehen, wenn man ein konkretes Problem hat, wie die obige Entscheidung zwischen zwei rechtshermeneutischen Optionen?
[21]

Nach Michael J. Sandel kann man die gängigen Theorien der Gerechtigkeit in drei Klassen einteilen: Tugendbasierte, Gemeinwohlbasierte und Freiheitsbasierte. Da das jeweilige Fundament der verschiedenen Theorietypen ein unterschiedlicher Wert im Sinne einer Letztbegründung ist, schließt die Entscheidung für einen Theorietypus die anderen beiden notwendigerweise aus.14

[22]

An dieser Stelle regt sich der Verdacht, dass eine solche vermeintliche Reinheit der Begriffe ins Leere zielt. Freilich wird eine Theorie der Gerechtigkeit notgedrungen Abstraktion sein, doch legt die Intuition nahe, dass eine adäquate Darstellung der Gerechtigkeit erst dann gelingen kann, wenn Freiheit, Tugend und das Gemeinwohl nicht als sich gegenseitig ausschließende Begründungsgrundlagen aufgefasst werden15, wo doch mit dem Wert der Freiheit bereits Tugenden untrennbar verbunden sind16, und wo doch das Gemeinwohl schwer vorstellbar ist, wo der Einzelne nicht frei ist, sein Leben selbst zu gestalten.

[23]
Überzeugendere Leitlinien einer Theorie der Gerechtigkeit vermag man wohl in einer Reflexion der US-Unabhängigkeitserklärung zu gewinnen: «Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit». Wenn diese Werte Aspekte der Gerechtigkeit darstellen, muss Gerechtigkeit für den Einzelnen einhergehen mit der Wahrung des Werts der Freiheit der Lebensgestaltung anderer im eigenen Handeln. Eine solche existenzielle Herangehensweise rückt die Person in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft in das Zentrum der Betrachtung: Was für einen bestimmten Menschen gerecht ist, weil es mit seinen Lebensentwürfen vereinbar ist, muss nicht zwingend auf eine andere Person mit einem anderen Lebensentwurf übertragbar sein. Es wird daher in einer Gemeinschaft ein Dialog zwischen Gesellschaftsmitgliedern zu fordern sein, der eine Kommunikation über Lebenspläne und damit die Vereinbarkeit von Lebensentwürfen sichert, aber auch eine Entscheidung darüber, was die Gesellschaft vom Individuum fordern kann und soll.
[24]
Ein gesellschaftlicher Dialog wiederum setzt eine Grundlage voraus: ein Vorgehen auf das man sich prinzipiell einigen kann, um eine Konsens- und Kompromissfindung zu ermöglichen. Eine solche Mechanik um zu Übereinkünften in einem Diskurs zu gelangen ist die Logik. Nun stellt sich ein besonderes Problem: Sinn Stiften im Rahmen von Lebensentwürfen und im Rahmen von Legislative fordert Imperative und Beschlüsse, es besitzt den normativen Charakter eines Sollens, das sich nicht in einem einfachen Aussagesatz festhalten lässt. Traditionelle Aussagen- und Prädikatenlogiken kommen daher für die Untersuchung deontischer Sätze nicht in Frage, man braucht dazu eine eigene Logik.

1.3.

Eine Modallogik zur Untersuchung des Steuerrechts ^

[25]

Eine Untersuchung von deontischen Sätzen erlaubt die in der folgenden Übersicht dargestellte Modallogik D, welche in wesentlichen Punkten Ausführungen Paul McNamaras17 folgt. Sie erweitert die klassische Aussagenlogik im Stile einer normalen Modallogik um fünf Modalitäten des Sollens, die sich im Rahmen des traditionellen deontischen Schemas auf den Box-Operator (Notwendigkeitssymbol) ▢ reduzieren lassen.

