1.
Prolog ^
Mit ihren in den Vereinigten Staaten von Amerika kanonisch gewordenen Einleitungssätzen gilt die Unabhängigkeitserklärung der USA für viele als symbolische Manifestation der Menschenrechte und der Selbstbestimmung1:
«We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.
That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People [...], it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security.»2
1.1.
Steuern und Steuerrecht in der Anfangszeit der amerikanischen Kolonien ^
In der frühen Kolonisationszeit war die Besteuerung der britischen Untertanen in Amerika gering. Erst mit der Thronbesteigung Charles' II. im Jahre 1660 wurde die Besteuerung der Kolonien ein politisches Thema. Im Wettstreit mit den Niederlanden um die Vormacht im Welthandel wurden Zölle eingeführt und der direkte Handel der Kolonien mit fremden europäischen Mächten verboten. Dies führte einerseits zu erhöhten Einnahmen der Krone aus den Kolonien, andererseits wurden viele Steuergesetze weitläufig von Kolonisten ignoriert und blieben ohne Effekt – Schwarzhandel mit Ländern wie den Niederlanden, Frankreich oder Spanien florierte.
Eine Zäsur stellt die Amtszeit des katholischen Königs James' II. ab dem Jahr 1685 dar. James war Duke von York gewesen, und hatte zuvor über zwei Jahrzehnte die Macht über die Eigentumskolonie New York inne gehalten. Sein Regierungsstil war hier gekennzeichnet durch eigenmächtige Steuererlässe und die Zerschlagung der mittlerweile traditionell stattfindenden kontinentalen parlamentarischen Versammlungen. Als James in England König wurde, wandte er eine ähnlich autokratische Politik auf das Mutterland an und überging dabei weitgehend die Proteste des Parlaments. Dies wurde James 1688 politisch zum Verhängnis, als das Parlament ihn ins Exil verbannte. Man berief das Königspaar William und Mary von Oranien, und begrenzte die Befugnisse der Monarchie durch ein konstitutionelles Dokument, die Bill of Rights von 1689. In diesem Dekret findet sich, was später formales Vorbild für die US Declaration of Independence werden sollte: eine Auflistung von Verstößen James' II. gegen die «englischen Grundrechte», sowie eine erweiterte Auflistung fundamentaler Bürgerrechte. Für das Steuerrecht wurde festgesetzt:
a) «That levying money for or to the use of the Crown by pretence of prerogative, without grant of Parliament, for longer time, or in other manner than the same is or shall be granted, is illegal;»3
b) «[...] your subjects have inherited this freedom, that they should not be compelled to contribute to any tax, tallage aid, or other like charge not set by common consent, in parliament.»4
1.2.
Steuern und die Revolution ^
Das koloniale Selbstverständnis wandelte sich, man sah sich in steigendem Maße als britische Untertanen im Ausland, und fühlte sich mit allen Bürgerrechten ausgestattet. Die Regierung in London betrieb vergleichsweise geringe imperiale Politik, was den aufkeimenden Patriotismus in den Kolonien weiter förderte.5 Die Loyalität zu England sollte mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges in Nordamerika 1763 kulminieren.6 Kolonisten hatten zusammen mit englischen Truppen auf heimischem Boden die französische Armee und die ihr verbündeten nordamerikanischen Indianerstämme geschlagen7.
Mit dem Revenue (bzw. Sugar) Act von 1764 des englischen Premierministers George Grenville wurden Steuern auf wichtige Handelsgüter wie Zucker, Kaffee, Tee und Holz durch das Parlament in Westminster erstmals direkt auf die amerikanischen Siedler gelegt. 1765 folgte der Stamp Act, der alle offiziellen Dokumente, Zeitungsveröffentlichungen und Papiergüter mit einer Steuer belegte.8 Begleitet wurden die Regelungen vom Currency Act, der besagte, dass die steuerlichen Abgaben nur in specie, welche zur Zeit in den Kolonien knapp war, bezahlt werden durften.
«[That] [I]t is inseparably essential to the freedom of a people, and the undoubted right of Englishmen, that no taxes be imposed on them, but with their own consent, given personally, or by their representatives. [That] [T]he people of these colonies are not, and from their local circumstances cannot be, represented in the House of Commons in Great-Britain. [That] [T]he only representatives of the people of these colonies, are persons chosen therein by themselves, and [that] no taxes ever have been, or can be constitutionally imposed on them, but by their respective legislatures.»9
Quer durch den Kontinent kam es zu weiteren Protest- und Boykottaktionen unter dem Slogan No Taxation Without Representation. Nur ein Parlament, welches die Freimänner der Kolonien direkt repräsentiere, könne eine Steuer von Kolonisten erheben. In letzter Instanz verursachten die Warenboykotte der Kolonisten einen erheblichen wirtschaftlichen Druck auf englische Unternehmer.10 Aus Angst vor Gewinneinbußen ersuchten diese im Parlament eine Aufhebung des Gesetzes. Zusammen mit den Petitionen der Kolonisten führte dies dazu, dass die Steuerbeschlüsse zunächst rückgängig gemacht wurden.