Modalitäten der Logik und das traditionelle deontische Schema Modallogik D in Hilbert-Kalkül Darstellung
Sei A eine Aussage des Steuerrechts  
  • A ist obligatorisch dann, wenn A erfüllt werden muss: ▢A (Lesart hier: «Es soll der Fall sein, dass A.»)
  • A ist verboten dann, wenn es obligatorisch ist, dass nicht A gilt: ▢¬A
  • A ist erlaubt dann, wenn die Erfüllung von A nicht verboten ist: ¬▢¬ A≡◇A
  • A ist optional, wenn A weder obligatorisch ist, noch verboten: ¬▢A ⋀¬▢¬ A
  • A ist nicht-verpflichtend, wenn es nicht obligatorisch ist: ¬▢A
  • A1: Alle Tautologien der Aussagenlogik
  • A2: ▢(p➔q)➔(▢p➔▢q) (K)
  • A3: ▢p ➔ ◇p (D)
  • R1: Wenn gilt ⊢p und ⊢p ➔ q, dann gilt ⊢q (Modus Ponens)
  • R218: Wenn gilt ⊢p, dann gilt ⊢▢p (Necessitierung)

Tabelle 1: Übersicht über die Modallogik D

1.4.

Eine modallogische Sicht auf die Parliamentary Taxation ^

[26]
Mit Hilfe der vorgestellten Modallogik D lässt sich der Konflikt um die Fragen von Steuern und politischer Repräsentation auf formaler Ebene untersuchen. Am Kern des Auslegungsstreits stand Rechtssatz b) mit dem Wortlaut: «[...] your subjects have inherited this freedom, that they should not be compelled to contribute to any tax, tallage aid, or other like charge not set by common consent, in parliament.». Dieser besitzt je nach Auslegung auf prinzipieller Ebene verschiedene logische Formalisierungen.
[27]
Die Auffassung der Virtual Representation von der Regierung unter König George III., geleitet vom Premierminister George Grenville, wird im unteren Schema als Proposition 1 formalisiert, die Auslegung im Sinne der Colonial Representation als Proposition 2. Die logische Konsistenz beider Propositionen (d.h. rechtliche Kontinuität der Gesetzesauslegung) mit den Entscheidungen der politischen Organe des Parlaments bzw. der Kolonialvertretungen und einem Steuergesetz wie dem Stamp Act wird im Folgenden nach den in Tabelle 1 angegebenen Schlussregeln geprüft:
Proposition 1 Proposition 2
«Wenn das Parlament nicht seine Zustimmung gegeben hat, können englische Freimänner (darunter Kolonisten) nicht besteuert werden.» «Ohne die Zustimmung der Vertreter der betroffenen Commons, gegeben im Parlament, darf kein Freimann (Kolonist) besteuert werden.»

par-consent ➔ □ ¬ colonist-paytax)

par-consent «Parlament stimmt der Stamp Act Steuer zu»

colonist-paytax «Kolonisten müssen die Steuer per Gesetz zahlen»

commonsrepresentation-consent

□ ¬ colonist-paytax)

¬ commonsrepresentation-consent

colonist-paytax

par-consent ➔ ¬ □ ¬ colonist-paytax

¬ □ ¬ colonist-paytax ≡ ◇ colonist-paytax (Steuer logisch konsistent mit Rechtssystem, kein Widerspruch)

commonsrepresentation-consent

□ ¬ colonist-paytax)

□ ¬ colonist-paytax (offener Widerspruch, wird durch Aufhebung von □ colonist-paytax oder von ¬ commonsrepresentation-consent behoben)

Tabelle 2: Modallogische Analyse der Auslegungen von Virtual und Colonial Representation

[28]
Aus logischer Sicht ist Proposition 1 (im betrachteten juristischen Kontext) frei von Widersprüchen zu den Steuergesetzen, also legal bindend, die Analyse von Proposition 2 zeigt hingegen die Diskontinuität der Steuermaßnahmen mit Rechtsgrundsatz b) in der Auslegung der Colonial Representation auf. Das Steuergesetz steht demnach legal auf tönernen Füßen, wenn man «common consent» im Sinne einer mehrheitlichen Zustimmung durch die Bürger auffasst, und es läuft – zumal in Fragen des politischen Engagements – der Selbstbestimmung der einzelnen Bürger zuwider, und damit der weiter oben geforderten Freiheit der Lebensentfaltung als Leitlinie einer Gerechtigkeitskonzeption.
[29]
Der Bruch mit der rechtlich implementierten Proposition 1 ist aus dieser Perspektive nötig gewesen, um das Prinzip der Common Representation zu schützen: Das Parlament sollte den Freimännern eine Stimme geben, welche den Kolonisten unter Proposition 1 verweigert würde.

1.5.

Regelablösung und die Computable Legal Theory ^

[30]

Mit der Unabhängigkeit bekannten sich die USA politisch zur Auslegung nach Proposition 2. Die Umsetzung der Forderung eines gesellschaftlichen Konsens aber bereitet seit der Anfangszeit der amerikanischen Republik schwere Probleme19 und bis heute kann der Slogan No Taxation without Representation als aktuell für die Steuergerechtigkeit gelten. Gegenwärtig scheint in den Vereinigten Staaten die Diskrepanz zwischen politischer Repräsentation und Besteuerung zu wachsen: die Mehrheit der US-Bevölkerung ist unzufrieden mit dem amerikanischen Steuercode, welcher als kompliziert, veraltet, global nicht wettbewerbsfähig und unfair gilt20, und im Juli des Jahres 2013 lag die allgemeine Zustimmung der Bevölkerung für den US-Kongress auf einem historischen Tief von etwa 12%21.

[31]

Dem Bestreben nach mehr Transparenz im Steuerrecht stellt sich in den Vereinigten Staaten als Problem unter anderem die hohe Komplexität, welche mit einem nationalen Normgefüge wie dem gegenwärtigen Steuercode einhergeht. Man sieht sich beim Versuch der Regelablösung vor zwei Optionen gestellt: entweder man schafft ein Gesetzsystem in Teilen oder in Gänze neu, oder man betreibt, wie es aktuell geschehen soll, eine Reform bestehender Gesetze.22 Das bedeutet im Fall des US-Steuerrechts auf Bundesebene eine Revision von rund 10.000 Gesetzesparagraphen23.

[32]
Um eine Überarbeitung innerhalb begrenzter Zeit bewältigbar zu machen, würde sich die Anwendung rechtsinformatischer Systeme anbieten. Die modallogische Untersuchung des historischen Beispiels zum Steuerrecht legt nahe, dass die gesetzliche Folgerichtigkeit gezielt dort kontrolliert werden könnte, wo modallogische Formalisierungen von Gesetzen Widersprüche aufweisen. Es deutet darauf hin, dass auch aus rechtshermeneutischen Auslegungen, bei einer hinreichend scharfen Formulierung, semantische Data extrahierbar sind, die einer maschinellen Erfassung im Sinne der Computable Legal Theory prinzipiell zugänglich sind.
[33]
Wenn man das Steuerrecht modallogisch in einer Computer-Datenstruktur erfasst oder ein bereits vorhandenes Rechtsinformationssystem geeignet um modallogische Elemente erweitert, kann man ein Programm schreiben, welches zum Beispiel als juristisches Hilfsmittel für die Legislative automatisiert Gesetzvorschläge und bestehende Gesetze auf ihre Kontinuität prüfen könnte und die Aufmerksamkeit des Nutzers auf Konfliktfälle lenken könnte. Ein solches Programm ließe sich derart gestalten, dass es zu einem Gesetz verschiedene Auslegungen und Formalisierungen gleichzeitig zulassen würde und eine dynamische Adaption ermöglichen würde. Dadurch würden Gesetzpassagen schneller vergleichbar und besser zugänglich.
[34]
Zugleich aber könnte ein solches Programm mit Hilfe einer formalen Erfassung von Akteuren für einzelne Institutionen und Bürger nützlich sein. Diese könnten im Steuerrecht Relevanz-Suchen durchführen, um Gesetzpassagen samt Deutungsspielraum zu finden, die sie selbst betreffen, aber auch, um Auslegungen und Änderungen durch den Gesetzgeber leichter nachzuvollziehen. Es wäre damit für den Einzelnen besser möglich, sich eine fundierte Meinung zu bilden und sich im demokratischen Prozess einzubringen.