«Does it not appear, as clear as the sun in its meridian brightness, that there is a regular, systematic plan formed to fix the right and practice of taxation upon us? Does not the uniform conduct of Parliament for some years past confirm this? Do not all the debates, especially those just brought to us, in the House of Commons on the side of government, expressly declare that America must be taxed in aid of the British funds, and that she has no longer resources within herself? Is there any thing to be expected from petitioning after this?»11
«Sir, when I cannot obey all his laws, I will do the best I can. I will endeavor to obey such of them as have the sanction of his example, and to stick to that rule which, though not consistent with the other, is the most rational. […] Could anything be a subject of more just alarm to America than to see you go out of the plain highroad of finance, and give up your most certain revenues and your clearest interest, merely for the sake of insulting your colonies? No man ever doubted that the commodity of tea could bear an imposition of three-pence. [...] but the payment [...], on the principle it was demanded, would have made him a slave. It is the weight of that preamble, of which you are so fond, and not the weight of the duty, that the Americans are unable and unwilling to bear. It is, then, Sir, upon the principle of this measure, and nothing else, that we are at issue. It is a principle of political expediency.»12
1.2.1.
Zur Philosophie der Gerechtigkeit ^
Nach Michael J. Sandel kann man die gängigen Theorien der Gerechtigkeit in drei Klassen einteilen: Tugendbasierte, Gemeinwohlbasierte und Freiheitsbasierte. Da das jeweilige Fundament der verschiedenen Theorietypen ein unterschiedlicher Wert im Sinne einer Letztbegründung ist, schließt die Entscheidung für einen Theorietypus die anderen beiden notwendigerweise aus.14
An dieser Stelle regt sich der Verdacht, dass eine solche vermeintliche Reinheit der Begriffe ins Leere zielt. Freilich wird eine Theorie der Gerechtigkeit notgedrungen Abstraktion sein, doch legt die Intuition nahe, dass eine adäquate Darstellung der Gerechtigkeit erst dann gelingen kann, wenn Freiheit, Tugend und das Gemeinwohl nicht als sich gegenseitig ausschließende Begründungsgrundlagen aufgefasst werden15, wo doch mit dem Wert der Freiheit bereits Tugenden untrennbar verbunden sind16, und wo doch das Gemeinwohl schwer vorstellbar ist, wo der Einzelne nicht frei ist, sein Leben selbst zu gestalten.
1.3.
Eine Modallogik zur Untersuchung des Steuerrechts ^
Eine Untersuchung von deontischen Sätzen erlaubt die in der folgenden Übersicht dargestellte Modallogik D, welche in wesentlichen Punkten Ausführungen Paul McNamaras17 folgt. Sie erweitert die klassische Aussagenlogik im Stile einer normalen Modallogik um fünf Modalitäten des Sollens, die sich im Rahmen des traditionellen deontischen Schemas auf den Box-Operator (Notwendigkeitssymbol) ▢ reduzieren lassen.
Modalitäten der Logik und das traditionelle deontische Schema | Modallogik D in Hilbert-Kalkül Darstellung |
Sei A eine Aussage des Steuerrechts | |
|
|
Tabelle 1: Übersicht über die Modallogik D
1.4.
Eine modallogische Sicht auf die Parliamentary Taxation ^
Proposition 1 | Proposition 2 |
«Wenn das Parlament nicht seine Zustimmung gegeben hat, können englische Freimänner (darunter Kolonisten) nicht besteuert werden.» | «Ohne die Zustimmung der Vertreter der betroffenen Commons, gegeben im Parlament, darf kein Freimann (Kolonist) besteuert werden.» |
(¬ par-consent ➔ □ ¬ colonist-paytax) par-consent «Parlament stimmt der Stamp Act Steuer zu» □ colonist-paytax «Kolonisten müssen die Steuer per Gesetz zahlen» | (¬ commonsrepresentation-consent ➔ □ ¬ colonist-paytax) ¬ commonsrepresentation-consent □ colonist-paytax |
par-consent ➔ ¬ □ ¬ colonist-paytax ¬ □ ¬ colonist-paytax ≡ ◇ colonist-paytax (Steuer logisch konsistent mit Rechtssystem, kein Widerspruch) | (¬ commonsrepresentation-consent ➔ □ ¬ colonist-paytax) □ ¬ colonist-paytax (offener Widerspruch, wird durch Aufhebung von □ colonist-paytax oder von ¬ commonsrepresentation-consent behoben) |
Tabelle 2: Modallogische Analyse der Auslegungen von Virtual und Colonial Representation
1.5.