 

Samuel Pędziwiatr

TU München, Munich Center for Technology in Society, Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie

Arcisstraße 21, 80333 München, DE

samuel.pedziwiatr@tum.de; http://philosophyofdata.org/modal-logic-and-stamp-act-samuel-pedziwiatr/

 

Rainhard Bengez

TU München, Munich Center for Society in Technology

Arcisstr. 21, 80333 München, DE

bengez@tum.dehttp://www.quantius.org

 


  1. 1 Vgl. The Charters of Freedom, Declaration of Independence, http://www.archives.gov/exhibits/charters/declaration.html, aufgerufen 21. September 2013.
  2. 2 Declaration of Independence of the United States of America, July 4, 1776, http://avalon.law.yale.edu/18th_century/declare.asp, aufgerufen 21. September 2013.
  3. 3 English Bill of Rights 1689. An Act Declaring the Rights and Liberties of the Subject and Settling the Succession of the Crown, http://avalon.law.yale.edu/17th_century/england.asp, aufgerufen 11. August 2013.
  4. 4 The Petition of Right (1627). http://www.legislation.gov.uk/aep/Cha1/3/1/section/wrapper1, aufgerufen 26. September 2013.
  5. 5 Vgl. The Peace of Utrecht to the Seven Years War, http://www.taxhistory.org/www/website.nsf/Web/THM1713?OpenDocument, aufgerufen 22. August 2013.
  6. 6 Vgl. Freeman, JoanneThe American Revolution. Vorlesungen der Yale Open Courses Reihe. Outraged Colonials: The Stamp Act Crisis, http://oyc.yale.edu/history/hist-116/lecture-5, aufgerufen 21. August 2013.
  7. 7 George Washington (1732–1799) etwa zeichnete sich in diesem Konflikt zum ersten Mal als Kriegsführer aus, noch unter dem Befehl der britischen Krone.
  8. 8 Vgl. Parliament of Great Britain, The Stamp Act. http://avalon.law.yale.edu/18th_century/stamp_act_1765.asp, aufgerufen 22. August 2013.
  9. 9 Resolutions of the Continental Congress October 19, 1765. http://avalon.law.yale.edu/18th_century/resolu65.asp, aufgerufen 30. September 2013.
  10. 10 Die Stärke der Proteste rührt zu einem hohen Grad von der fallrechtlichen Natur des Rechts in angelsächsischen Kulturraum.Zur Bedeutung von Präzedenzfällen wie diesem in den Augen der Kolonisten vgl. Paine, Thomas, Common Sense, Rights of Man and Other Political Writings, Oxford University Press, Oxford, S. 94 (2008): «A law not repealed continues in force, not because it cannot be repealed, but because it is not repealed; and the non-repealing passes for consent».
  11. 11 Brief von George Washington an Bryan Fairfax. Zitiert nach: Bell, J.L.George Washington and the «Murder Act», http://boston1775.blogspot.de/2013/08/george-washington-and-murder-act.html, aufgerufen 30. August 2013 (2013). Der letzte Satz des Ausschnitts bringt bereits den keimenden Gedanken an Revolution zum Ausdruck.
  12. 12 Burke, Edmund, On American Taxes, Rede am 19. April 1774 vor dem britischen Parlament, http://www.gutenberg.org/files/15198/15198-h/15198-h.htm#AMERICAN_TAXATION, aufgerufen 30. August 2013.
  13. 13 Weitestgehender Konsens aller war, dass das Parlament die besteuerten Untertanen repräsentieren müsse.
  14. 14 Vgl. Sandel, Michael J., Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, Ullstein Verlag, Berlin, S. 30 ff. (2013).