Regelablösung und die Computable Legal Theory ^
Mit der Unabhängigkeit bekannten sich die USA politisch zur Auslegung nach Proposition 2. Die Umsetzung der Forderung eines gesellschaftlichen Konsens aber bereitet seit der Anfangszeit der amerikanischen Republik schwere Probleme19 und bis heute kann der Slogan No Taxation without Representation als aktuell für die Steuergerechtigkeit gelten. Gegenwärtig scheint in den Vereinigten Staaten die Diskrepanz zwischen politischer Repräsentation und Besteuerung zu wachsen: die Mehrheit der US-Bevölkerung ist unzufrieden mit dem amerikanischen Steuercode, welcher als kompliziert, veraltet, global nicht wettbewerbsfähig und unfair gilt20, und im Juli des Jahres 2013 lag die allgemeine Zustimmung der Bevölkerung für den US-Kongress auf einem historischen Tief von etwa 12%21.
Dem Bestreben nach mehr Transparenz im Steuerrecht stellt sich in den Vereinigten Staaten als Problem unter anderem die hohe Komplexität, welche mit einem nationalen Normgefüge wie dem gegenwärtigen Steuercode einhergeht. Man sieht sich beim Versuch der Regelablösung vor zwei Optionen gestellt: entweder man schafft ein Gesetzsystem in Teilen oder in Gänze neu, oder man betreibt, wie es aktuell geschehen soll, eine Reform bestehender Gesetze.22 Das bedeutet im Fall des US-Steuerrechts auf Bundesebene eine Revision von rund 10.000 Gesetzesparagraphen23.
Samuel Pędziwiatr
TU München, Munich Center for Technology in Society, Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie
Arcisstraße 21, 80333 München, DE
samuel.pedziwiatr@tum.de; http://philosophyofdata.org/modal-logic-and-stamp-act-samuel-pedziwiatr/
Rainhard Bengez
TU München, Munich Center for Society in Technology
Arcisstr. 21, 80333 München, DE
bengez@tum.de; http://www.quantius.org
- 1 Vgl. The Charters of Freedom, Declaration of Independence, http://www.archives.gov/exhibits/charters/declaration.html, aufgerufen 21. September 2013.
- 2 Declaration of Independence of the United States of America, July 4, 1776, http://avalon.law.yale.edu/18th_century/declare.asp, aufgerufen 21. September 2013.
- 3 English Bill of Rights 1689. An Act Declaring the Rights and Liberties of the Subject and Settling the Succession of the Crown, http://avalon.law.yale.edu/17th_century/england.asp, aufgerufen 11. August 2013.
- 4 The Petition of Right (1627). http://www.legislation.gov.uk/aep/Cha1/3/1/section/wrapper1, aufgerufen 26. September 2013.
- 5 Vgl. The Peace of Utrecht to the Seven Years War, http://www.taxhistory.org/www/website.nsf/Web/THM1713?OpenDocument, aufgerufen 22. August 2013.
- 6 Vgl. Freeman, Joanne, The American Revolution. Vorlesungen der Yale Open Courses Reihe. Outraged Colonials: The Stamp Act Crisis, http://oyc.yale.edu/history/hist-116/lecture-5, aufgerufen 21. August 2013.
- 7 George Washington (1732–1799) etwa zeichnete sich in diesem Konflikt zum ersten Mal als Kriegsführer aus, noch unter dem Befehl der britischen Krone.
- 8 Vgl. Parliament of Great Britain, The Stamp Act. http://avalon.law.yale.edu/18th_century/stamp_act_1765.asp, aufgerufen 22. August 2013.
- 9 Resolutions of the Continental Congress October 19, 1765. http://avalon.law.yale.edu/18th_century/resolu65.asp, aufgerufen 30. September 2013.
- 10 Die Stärke der Proteste rührt zu einem hohen Grad von der fallrechtlichen Natur des Rechts in angelsächsischen Kulturraum.Zur Bedeutung von Präzedenzfällen wie diesem in den Augen der Kolonisten vgl. Paine, Thomas, Common Sense, Rights of Man and Other Political Writings, Oxford University Press, Oxford, S. 94 (2008): «A law not repealed continues in force, not because it cannot be repealed, but because it is not repealed; and the non-repealing passes for consent».