  15. 15 Vgl. De Sousa Mendes, Paolo, Für den ethischen Partikularismus und den liberalen Pluralismus, insbesondere im Strafrecht, Vortrag am 23. August 2013 auf dem Symposium Recht und Logik 2013 an der Technischen Universität München.
  16. 16 Vgl. den Brief Benjamin Franklins anAbbés Chalut und Arnaud vom 17. April 1787. In: Franklin, Benjamin, Franklin, William Temple, Duane, William, Memoirs of Benjamin Franklin. Bd.1. Philadelphia, S. 604 (1834): «Let me add, that only a virtuous people are capable of freedom. As nations become corrupt and vicious, they have more need of masters».
  17. 17 McNamara, Paul, «Deontic Logic», In: Zalta, Edward N. (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2010 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/fall2010/entries/logic-deontic/, aufgerufen 25. September 2013.
  18. 18 Die Schlussregel R2, die erlaubt von einer einfachen Aussage auf einen Obligations-Satz zu schließen, birgt starke Implikationen, die nicht unproblematisch sind. Insbesondere wären innerhalb dieser Logik «naturalistische Fehlschlüsse» gültig. Der Anwendungsbereich dieser Logik muss daher klar eingegrenzt werden. Für den Kontext dieser Arbeit scheint R2 geeignet, da ausschließlich Gesetze betrachtet werden, in denen in Aussageform formulierte Sätze stets selbst eine Norm implizieren. Im allgemeinen Steuerrecht vorkommende je-/desto- Satzstrukturen könnten in dieser Logik nur durch Fallunterscheidungen und komplexere Aussagen angegangen werden. Dies würde für andere Fragestellungen eine Erweiterung bzw. Abänderung der Logik nötig machen.
    Akteure werden im Folgenden in atomare Aussagen inkorporiert, aber zur besseren Übersichtlichkeit mit einem Bindestrich hervorgehoben. Bsp.: «Ein Englischer Freimann darf Handel betreiben» kann man formalisieren als: ◇ efm-business (Lesbar auch als: «Es ist erlaubt, dass der Fall ist, dass ein Englischer Freimann Handel betreibt.»)
  19. 19 In Massachusetts kam es von 1786 bis 1787 als Reaktion auf zu hohe Steuern durch die neue Regierung zu Bauernaufständen. 1791 führte die Einführung der sogenannten «Whiskey-Steuer» zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Bauern in Pennsylvania.
  20. 20 Vgl. U.S. Chamber of Commerce, Tax Reform., www.uschamber.com/issues/econtax/tax-reform, aufgerufen 4 Januar 2014.
  21. 21 Vgl. Jackson, David, Obama and Congress face falling ratings, http://www.usatoday.com/story/theoval/2013/07/24/obama-congress-nbc-wall-street-journal-poll/2581993/, aufgerufen 21. September 2013 (24. Juli 2013).
  22. 22 Dabei ist der Senat in die Kritik geraten, weil seine Gesetzesvorschläge unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit 50-jähriger Geheimhaltung stattgefunden haben. Vgl. Greeley, Brendan, Congress Will Keep SenatorsTax Reform Wishes Secret – For 50 Years., http://www.businessweek.com/printer/articles/137796-congress-will-keep-senators-tax-reform-wishes-secret-for-50-years, aufgerufen 21. September 2013 (25. Juli 2013).
  23. 23 Legt man dieser Näherung Title 26 of the United States Code (Internal Revenue Code) zu Grunde.