- 11 Brief von George Washington an Bryan Fairfax. Zitiert nach: Bell, J.L., George Washington and the «Murder Act», http://boston1775.blogspot.de/2013/08/george-washington-and-murder-act.html, aufgerufen 30. August 2013 (2013). Der letzte Satz des Ausschnitts bringt bereits den keimenden Gedanken an Revolution zum Ausdruck.
- 12 Burke, Edmund, On American Taxes, Rede am 19. April 1774 vor dem britischen Parlament, http://www.gutenberg.org/files/15198/15198-h/15198-h.htm#AMERICAN_TAXATION, aufgerufen 30. August 2013.
- 13 Weitestgehender Konsens aller war, dass das Parlament die besteuerten Untertanen repräsentieren müsse.
- 14 Vgl. Sandel, Michael J., Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun, Ullstein Verlag, Berlin, S. 30 ff. (2013).
- 15 Vgl. De Sousa Mendes, Paolo, Für den ethischen Partikularismus und den liberalen Pluralismus, insbesondere im Strafrecht, Vortrag am 23. August 2013 auf dem Symposium Recht und Logik 2013 an der Technischen Universität München.
- 16 Vgl. den Brief Benjamin Franklins anAbbés Chalut und Arnaud vom 17. April 1787. In: Franklin, Benjamin, Franklin, William Temple, Duane, William, Memoirs of Benjamin Franklin. Bd.1. Philadelphia, S. 604 (1834): «Let me add, that only a virtuous people are capable of freedom. As nations become corrupt and vicious, they have more need of masters».
- 17 McNamara, Paul, «Deontic Logic», In: Zalta, Edward N. (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2010 Edition), http://plato.stanford.edu/archives/fall2010/entries/logic-deontic/, aufgerufen 25. September 2013.
-
18
Die Schlussregel R2, die erlaubt von einer einfachen Aussage auf einen Obligations-Satz zu schließen, birgt starke Implikationen, die nicht unproblematisch sind. Insbesondere wären innerhalb dieser Logik «naturalistische Fehlschlüsse» gültig. Der Anwendungsbereich dieser Logik muss daher klar eingegrenzt werden. Für den Kontext dieser Arbeit scheint R2 geeignet, da ausschließlich Gesetze betrachtet werden, in denen in Aussageform formulierte Sätze stets selbst eine Norm implizieren. Im allgemeinen Steuerrecht vorkommende je-/desto- Satzstrukturen könnten in dieser Logik nur durch Fallunterscheidungen und komplexere Aussagen angegangen werden. Dies würde für andere Fragestellungen eine Erweiterung bzw. Abänderung der Logik nötig machen.
Akteure werden im Folgenden in atomare Aussagen inkorporiert, aber zur besseren Übersichtlichkeit mit einem Bindestrich hervorgehoben. Bsp.: «Ein Englischer Freimann darf Handel betreiben» kann man formalisieren als: ◇ efm-business (Lesbar auch als: «Es ist erlaubt, dass der Fall ist, dass ein Englischer Freimann Handel betreibt.») - 19 In Massachusetts kam es von 1786 bis 1787 als Reaktion auf zu hohe Steuern durch die neue Regierung zu Bauernaufständen. 1791 führte die Einführung der sogenannten «Whiskey-Steuer» zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Bauern in Pennsylvania.
- 20 Vgl. U.S. Chamber of Commerce, Tax Reform., www.uschamber.com/issues/econtax/tax-reform, aufgerufen 4 Januar 2014.
- 21 Vgl. Jackson, David, Obama and Congress face falling ratings, http://www.usatoday.com/story/theoval/2013/07/24/obama-congress-nbc-wall-street-journal-poll/2581993/, aufgerufen 21. September 2013 (24. Juli 2013).
- 22 Dabei ist der Senat in die Kritik geraten, weil seine Gesetzesvorschläge unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit 50-jähriger Geheimhaltung stattgefunden haben. Vgl. Greeley, Brendan, Congress Will Keep Senators’ Tax Reform Wishes Secret – For 50 Years., http://www.businessweek.com/printer/articles/137796-congress-will-keep-senators-tax-reform-wishes-secret-for-50-years, aufgerufen 21. September 2013 (25. Juli 2013).
- 23 Legt man dieser Näherung Title 26 of the United States Code (Internal Revenue Code) zu Grunde.